Amnesty International (AI)
1. Entstehung, Entwicklung und Wirkung von Amnesty International
A.I. ist eine NGO mit über sieben Mio. Unterstützern, Förderern und Mitgliedern weltweit. Neben einigen Hundert hauptamtlichen Mitarbeitern im Internationalen Sekretariat, den Länder- und Regionalbüros, arbeitet die Organisation überwiegend ehrenamtlich. A.I. hat Beobachter- und Beraterstatus in den meisten internationalen Organisationen, wie etwa der UNO, der EU oder der AU und agiert durch Kampagnen, Aktionen und kritische Dialoge (Dialog) mit staatlichen Behörden und Repräsentanten u. a. für die Freilassung von aus politischen, rassistischen, religiösen oder ethnischen Motiven Inhaftierten. Die Organisation setzt sich zudem für die Abschaffung von Folter und Todesstrafe, für die spezifischen Rechte von Frauen (Frauenrechte), für soziale und wirtschaftliche Rechte sowie für die Freiheitsrechte im Internet ein. Ihre Arbeit bildet das volle Spektrum der seit 1948 entstandenen und weiterentwickelten internationalen Menschenrechtserklärungen und -verträge ab. Entsprechend ihrer knappen Ressourcen setzt A.I. Prioritäten. Aktionen folgen daher häufig Schwerpunktthemen und tagespolitischen Aktualitäten von Menschenrechtsverletzungen. Menschenrechtsbildung gewinnt als weiterer Schwerpunkt zunehmend an Bedeutung, da sie solchen Verletzungen entgegenwirkt.
Seit der Gründung im Mai 1961 ist A.I. stetig gewachsen, nicht nur an Mitgliedern und Förderern, sondern auch an Themen. Die Arbeit der Organisation, mit Hauptsitz in London und weltweiten Sektionen und Regionalbüros auf allen Kontinenten, folgt einer von Delegierten festgelegten Vision und Mission sowie einem alle zwei Jahre festgelegten strategischen Plan, der die Ziele und Prioritäten kurz- und langfristig vorgibt. A.I. finanziert sich ausschließlich aus Spendengeldern, mit wenigen Ausnahmen beim Thema Menschenrechtsbildung. Bei letzterem arbeitet die Organisation mit den staatlichen Bildungssektoren zusammen, um möglichst viele Menschen in der Schule zu erreichen.
Vor dem Hintergrund steigender Mitgliederzahlen in den überwiegend demokratisch geführten Ländern und der Erweiterung der Aufgabenfelder fiel die Arbeit von A.I. insb. bei UN-Einrichtungen und im Rahmen internationaler Staatenkonferenzen, wie etwa der KSZE (OSZE/KSZE), immer stärker ins Gewicht. Für die Arbeit von A.I. waren die völkerrechtlichen Verträge und Menschenrechtspakte der UNO von 1966 und die in den kommenden Jahrzehnten verabschiedeten völkerrechtlichen Verträge, die Menschenrechte beinhalteten, die zentrale Grundlage ihrer Arbeit. Internationale Organisationen, die sich den Menschenrechten generell verschreiben, sind damit die natürlichen Verbündeten der Organisation, über alle politischen und kriegerischen Entwicklungen bis in die Gegenwart hinein.
2. Struktur von Amnesty International
An der Spitze von A.I. steht bis heute das Internationale Exekutivkomitee. Es wird auf dem Internationalen Rat von Delegierten der Länder gewählt. Nur auf der Ratstagung können die Delegierten aus allen Ländern in denen es A.I.-Sektionen gibt, über Statuten, Finanzen, strategische Pläne und Prioritäten abstimmen. Der Generalsekretär leitet die Geschäfte von A.I. zwischen den Jahrestagungen und hat seinen Sitz im Internationalen Sekretariat in London.
Ihre Unparteilichkeit und Neutralität leitet die NGO aus der AEMR ab. A.I. versteht unter Unparteilichkeit, dass sie in Ländern, in denen Menschenrechtsverletzungen geschehen, diese unabhängig vom politischen System anprangert. Dabei gibt A.I. keine Stellungnahme zum jeweiligen politischen System ab.
3. Menschenrechtsarbeit seit 1990
Nach dem Ende des Kalten Krieges ab 1990 änderte sich die Arbeit von A.I. schlagartig. Der Kampf um die Interpretationshoheit über die Menschenrechte zwischen Ost und West war vorbei, und A.I. konnte sich von nun an stärker dem gesamten Spektrum der Menschenrechtsagenda nähern. Es dauerte noch gut ein Jahrzehnt, bis A.I. sein einstiges Mandat, das auf die oben beschriebenen Freiheitsrechte beschränkt war, änderte und sich auch den sozialen und wirtschaftlichen Rechten, den Frauen- und Kinderrechten (Frauenrechte, Kinderrechte), den Rechten von Flüchtlingen und Asylsuchenden (Flucht und Vertreibung, Asyl), den Menschenrechtsverletzungen in bewaffneten Konflikten, der Aufklärung von Verschwundenen oder der Menschenrechtsbildung zuwenden konnte.
Die Vision und Mission und die strategischen Ziele der Organisation umfassen heute Forderungen an alle Regierungen und Organisationen, Firmen oder Individuen, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Sie richten sich an staatliche und nicht-staatliche Verantwortliche, um häusliche Gewalt, systematische Vergewaltigung oder Vertreibung aufzuklären oder die Freilassung politisch Inhaftierter zu fordern und Folter zu beenden. Die bedingungslose Abschaffung der Todesstrafe richtet sich dabei ebenso gegen die USA und Japan wie gegen den Iran und Saudi Arabien. A.I. möchte damit ihre Unparteilichkeit und staatliche Unabhängigkeit ausdrücken. Organisiert und koordiniert werden die Kampagnen und Aktionen vom Internationalen Sekretariat in Zusammenarbeit mit den Länder- und Regionalbüros weltweit. Strategische Koalitionen, Netzwerke und Kooperation mit anderen nicht-staatlichen Akteuren spielen dabei eine immer wichtigere Rolle. Durchgeführt werden die unterschiedlichen Aktionen von den Millionen ehrenamtlichen Mitgliedern – per Brief, Twitter, Demonstrationen vor Botschaften oder durch Dialoge mit Vertretern von Regierungen oder Firmen.
Diese Arbeitsweise hat die Organisation über die Jahrzehnte glaubwürdig gemacht, da ihr – von wenigen Ausnahmen und Skandalen im Internationalen Sekretariat und einzelnen Sektionen abgesehen – nicht unterstellt werden kann, bestimmte politische oder wirtschaftliche Ziele zu verfolgen, außer der Einhaltung der Menschenrechte.
Ihre Wirkung basiert dementsprechend auf ihrer Unparteilichkeit und ehrenamtlichen Tätigkeit, um die A.I. immer wieder kämpfen muss. Anders als in den 1960er und 1970er Jahren, als die NGO noch erklärter Feind und Gegner vieler Regierungen weltweit war, wird sie heute zunehmend von staatlichen Stellen „umarmt“ und gefeiert. Ob bei der Asylberatung oder Menschenrechtsbildung, in vielen Ländern ist A.I. inzwischen gern gesehener Partner von staatlichen Stellen. Staaten geben dadurch zunehmend ihre Verantwortung für Menschenrechte an die NGO ab und überlassen Organisationen wie A.I. Beratungs- und Bildungsarbeit – was die Organisation aber gleichzeitig in ein Dilemma um ihre Unabhängigkeit bringt. A.I. muss, wie viele andere NGOs auch, ihre Unabhängigkeit behutsam aufrechterhalten, sofern ihre Appelle, Aktionen und Kampagnen gehört werden sollen.
Literatur
S. Hopegood: Keepers of the Flame, 2006 • A. Mihr: Amnesty International in der DDR. Menschenrechte im Visier der Stasi, 2002 • A. M. Clark: Diplomacy of Conscience: Amnesty International and Changing Human Rights Norms, 2001.
Empfohlene Zitierweise
A. Mihr: Amnesty International (AI), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Amnesty_International_(AI) (abgerufen: 21.11.2024)