Christlichdemokratische Volkspartei der Schweiz (CVP)
Die Anfänge der Christdemokratischen Volkspartei (CVP) der Schweiz reichen in die Gründungszeit der modernen Schweiz von 1830–1848 zurück und wurzeln in den Traditionen des demokratischen politischen Katholizismus (Christliche Parteien). Im Bundesparlament saßen Politiker dieser politischen Richtung seit der Gründung des Bundesstaates 1848, allerdings gaben sie ihrer Fraktionsgruppe unter dem Namen „katholisch-konservativ“ erst 1882/83 ein Organisationsstatut und ein Programm. Der lose organisierte Wahl- und Referendumsverein aus der Fraktion der Bundesversammlung, aus Kantonalparteien und Vereinen errichtete auf nationaler Ebene 1894 bzw. 1912 die „Schweizerische Konservative Volkspartei“ mit Präsidium und jährlichen Parteitagen (ab 1957 unter dem Namen „Konservativ-christlichsoziale Volkspartei“, seit 1970 in Anpassung an die westeuropäischen Schwesterparteien als „Christlichdemokratische Volkspartei“). Ursprünglich war die CVP eine oppositionelle Minderheit im Bundesparlament, in dem radikale und liberale Parteigruppierungen die absolute Mehrheit besaßen. 1891 trat sie mit einem Mitglied in die siebenköpfige Landesregierung (Bundesrat) ein, an der sie ohne zeitliche Unterbrechung bis heute beteiligt ist.
Ihr programmatisches, organisatorisches und soziales Profil erhielt die CVP in den langen Kulturkämpfen von 1830 bis 1885, die 1847 zu einem kurzen Bürgerkrieg zwischen dem sog. „Sonderbund“ der sieben katholisch-konservativ regierten Kantone Luzern, Freiburg, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug und Wallis auf der einen und den radikal-liberal regierten, mehrheitlich protestantischen Kantonen auf der anderen Seite führten. Der eindeutige militärische und politische Sieg der Radikal-Liberalen legte den Weg zur Gründung der modernen Schweiz als Bundesstaat frei. Als „Sonderbündler“ und „Vaterlandsfeinde“ stigmatisiert, als „Römlinge“ und „Ultramontane“ verachtet und wegen ihres Beharrens auf dem föderalistischen Staatsaufbau als „Kantonesen“ verspottet, wurden die Katholisch-Konservativen in den ersten Jahrzehnten des neuen Nationalstaates von der Bundesregierung und den Bundesbehörden ausgeschlossen. In der Folge zogen sie sich in ihre Stammkantone zurück, in denen sie bis 1871 die politische Herrschaft über den Weg der Wahlen zurückeroberten. Mit dem 1874 auf Bundesebene eingeführten Referendum leisteten sie in Volksabstimmungen punktuell erfolgreichen Widerstand gegen die weitere Zentralisierung und Säkularisierung des Bundesstaates. Das Referendum gab der katholisch-konservativen Opposition, die im Bundesparlament von 1848 bis 1874 eine unbedeutende Minderheit dargestellt hatte, ein wirksames Mittel in die Hand, um von Fall zu Fall die Gesetzgebungsmaschinerie der Bundesregierung zu bremsen und zu blockieren. Da die Modernisierung des jungen Nationalstaates dadurch ins Stocken geriet, nahm die Parlamentsmehrheit aus Radikalen (Freisinnigen) und aus Vertretern der liberalen Mitte 1891 erstmals ein Mitglied der katholisch-konservativen Fraktion in den Bundesrat auf. Um die Jahrhundertwende von 1900 rückten die beiden Protagonisten aus der Zeit des Kulturkampfes wegen der anwachsenden sozialistischen Arbeiterbewegung näher zusammen und bildeten nach den sozialen und politischen Unruhen des Ersten Weltkriegs einen „Bürgerblock“. Das 1919 eingeführte Proporz-Wahlsystem (Wahlen) hatte zur Folge, dass die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) ihre bisherige parlamentarische Mehrheit verlor. Die Christdemokraten erhielten einen zweiten Regierungssitz und stiegen zum Juniorpartner auf. In der 1929 regruppierten Bürgerblock-Regierung bildeten die Christdemokraten mit der Bauernpartei den rechten Flügel. Während des Zweiten Weltkrieges trat 1943 der erste Sozialdemokrat (SPS) in die Notstandsregierung ein. Damit wurde der Grundstein für die heute noch bestehende Proporz-Regierung gelegt. Von 1959 bis 2003 setzte sich diese aus zwei FDP, zwei CVP, zwei SPS und einer Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, heute SVP) zusammen.
Von 1919 bis zum Ende des Kalten Krieges zeichnete sich die nationale Parteienlandschaft durch eine ausgesprochene Stabilität aus, an der auch die Krisen der 1930er Jahre und die Epoche des Zweiten Weltkrieges wenig veränderten. Die Sozialdemokraten, die Freisinnigen und die Christdemokraten erreichten regelmäßig zwischen 20 % und 25 %, die BGB gut 10 %. Für die Christdemokraten sieht die Wählerstärke wie folgt aus: Bei den Nationalratswahlen von 1919 erzielte die CVP 21,0 %, 1928 21,4 %, 1935 20,3 %, 1947 21,2 %, 1959 23,3 %, 1967 22,1 %, 1979 21,5 % und 1983 20,6 % der Wähler. Mit der vollständigen Integration der Katholiken in Politik und Gesellschaft nach 1945 verlor der konfessionspolitische Faktor (Konfessionalisierung) für die Katholikenpartei seine Mobilisierungskraft, obwohl das katholische Milieu eine Zeitlang weiterhin Bestand hatte. Im Nachgang zum Zweiten Vatikanischen Konzil versuchte die Partei 1970 mit dem neuen Namen „christlichdemokratisch“ eine interkonfessionelle Öffnung zu erzielen und in der protestantisch geprägten Schweiz Fuß zu fassen, was nur mit geringem Erfolg gelang, da der CVP das Image einer Katholikenpartei anhaften blieb. Das hängt damit zusammen, dass die Schweiz von Faschismus und Weltkriegen verschont blieb und sich alte konfessionell-kulturelle Mentalitätsstrukturen im mehrkonfessionellen Land trotz der fortschreitenden gesellschaftlichen Säkularisierung erhalten konnten. Als die Migrations- und die Europafrage seit den 1970er Jahren die Politik zu bestimmen begannen, liefen Stammwähler zur neugebildeten nationalkonservativen und teilweise rechtspopulistischen SVP über. Seither kämpft die Partei gegen die fortschreitende Erosion ihrer Wählerschaft. Fusionsversuche mit ähnlich ausgerichteten Klein- und Splitterparteien protestantischer Tradition scheiterten an konfessionellen Vorbehalten auf evangelischer Seite.
Bei den Nationalratswahlen 1999 erreichte die CVP 15,9 %, 2015 noch 11,6 %. In der Folge verloren die Christdemokraten 2003 ihren zweiten Regierungssitz an die nationalkonservative SVP, die in den 1990er Jahren zur größten schweizerischen Partei aufstieg.
Parteisoziologisch liegen die Schwerpunkte der CVP in den ländlich-kleinstädtischen und gewerblich geprägten Gebieten der früheren katholischen Regionen des Landes. Ihre traditionelle Verankerung in den ehemaligen „Sonderbunds“-Kantonen Luzern, Freiburg, Wallis, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden und Zug und in den ehemaligen Kulturkampfkantonen Solothurn, Jura, Genf und Tessin verleiht der CVP in der zweiten Parlamentskammer (Ständerat mit je zwei Vertretern pro Kanton) eine starke Stellung, was ihr in der Bundespolitik ein Gewicht gibt, das über ihre Wählerstärke bei den Nationalratswahlen hinausreicht. Sollte der Erosionsprozess anhalten, droht die Partei allerdings wieder auf den Status einer Regionalpartei wie im 19. Jh. zurückzufallen.
Im nationalen Parteiensystem (Parteisysteme) nimmt die CVP eine Mitte-Position zwischen der SVP und FDP auf der rechten und der Sozialdemokratie und den Grünen auf der linken Seite ein. In Wirtschafts- und Finanzfragen verbündet sie sich häufig mit rechten Parteien, in der Sozialpolitik vertritt sie einen gemäßigten Mitte-Links-Kurs. Wegen dieser Mitte-Position gilt sie als Scharnier und häufig als Mehrheitsbeschafferin in Parlament und Regierung.
Literatur
O. Meuwly/O. Mazzoleni: Die Parteien in Bewegung. Nachbarschaft und Konflikte, 2013 • U. Altermatt: Das historische Dilemma der CVP. Zwischen katholischem Milieu und bürgerlicher Mittepartei, 2012 • T. Frey: Die Christdemokratie in Westeuropa, 2009 • U. Altermatt: Konfession, Nation und Rom, 2009 • L. Zurbriggen: CVP und die soziale Mitte, 2004 • U. Altermatt: Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto, 31995.
Empfohlene Zitierweise
U. Altermatt: Christlichdemokratische Volkspartei der Schweiz (CVP), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Christlichdemokratische_Volkspartei_der_Schweiz_(CVP) (abgerufen: 21.11.2024)