Corpus Iuris Canonici
1. Begriff
Corpus Iuris Canonici (CICan) bezeichnet eine Sammlung alter und mittelalterlicher kirchlicher Rechtsquellen, 1582 amtlich publiziert, die verbindliches Recht der römisch-katholischen Kirche (Katholische Kirche) bis zum Inkrafttreten des Codex Iuris Canonici (CIC) im Jahr 1917 war. Seine rechtliche Wirkung reicht bis heute. Das CICan ist die bedeutendste Quellensammlung zum kanonischen Recht. Sie hat rechtshistorische Bedeutung für das katholische und das evangelische Kirchenrecht. Trotz aller Zentralisierungsbemühungen seit den Anfängen des katholischen Kirchenrechts lag die Gesetzgebung jener Zeit überwiegend im Teil- und Ortskirchenrecht, das im Wege der Normenkommunikation universalkirchliche Rezeption erlangte. Das CICan gliedert sich nach seinem Entstehen wie folgt: Decretum Gratiani (ca. 1144), Liber Extra Decretum (1234), Liber Sextus Bonifatii VIII. (1298), Clementinae (1314), Extravagantes Joannis XXII. (1317/1325), Extravagantes Communes (um 1500). Das CICan wurde nie zum förmlichen Gesetzeswerk der katholischen Kirche erhoben. Die dort gesammelten Rechtsnormen sind unterschiedlicher Provenienz und genossen je für sich Rechtskraft bis zur Ablösung durch den CIC/1917 und den CIC/1983 sowie für die unierten orientalischen Kirchen z. T. den CCEO/1990.
2. Entstehen
Bis ins 12. Jh. herrschten Sammlungen kirchenrechtlicher Materien vor (Kirchenrecht), die von höchst unterschiedlicher rechtlicher Qualität und Authentizität waren. Es wurden auch viele kirchenrechtliche Fälschungen als authentische Normen rezipiert. Die kirchlichen Autoritäten vermochten es nicht, die überaus reiche, produktive und heterogene mittelalterliche Kanonistik bis Gratian und deren divergierende Rechtsmaterien und Sammlungen zu harmonisieren. Zugleich entstand das Verlangen nach innerer (widerspruchsfreier) und äußerer (in einer einzigen Sammlung gefundener) Einheit des Rechts. Ein von der Forschung bis heute nicht näher zu identifizierender Magister Gratian schuf in Bologna im 12. Jh. unter Anwendung der scholastischen Methode (These – Antithese – Synthese, Scholastik) eine systematische Versöhnung der Normen in einer einheitlichen, allgemeinen Rechtssammlung, welche nicht durch ihn, sondern v. a. durch seine Schüler und Nachfolger die Namen Concordia discordantium canonum, Nova Collectio, Decreta oder Decretum erhielt. Die Datierung auf das Jahr 1140 erscheint heute, mit dem Blick auf die von Gratian verwendeten Quellen, wissenschaftlich unsicher. Gratian kennt das Format der Normensammlung und baut auf vorhergehende Sammlungen auf. Es ist allerdings unsicher, welche Quellenlage er tatsächlich vorgefunden hat, ggf. auch die pseudoisidorischen Fälschungen. Keine Sammlung erreichte je einen ähnlichen Erfolg wie das Decretum. Diese allgemeine, umfassende, systematische Sammlung der kirchlichen Rechtsnormen samt der Auflösung ihrer Widersprüche machte die vorhergehenden Sammlungen überflüssig. Bildete das geschriebene Recht in der Mitte des 12. Jh. nur einen relativ geringen Teil des Kirchenrechts, so gewann es von nun an wachsende Bedeutung und drängte das bis dahin vorherrschende Gewohnheitsrecht zurück. Beginnend mit Gratians Dekret, drang zudem inhaltlich das römische (justinianische) Recht immer stärker in das kanonische Recht ein. Gratian knüpft hier systematisch an den Polycarpus des Gregor von San Grisogono an und setzt diesen Gedanken fort. Er führt aufgrund der gelungenen Systematik die Kanonistik zu einer neuen Blüte und fördert deren Verselbständigung als eigene wissenschaftliche Disziplin.
3. Bestandteile
a) Decretum Gratiani (zit.: D.)
Die Sammlung besteht aus drei Teilen: Decreti Pars Prima: 101 Distinktionen; Decreti Pars Secunda: 36 Causae mit Quaestiones und dem Traktat „de paenitentia“; Decreti Pars Tertia de Consecratione: fünf Distinktionen, Regeln zu Verwandtschaft und Schwägerschaft. Gratian behandelt das Naturrecht, kirchliches Standes- und Personenrecht, Prozessrecht, Vermögensrecht, Ordensrecht, Eherecht (Kirchliches Eherecht) sowie das Sakramentenrecht. Decretum Gratiani war zugleich Rechtssammlung und Lehrbuch und fand darüber hinaus Verbreitung bei den kirchlichen Rechtsanwendern. Förmliche Rechtskraft erlangte diese nie, obschon die dort gesammelten Konzilscanones, Papstbriefe, Kirchenväterstellen und anderen Stücke, je nach ihrer Natur, rechtliche oder moralische Bindungswirkung beanspruchten.
b) Liber Extra Decretum (zit.: X)
Raimund von Peñaforte führte die Sammlung der Rechtsmaterie durch die Sammlung der Dekretalen Alexanders III. und Innozenz III. sowie der Dekrete der Laterankonzilien und der Dekretalen Gregors IX. weiter. Raimund griff auf die bereits vorliegenden Quinquae Compilationes Antiquae zurück, ordnete deren Material neu, entfernte Dubletten und löste Widersprüche zwischen den Texten durch Interpolationen oder Korrekturen auf. Diese Sammlung ist systematisch in fünf Bücher mit weiteren chronologischen Titelunterteilungen gegliedert und umfasst die Rechtsbereiche: kirchliche Jurisdiktionsträger, Prozessrecht, Klerikerrecht, Eherecht und Strafrecht (Merkvers: iudex, iudicium, clerus, connubia, crimen). Im Unterschied zu den vorherigen Sammlungen verlieh Gregor IX. dem Liber Extra 1 230 Rechtskraft. Es löste alle vorherigen Rechtssammlungen ab. Entgegenstehende allgemeine Gesetze und entgegenstehendes Partikularrecht waren aufgehoben. Die im Decretum Gratiani enthaltenen Normen waren nicht aufgehoben, soweit sie nicht den Normen im Liber Extra entgegenstanden. Sachlich handelte es sich nicht mehr um eine Sammlung von Rechtsvorschriften unterschiedlicher Verbindlichkeit, sondern erstmals um ein einheitliches kirchliches Recht, in dem die dort enthaltenen Vorschriften die gleiche Verbindlichkeit für sich beanspruchten.
c) Liber Sextus Bonifatii VIII. (zit.: in VIo)
Das Buch fasst die seit der Promulgation des Liber Extra aufgekommenen Gesetze zusammen. Sie waren bisher in die bestehenden Sammlungen eingegliedert oder diesen als Novellen angefügt worden. Das schuf rechtliche Unklarheiten, weshalb eine Überarbeitung und Straffung der Materie erforderlich erschien. Liber Sextus Bonifatii VIII. folgt der bisherigen Gliederungsstruktur und wurde 1298 promulgiert. Die Sammlung enthält 108 päpstliche Dekratalen (1227–1289), die Kanones der Konzilien von Lyon (1254, 1274) und 251 Gesetze Bonifaz VIII. Im Anhang befinden sich die bis heute für die Rechtsauslegung bedeutsamen 88 Regulae Iuris, die Bonifaz VIII. in Anlehnung an die römischen Rechtsregeln erstellt hat. Liber Sextus Bonifatii VIII. wurde offiziell als Gesetzessammlung promulgiert. Alle Rechtsnormen erhielten unbeschadet ihres früheren Status dieselbe Rechtskraft.
d) Clementinae constitutiones (zit.: Clem.)
Diese 1317 von Johannes XXII. nach einer Revision der von Clemens V. promulgierten Dekrete veröffentlichte Rechtssammlung folgt der bisherigen Sammlungstradition. Hier finden sich v. a. päpstliche Dekretalen des Konzils von Vienne (1311/12), die Clemens ursprünglich als Liber Septimus in Kraft setzen wollte. Sein Nachfolger revidierte die Sammlung jedoch umgehend und veröffentlichte sie als Clemetinae constitutiones. Sie gliedert sich in fünf Bücher und folgt der bisherigen Struktur. Durch die Promulgation erhielt die revidierte Fassung Rechtskraft als authentische Normensammlung für die ganze katholische Kirche.
e) Extravagantes D. Joannis Papae XXII. (zit.: Extrav.Joh.XXIII)
Es handelt sich um eine private Sammlung des französischen Kanonisten Jean Chappuis, die auf einen Anhang zu den Clem. des Kompilators Wilhelm von Montlezun (1317) zurückgeht. 1325 wurde diese Materie von Zenzellinus de Cassanis neu zusammengestellt, mit Glossen versehen und den Clem. angehängt. Dabei blieb es, bis Chappuis um 1500 eine neue Überarbeitung vorlegte und sie seinerseits an seine beiden Ausgaben der Clem. 1500 und 1503 anfügte.
f) Extravagantes communes (zit.: Extrav.comm)
Sie sind ebenfalls als private Sammlung von J. Chappuis zusammengestellt. Sie bestehen aus kirchenrechtlichen Normen des 13. Jh., die von Johannes XXII. veröffentlicht, aber bisher nicht in die offiziellen Gesetzessammlungen aufgenommen worden waren. Die Extrav.comm. enthalten 70 Dekretalen und vier weitere Dokumente. Die Sammlung erscheint lückenhaft. Es ist strittig, ob eine ursprünglich Einteilung in Bücher nach dem Vorbild von Liber Extra Decretum vorlag.
Beide Extravaganten behielten nach der Aufnahme in das CICan (1582) ihren privaten Sammlungscharakter.
Literatur
M. Pulte: Magister Gratian, in: P. Thull (Hg.): 60 Porträts aus dem Kirchenrecht – Leben und Werk bedeutender Kanonisten, 2017, 112–125 • C. Link: Kirchliche Rechtsgeschichte, 2009, 36–41 • P. Erdö: Die Quellen des Kirchenrechts, in: AiC, Bd. 23, 2002, 105–130 • A. Sprengler-Ruppenthal: Corpus Iuris Canonici, in LKStKR, Bd. 1, 22000, 367–370 • G. May: Kirchenrechtsquellen, in: TRE, Bd. 19, 1990, 1–44 • P. Landau: Gratian, in: TRE, Bd. 14, 1985, 124–130 • U. Horst: Die Kanonessammlung Polycarpus des Gregor von S. Grisogono, in: MGH Hilfsmittel Fournier/Le Bras 11, 1980, 169–185 • E. A. Friedberg/A. L. Richter: Corpus Iuris Canonici, 1959. • A. Winroth u. a.: Decretum Gratiani, First recension, URL: https://sites.google.com/a/yale.edu/decretumgratiani/home (abger.: 18.6.2015)
Empfohlene Zitierweise
M. Pulte: Corpus Iuris Canonici, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Corpus_Iuris_Canonici (abgerufen: 21.11.2024)