Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
1. Vorgeschichte und Gründung
Der 1949 gegründete DGB steht in einer langen gewerkschaftlichen Tradition, die bis zur Mitte des 19. Jh. zurückreicht. Zugleich stellt er ein Novum dar, da er mit dem weltanschaulich geprägten Prinzip der Richtungsgewerkschaft gezielt brach, das sowohl im wilhelminischen Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik prägend und somit für eine starke Segmentierung der Gewerkschaftsbewegung verantwortlich war. Denn wie seine Mitgliedsorganisationen ist der DGB dem Grundsatz der überparteilichen Einheitsgewerkschaft verpflichtet, steht also damit Arbeitnehmern jeglicher politischer Ausrichtung offen. Dieser markante Bruch mit der richtungsgewerkschaftlichen Tradition wurde auch durch die Zäsur der nationalsozialistischen Willkürherrschaft (Nationalsozialismus) befördert: Bereits 1933 waren die Gewerkschaften alter Art konsequent zerschlagen worden, was einen grundsätzlichen Neubeginn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unabdingbar machte.
Die Entscheidung für die Schaffung von Einheitsgewerkschaften wird auch auf diesem Hintergrund verständlich: Man versprach sich davon nicht zuletzt eine Reduzierung jener ideologischen Polarisierung, die maßgeblich zum Kollaps der Weimarer Ordnung beigetragen hatte. Einer korporatistischen Logik gemäß fungiert der DGB seit 1949 folglich als weltanschaulich unabhängiger Dachverband seiner Mitgliedsgewerkschaften, der deren Einzelinteressen gebündelt vertritt und als Einheitsorganisation mit dem Staat dialogisch und kompromissorientiert zusammenarbeitet.
2. Organisation und Mitgliedschaft
Als Dachverband umfasst der DGB eine Reihe von rechtlich unabhängigen Einzelgewerkschaften, die gemäß dem Industrieverbandsprinzip mehrheitlich als Einheitsorganisationen bestimmter Branchen fungieren. Sie verfügen über die grundgesetzlich verankerte Tarifhoheit und sind sowohl organisatorisch als auch finanziell vom DGB unabhängig. Dieser kann deshalb nur als koordinierende Spitzenorganisation ohne eigenständige Machtbasis agieren und ist insb. in finanzieller Hinsicht von den Beiträgen seiner Mitgliedsgewerkschaften abhängig.
Bei seiner Gründung im Jahre 1949 umfasste der DGB noch 16 Einzelgewerkschaften; durch wirtschaftliche Wandlungsprozesse und damit einhergehende Fusionen hat sich deren Zahl bis heute auf acht reduziert (IG Bauen-Agrar-Umwelt [IG BAU]; IG Bergbau, Chemie, Energie [IG BCE]; Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft [GEW]; IG Metall; Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten [NGG]; Gewerkschaft der Polizei [GdP]; Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft [EVG]; Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft [ver.di]). Der DGB selbst wiederum ist Mitglied internationaler Gewerkschaftsorganisationen (Internationaler Gewerkschaftsbund, Europäischer Gewerkschaftsbund), was nicht nur den traditionell grenzüberschreitenden Charakter der Arbeiterbewegung spiegelt, sondern auch den fortschreitenden Kompetenztransfer an supranationale Organisationen, dem auch die Gewerkschaftsbewegung durch den Aufbau verbandlicher Mehrebenensysteme Rechnung zu tragen hat.
Mit 37,2 % bzw. 33,4 % stellen die IG Metall und ver.di schon fast 3/4 der Mitglieder und dominieren daher innerhalb des DGB gegenüber den übrigen Organisationen. Im Jahre 2014 summierten sich die Mitgliederzahlen aller DGB-Mitgliedsgewerkschaften gemäß den offiziellen Angaben auf rund 6,1 Mio. Arbeitnehmer, wobei die Männer mit rund 2/3 gegenüber den Frauen dominierten und v. a. in den Industriebranchen überwogen (IG Metall: ca. 82 %); in den Dienstleistungssektoren fand sich jedoch punktuell auch das gegenteilige Bild (GEW: ca. 71 % Frauen).
Es dürfen die imponierenden Gesamtzahlen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den letzten Jahrzehnten merklich geringer geworden ist: Denn im Jahre 1981 umfasste der DGB mit seinen Branchengewerkschaften allein in Westdeutschland noch rund 8 Mio. Mitglieder, 1991 nach der Wiedervereinigung und der Integration ostdeutscher Gewerkschaften (Deutsche Einheit) kurzzeitig sogar fast 12 Mio. Die von der Verbändeforschung seit längerem diagnostizierte Organisationsmüdigkeit der Arbeiter und Angestellten schlägt sich also auch hier nieder und reduziert das politische Gewicht des DGB nicht unwesentlich.
3. Programmatik und Handlungsprofil
Da die durch Art. 9 Abs. 3 grundgesetzlich verankerte 1:Tarifautonomie von den einzelnen Branchengewerkschaften in Anspruch genommen wird, beschränkt sich die Rolle des DGB auf die diesbezügliche Koordination der Mitgliedsorganisationen sowie auf eine Formulierung und politische Vertretung jener gewerkschaftlichen Grundpositionen, die von der gesamten DGB-Mitgliedschaft mitgetragen werden können.
Konkret fassbar wird diese Programmatik in den Grundsatzprogrammen, in besonderen Aktionsprogrammen sowie in den Beschlüssen des Bundeskongresses und von Sonderkongressen, die seit der Gründung des DGB immer wieder verabschiedet wurden und damit auch den Wandel der gesamten Gewerkschaftsbewegung spiegeln. War das Gründungsmanifest von 1949 mit seinen Forderungen nach einer Verstaatlichung von Schlüsselindustrien sowie der Realisierung umfassender Wirtschaftsplanung noch deutlich sozialistisch geprägt, so wurden diese Forderungen im nachfolgenden Grundsatzprogramm von 1963 bereits merklich relativiert. In seiner Neufassung von 1981 werden nun auch die Umweltpolitik und die Friedenspolitik als Ziele verankert; im derzeit gültigen Grundsatzprogramm von 1996 wurde dann die soziale Marktwirtschaft zum zentralen Postulat. Das spiegelt nicht nur Wandlungen der globalen Rahmenbedingungen, sondern auch die – trotz formeller Überparteilichkeit – gegebene SPD-Nähe des DGB. Die Abschwächung sozialistischer Postulate (Sozialismus) 1963 steht bspw. in engem Zusammenhang mit der „Godesberger Wende“ der Sozialdemokraten vom Jahr 1959.
In den Aktionsprogrammen finden sich dann ergänzend spezifische Projekte, die gleichfalls von den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt sind. 1955 forderte der DGB etwa die 40-Stunden-Woche bei nur mehr fünf Arbeitstagen und gleichzeitig vollem Lohnausgleich, und 1965 wurden eine weitere Arbeitszeitreduzierung, ein 13. Monatsgehalt und mehr Mindesturlaub angemahnt. Das sind Forderungen, die das „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegsjahrzehnte reflektieren. Im Jahr 1972 wurden dann die Verbesserung der immer schon geforderten betrieblichen Mitbestimmung sowie die Etablierung einer volkswirtschaftlichen Gesamtplanung propagiert, 1979 dann ein Programm zur Arbeitsplatzschaffung und -sicherung. D. i. ein Spiegel der inzwischen eingetrübten Wirtschaftslage sowie der Reformagenda der sozialliberalen Koalition ab 1969. Die „Wende“ des Jahres 1982 nahm dann der DGB in seinen nachfolgenden Aktionsprogrammen zum Anlass, auch gegenüber der gewerkschaftskritischeren schwarz-gelben Bundesregierung Helmut Kohls die Forderungen nach Vollbeschäftigung (1988) und sozialer Gerechtigkeit in der Arbeitswelt (1997) zu verstärken. Und die arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen der Globalisierung prägen die aktuellsten Dokumente: Auf dem Bundeskongress von 2006 wird die Verteidigung sozialer Gerechtigkeit auch gegenüber schwer kontrollierbaren transnationalen Unternehmen eingefordert; und der „Kapitalismuskongress“ des Jahres 2009 vertiefte dies in seiner Bewertung der jüngsten Weltwirtschaftskrise (Weltwirtschaftskrisen). Solche Akzentverschiebung zur globalen Perspektive wird auch in der neuen DGB-Satzung vom Mai 2014 deutlich.
Mit dieser über die Jahrzehnte hinweg veränderten Programmagenda hat der DGB die Parteien nachhaltig beeinflusst, v. a. die SPD. Doch auch die Parteien selbst veränderten Gewerkschaftspositionen deutlich; hier existiert also ein komplexes gegenseitiges Beziehungsgeflecht. Dazu trugen auch institutionalisierte Dialogforen zwischen dem Staat und organisierten Interessen (Interessengruppen) bei (1967 bis 1977: „Konzertierte Aktion“; 1998 bis 2002: „Bündnis für Arbeit“), in denen der DGB regelmäßig Mitglied war.
Künftig steht der DGB v. a. vor der Herausforderung, dem Mitgliederschwund in enger Kooperation mit den Branchengewerkschaften und durch ein attraktives Leistungsprofil entgegenzuwirken, dgl. durch intensivierte individuelle Betreuungsangebote (Rechtsberatung etc.). Das steht im engen Zusammenhang mit einer Sicherung der Tarifautonomie und der Wahrung von Flächentarifverträgen sowie der innerbetrieblichen Mitbestimmung. Auf diesen Säulen ruht nämlich jene Macht der Einzelgewerkschaften, aus der sich auch der Einfluss des DGB speist.
Literatur
R. Lorenz: Gewerkschaftsdämmerung, 2013 • S. Mielke/P. Rütters: Gewerkschaften, in: U. Andersen/W. Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 2013, 271–281 • A. Hassel: Gewerkschaften, in: T. von Winter/U. Willems (Hg.): Interessenverbände in Deutschland, 2007, 173–196 • M. Sebaldt/A. Straßner: Verbände in der Bundesrepublik Deutschland, 2004 • W. Schroeder/B. Weßels (Hg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, 2003 • K. Schönhoven: Die deutschen Gewerkschaften, 1987 • A. Mintzel: Deutscher Gewerkschaftsbund, in: StL, Bd. 2, 71985, 6–13.
Empfohlene Zitierweise
M. Sebaldt: Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Deutscher_Gewerkschaftsbund_(DGB) (abgerufen: 21.11.2024)