Dienst

1. Das weite semantische Feld

Das Grimmsche Wörterbuch erwähnt unter dem Stichwort D. an erster Stelle „die handlungen und übungen, die gebräuche, womit man die gottheit verehrt, die verrichtungen der priester, cultus“ (Sp. 1115), also den Gottes-D. Heute werden primär andere D.-Verhältnisse assoziiert: öffentlicher D, D.-Vertrag, Medizinischer D. usw. Im Grimm tauchen „arbeiten und leistungen, zu denen man verpflichtet ist“ (Grimm 1860: 1117), nach der Erwähnung unfrei-abhängiger Lohnempfänger, Hausknechte und Diener erst an fünfter Stelle auf: „in einem amt, womit in der regel besoldung verbunden ist. […] er hat einen dienst im ministerium erhalten“ (Grimm 1860: 1118). Davor finden sich Redewendungen wie „was jemand zu gunsten, zum nutzen eines andern aus eigener bewegung thut“; „zu dienste der gerechtigkeit“; „was steht zu Ihren diensten?“ (Grimm 1860: 1117). Von hier ergeben sich Übergänge zur modernen D.-Leistung (professioneller Service). Das vertraglich geregelte, juridisch beidseitig einklagbare moderne D.-Verhältnis steht in Spannung zum traditionellen, v. a. religiös konnotierten Verständnis von „dienen“, das nicht selten unter Missbrauchs- und Ideologieverdacht steht.

2. Organisatorisch-strukturelle Ebene: Sektoren

Die Fülle moderner Wortverbindungen (von D.-Fähigkeit, D.-Herr, D.-Pflicht, D.-Recht bis Zivil-, Sozial-, Nachrichten-, Militär- und Sozial-D.) zeigt die breite Ausdifferenzierung des D.-Begriffs in verschiedene Ebenen:

a) das Arbeitsverhältnis bzw. die bestimmte Pflichten umfassende, regelmäßige, bezahlte Arbeitstätigkeit in einem öffentlichen Amt, Verband oder Betrieb, in privater Anstellung oder Beschäftigung (für etwas Gutes, für die Allgemeinheit wirken),

b) Hilfe, Beistand, eine Gefälligkeit gewähren,

c) eine Organisation oder Gruppe von Personen, die für dieselbe Sache tätig sind. Öffentlicher D wie auch vielfältige kirchliche und soziale D.e bieten für Angestellte und Beamte relativ sichere, teilweise gewerkschaftlich (kirchlich: zwischen „D.-Nehmern“ und „D.-Gebern“) organisierte Arbeitsplätze (samt Altersversorgung). In einer D.-Gemeinschaft (vom BVerfG anerkanntes Leitbild kirchlicher Einrichtungen) sollen alle Bediensteten – bei unterschiedlichen Funktionen – gleichwertig beteiligt am Auftrag der Kirche (Tendenzbetrieb) mitwirken.

Neben dem öffentlichen bzw. staatlichen, halböffentlichen und privaten Sektor erbringen auch Gewerbebetriebe, Industrie, Handel und Handwerk D.-Leistungen, die alte Standestugenden (des „Dieners“) zur kundenorientierten Serviceleistung perfektionieren („Kunde als König“). Gegenwärtig wächst freilich die Skepsis gegenüber einer zur „großen Hoffnung des 20. Jh.“ (Jean Fourastié) erklärten, „tertiären Zivilisation der D.-Leistungsgesellschaft“ (Därmann 2015: 54), die mit Hotlines und Call-Centers die Service-Idee konterkariert – zum Self-Service.

3. Philosophisch-politische Aspekte: Umwertungen

Ältere Bedeutungen des Dienens erhalten sich in Metaphern wie „jemandem einen D. erweisen“ (nützlich sein) bzw. „einen schlechten D. erweisen“ (trotz guter Absichten schaden); „im D. einer Sache stehen“, „im D. der Wahrheit“ handeln; „außer D.“ sein (im Ruhestand); eine Maschine „in/außer D. stellen“ (in Betrieb nehmen/stilllegen) usw. Geschichtlich ist der enorme Bedeutungswandel nur im Blick auf die seit der Antike existente Sklaverei zu verstehen. In der „Genealogie und kulturhistorischen Umwertung der Werte von Dienen und Herrschen“ (Därmann 2015: 54) macht Iris Därmann exemplarisch Einflüsse von Platon, Aristoteles und Paulus bis Friedrich Nietzsche, Max Weber, Martin Heidegger und Giorgio Agamben aus, wobei die Verachtung niederer D.e bis zu John Locke, Adam Smith und Immanuel Kant reicht – in Spannung zur „Nobilitierung des Dienens“ (Därmann 2008: 23) als Gottes-, Liebes-/Minne-, Hof- und Staats-D. Unvermittelt stehen die Rehabilitation der unproduktiven Sklaven-D.e der Antike und die sublimierende Verinnerlichung des D.es für Gott, den Nächsten und den Staat bis heute brutalem (kolonialem; Kolonialismus) Sklavenhandel und (feudaler) Leibeigenschaft (Feudalismus) gegenüber. Die hellenistisch-römische Sklavenhaltergesellschaft behandelte diese rechts- und eigentumsunfähigen „Sub-jekte“ wie Dinge oder Tiere, von Aristoteles naturrechtlich-ontologisch begründet: Der Freie herrscht über den Sklaven wie die Seele über den Leib, der Patron über Frau und Kinder. Gegen Platons Despotie plädiert er aber für vernünftige Lenkung und Unterweisung der „beseelten Werkzeuge“ (Därmann 2008: 26). Jeder Freigelassene bleibt als Lohnarbeiter an den früheren Herrn gebunden.

Die „Transformationen, Umwertungen und Perversionen“ (Därmann 2015: 56), die aus der antiken Sklavenverachtung ein modernes „Ethos des Dienens“ (Därmann 2015: 56) schufen, lassen sich ohne die urchristliche Spannung zwischen faktisch hingenommener Sklaverei und dialektisch-revolutionärer Umkehrung von Dienen und Herrschen nicht nachvollziehen.

4. Theologische und religiöse Perspektiven: der dienende Gott

Angesichts der entscheidenden Rolle, die die paulinische Theologie in der Transformationsgeschichte des Dienens spielt, darf die eschatologische Dialektik bereits in der jesuanischen Basis nicht übersehen werden. Indem Jesus in den Evangelien durchgehend als der leidende messianische Gottesknecht (Deuterojesaja) auftritt und seine gesamte Sendung performativ als D. zugunsten der Menschen, v. a. der Kranken, Leidenden, Unterdrückten und Armen, lebt, ist er unter ihnen „wie der Dienende“ (Lk 22, 27), der durch seinen totalen Selbsteinsatz seine „Freunde“ (Joh 15,13–15) erlöst und befreit. Wie der Herr und Meister sie be„dient“ und ihnen die Füße wäscht, müssen auch sie diesen D. füreinander übernehmen (Joh 13,14f). Paulus radikalisiert die soteriologische Dialektik des Gottesknechtes: In Anlehnung an die rituelle Praxis des sakralen Sklavenfreikaufs sind die Getauften durch Christus zur Freiheit befreit (Gal 5,1.13). Alle, die als Sklaven dienen – sei es der Sünde (Röm 6,17), dem Tod (Röm 8,20f), heidnischen Göttern (Gal 4,8) oder dem Gesetz (Gal, 4,1–7) –, sind vom Messias um den Preis seines eigenen Todes erkauft (1 Kor 6,20). Als Befreite sind sie nun zugleich Sklaven des Messias. Auch wenn Paulus die reale Sklaverei politisch nicht in Frage stellte, sondern den „Freigelassenen im Herrn“ die Annahme ihres „angeborenen Standes“ empfahl, hat er sie doch im Sinne einer frei einwilligenden Haltung von Grund auf transformiert: Im Kreuz Jesu werden auch die realen Sklaven, die in der Taufe ihre Berufung zum Sklaven des Messias bejahen, zu Freigelassenen im Herrn; und der rechtlich Freie wird seinerseits zum Diener seines (neuen) Herrn (1 Kor 7, 20–23). Das Sklave-/Diener-Sein wandelt sich also radikal. Die messianische Berufung zehrt die faktische Sklaverei von innen aus – im Geist der „negativen Virtualität“ des paulinischen „als ob nicht“ (Därmann 2008: 33 f.). Konkret prägt das neue Dienen die unterschiedlichen charismatischen und hierarchiefreien „D.e“ und Funktionen in den frühen Gemeinden: den materiellen D. am Tisch (Apg 6,2) wie am Wort (Apg 6,4) und an der Versöhnung (2 Kor 5,18). Will Kirche in der Nachfolge Jesu diakonisch sein, ist sie als „Kirche für Andere“ (Dietrich Bonhoeffer) vorrangig an die Seite der „Armen und Kleinen“ (Lk 4,18f) verwiesen und muss sichtbares Zeichen gelebter Diakonia (Apg 2,42–47) sein (Mette).

Die paradoxe neue Realität, die das antike Ethos des Dienens im Christentum lebenspraktisch überbietet (der Sklave bleibt Sklave und wird doch zum „lieben Bruder“ seines Herrn: Philem 16) wirkte sich auf das profane Verständnis des Dienens aus. Durch den Wegfall der eschatologischen Überbietung verwandelt sich bei Martin Luther die Bejahung des Gegebenen in eine „ordnungspolitisch höchst wirksame Gehorsamspflicht“ (Därmann 2008: 37) gegenüber Gottes Gebot. In der Annahme von Stand und Berufsarbeit hat sich der Mensch in die göttliche Fügung zu schicken und seine Dienstfertigkeit gegen Gott und den Nächsten zu erweisen. Säkularisiert wirkt das bis ins moderne D.-Verständnis (Max Weber) nach und spielt bei der Umwertung von Dienen und Herrschen eine wesentliche Rolle. Sklavische Gewaltbeziehung und äußere Abhängigkeit, bei Seneca noch als Gefolgschaft, Treue und innere Freiwilligkeit ausgegeben, sind weder mit dem diakonischen Jesus noch mit dem messianischen Freikauf bei Paulus kompatibel. Das Paradox der Radikalumwertung macht ja deutlich, dass Sklave wie Freier nun beide frei einem „Herrn“ dienen, der sich von allen anderen Herren der Welt fundamental unterscheidet – und damit auch ein qualitativ anderes Dienen untereinander verlangt und ermöglicht.

Wie zwiespältig die „Herr-Knecht“-Relationen geschichtlich blieben, zeigt die offene Kritik von Thomas Hobbes an der Lehre, Könige seien nicht Vorgesetzte, sondern Diener des Volkes, während sich Friedrich der Große als „serviteur“, „domestique“, „ministre“, als „erster Diener des Staates“ ausgab. Für F. Nietzsche travestiert er mit dieser „moralischen Heuchelei der Befehlenden“ (Därmann 2015: 65) politische Herrschaft im Namen eines D.-Ethos in bloße D.-Leistung. Dass sich dieselbe ideologische Figur (Ideologie) auch im Namen von Religion und Kirche lange behauptet hat, ist evident – gegen Buchstaben und Geist des Evangeliums (Mk 10,42–45). Die bloße Gegenrede, Macht und Amt in der Kirche heiße nichts Anderes als D., hebt den Missbrauch nicht auf, solange nicht wirklich das biblische Dienen „herrscht“. Auch der päpstliche Ehrentitel „servus servorum Dei“ (Papst) diente im Auf und Ab der Geschichte nicht selten dazu, das Fußwaschungs-Symbol Jesu eklatant zu desymbolisieren: Der „geradezu inflationäre Gebrauch des Wortes D. in der kirchlichen Praxis lässt sich unschwer als eine Form ideologischer Rede identifizieren, die zumeist der Verschleierung von Machtinteressen dient.“ (Steinkamp 2012: 47).

Dem ursprünglichen Wortsinn näher versucht ein praktisch-theologisches Verständnis nicht nur des Amtes (pleonastisch „D.-Amt“ genannt), sondern auch einer Grundfunktion von Kirche überhaupt: der Diakonia gerecht zu werden, die neben ihrer organisatorischen Professionalisierung in Caritas und Diakonie (Caritas) für die Gemeinde selbst lebenswichtig ist. Nicht-ausschließend, geschieht sie ohne egoistische Rekrutierungsabsicht, sondern fördert eine subjekt- und charismen-orientierte Einstellung bei Haupt- wie Ehrenamtlichen (Freiwilligenarbeit) und begrenzt sich nicht auf kirchennahe Orte; sie will als Kirche, „die dazu dient zu dienen“ (in Anlehnung an Jacques Gaillots Buch „Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“) lebensdienliche, befreiende und partizipationsfördernde Projekte initiieren und in absichtsloser, „‚missionarischer‘ Präsenz“ (Fuchs 2011: 209) und Glaubenspraxis christliche Spiritualität und uneigennützige (nicht: „selbst-lose“) Solidarität anbieten.