Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
1. Geschichtliche Entwicklung
Der EGMR ist als Organ des Europarats seit 1959 für die Überwachung der Einhaltung der in der EMRK sowie der sie ergänzenden ZP enthaltenen Menschenrechte in den 47 Mitgliedsstaaten des Europarats zuständig. Nach der ursprünglichen Konzeption der im Jahr 1953 für zehn Staaten in Kraft getretenen EMRK sollte das Kontrollsystem auf drei Pfeilern beruhen, auf der EKMR, dem EGMR und dem Ministerkomitee. Der Gerichtshof war danach für die bindende Auslegung der Konvention sowie für die endgültige Entscheidung über das Vorliegen einer Menschenrechtsverletzung zuständig, konnte aber nicht unmittelbar angerufen werden. Vielmehr funktionierte die EKMR als eine Art Vorprüfungsinstanz, die abschließend über die Zulässigkeit von Beschwerden entscheiden und zur Begründetheit gutachterlich Stellung nehmen konnte. Das aus den Außenministern der Mitgliedsstaaten zusammengesetzte Ministerkomitee konnte Entschließungen politischer Natur abgeben.
Mit dem am 1.11.1998 in Kraft getretenen 11. ZP wurde dieses System grundlegend reformiert, die EKMR abgeschafft und dem EGMR die unmittelbare Zuständigkeit für Individual- und Staatenbeschwerden übertragen; dem Ministerkomitee obliegt die Überwachung der Umsetzung der Urteile in den Vertragsstaaten. Die Reform war aufgrund des exponentiellen Anstiegs der Beschwerden nach dem Beitritt auch der mittel- und osteuropäischen Staaten nach 1990 notwendig geworden.
Zur Vereinfachung des Verfahrens wurde mit dem am 1.6.2010 in Kraft getretenen 14. ZP die Möglichkeit geschaffen, die Abweisung unzulässiger Beschwerden auf Einzelrichter zu übertragen. Das noch nicht in Kraft getretene 15. ZP sieht weitere Verfahrenserleichterungen vor, fügt aber auch den Subsidiaritätsgrundsatz (Subsidiarität) in die Präambel der EMRK ein, um die Nachrangigkeit des europäischen Menschenrechtsschutzes gegenüber den Rechtssystemen der Mitgliedsstaaten zu betonen. Mit dem ebenfalls noch nicht in Kraft getretenen 16. ZP soll ein Gutachtenverfahren geschaffen werden, mit dem nationale Höchstgerichte mit dem EGMR über die Auslegung einzelner Konventionsbestimmungen vor dem Erlass bindender Urteile in Dialog treten können.
Nach Art. 6 Abs. 3 EUV ist der Beitritt der EU zur EMRK und damit die Unterwerfung unter die Rechtsprechung des EGMR vorgesehen. Der auf dieser Grundlage ausgearbeitete Vertragsentwurf wurde aber im Gutachten des EuGH 2/13 vom 18.12.2014 für nicht mit Art. 6 Abs. 2 EUV sowie dem dazu ergangenen ZP Nr. 8 vereinbar erklärt mit der Folge, dass eine Überarbeitung dieses Vertrags notwendig ist und für den Beitritt kein konkreter Zeitpunkt feststeht.
2. Funktionsweise
Der Gerichtshof setzt sich aus je einem Richter aus jedem Vertragsstaat (gegenwärtig 47) zusammen. Die Richter werden für neun Jahre von der Parlamentarischen Versammlung auf Vorschlag der jeweiligen Regierungen gewählt. Organisation und Verfahren sowohl des Gerichtshofs wie auch der für ihn unterstützend tätig werdenden Kanzlei sind in der EMRK sowie in der Verfahrensregelung (Rules of Court) geregelt. Der Gerichtshof entscheidet in unterschiedlichen Formationen, als Einzelrichter, Ausschuss von drei Richtern, Kammer von sieben Richtern und Große Kammer von 17 Richtern. Von der Mehrheit abweichende Meinungen der Richter können den Urteilen in Sondervoten angefügt werden.
3. Schwerpunkte und Wirkungen der Rechtsprechung
Die Zahl der pro Jahr anhängig gemachten Beschwerden ist von 10 500 im Jahr 2000 auf 63 350 im Jahr 2017 gestiegen. Die meisten Beschwerden kommen aus der Ukraine, der Russischen Föderation, Italien, der Türkei und Rumänien. Etwa ein Drittel der Beschwerden betrifft das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK); statistisch häufig sind auch Beschwerden wegen des Verbots von Folter und unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) und des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK). Die Urteile zu Garantien wie Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) und Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) fallen zwar statistisch weniger ins Gewicht, sind dennoch aber für die Herausbildung eines europäischen Wertekanons von sehr großer Bedeutung.
Aufgrund der dynamischen Auslegung der EMRK als „lebendiges Instrument“ (EGMR, Entscheidung E-1, 168, Nr. 28, S. 273, Tyrer v Vereinigtes Königreich vom 25.4.1978) durchdringt die Rechtsprechung des Gerichtshofs mittlerweile nahezu alle Bereiche des Rechts.
Im Familienrecht war die Entscheidung im Fall Marckx v Belgien wegweisend, in der die zu diesem Zeitpunkt noch in einer Vielzahl von Rechtsordnungen für selbstverständlich erachtete Benachteiligung von unehelichen Kindern für konventionswidrig erklärt wurde. Mit der Rechtsprechung zum Recht biologischer Väter auf Umgang mit ihren Kindern oder zur Regelung der familienrechtlichen Verhältnisse bei Leihmutterschaft hat der Gerichtshof in vielen Mitgliedsstaaten Reformen veranlasst. Ähnlich einflussreich war die Rechtsprechung zum Verbot der Diskriminierung Homosexueller und Transsexueller.
Ein weiterer Schwerpunkt der Rechtsprechung betrifft die Rechte Gefangener. Die Entscheidung des Gerichtshofs, unhygienische Verhältnisse ebenso wie die Überbelegung von Gefängniszellen als unmenschliche Behandlung anzusehen hat wichtige Änderungen im Strafvollzug bewirkt. In Deutschland musste das Recht der Sicherungsverwahrung grundlegend neu gestaltet werden, als der Gerichtshof 2009 die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung nach Ablauf der Haft für konventionswidrig erklärte. Auch die Voraussetzungen der Untersuchungshaft werden vom Gerichtshof aufgrund des hohen Wertes des Rechts auf Freiheit einer strengen Prüfung unterzogen.
Das aus dem angloamerikanischen Rechtsdenken in die EMRK übernommene Recht auf ein faires Verfahren hat zu einer Vielzahl von Veränderungen im Prozessrecht in allen Mitgliedsstaaten geführt. Innovativ war insb., in einem übermäßig lange dauernden Gerichtsverfahren eine Konventionsverletzung zu sehen.
Die extensive Auslegung des Begriffs der Herrschaftsgewalt (jurisdiction) hat dazu geführt, dass auch Militäreinsätze nicht nur innerhalb der Mitgliedsstaaten wie etwa in Tschetschenien, sondern auch im außereuropäischen Ausland wie etwa im Irak zum Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs wurden. Dabei war der Gerichtshof bemüht, im Abgleich mit dem humanitären Völkerrecht einen effektiven Menschenrechtsschutz auch in Konfliktfällen zu gewährleisten.
Wegmarken gesetzt hat der Gerichtshof auch beim Schutz von Flüchtlingen. Auch wenn er für die Gewährung von Asyl nicht zuständig ist, kann er doch prüfen, ob eine Ausweisung zu Folter oder unmenschlicher Behandlung im Heimat- oder Drittstaat führen würde. Zudem fordert der Gerichtshof eine menschenwürdige Grundversorgung von Flüchtlingen ein.
Die Umsetzung der Urteile des EGMR in die nationalen Rechtsordnungen, sei es mit Kompensationszahlungen, sei es mit konkreten Abhilfemaßnahmen oder mit allgemeinen Reformen, ist völkerrechtliche Pflicht und wird vom Ministerkomitee des Europarats überwacht.
Die Rechtsprechung des EGMR über fast sechs Jahrzehnte hat nicht nur zur Herausbildung grundlegender Standards und zur Harmonisierung des Rechts in den europäischen Staaten geführt, sondern hat darüber auch Vorbildfunktion für den außereuropäischen Menschenrechtsschutz entfaltet.
Literatur
C. Grabenwarter/K. Pabel: Europäische Menschenrechtskonvention, 62016 • W. Shabas: The European Convention on Human Rights. A Commentary, 2015 • F. Sudre: Droit européen et international des droits de l’homme, 122015 • D. J. Harris u. a.: Law of the European Convention on Human Rights, 2014 • E. Bates: The Evolution of the European Convention on Human Rights, 2011.
Empfohlene Zitierweise
A. Nußberger: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europ%C3%A4ischer_Gerichtshof_f%C3%BCr_Menschenrechte_(EGMR) (abgerufen: 21.11.2024)