Europäische Innen- und Rechtspolitik
1. Begriff und Bedeutung
Die E. I. R. umfasst die internen Politikbereiche der EU, die zur Verwirklichung des in Art. 3 Abs. 2 EUV genannten Ziels eines RFSR ohne Binnengrenzen erforderlich sind. Zur Gewährleistung des freien Personenverkehrs im Europäischen Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen sind, um diese abschaffen zu können, die Sicherung der Außengrenzen der EU und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der für die innere Sicherheit zuständigen Behörden erforderlich. Daher werden als geeignete Maßnahmen die Kontrollen der Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität genannt. Die EU ist als auf den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ beruhender „Staatenverbund“ zwar kein Staat, übt aber wegen ihrer Supranationalität und ihres hohen Integrationsgrads in erheblichem Umfang Staatsfunktionen aus. Daher unterscheidet sich das Zusammenwirken ihrer Mitgliedstaaten auch in den Bereichen der Innen– und Justizpolitik von herkömmlicher völkerrechtlicher Kooperation. Die Spill-over-Effekte der als „Zweckverband funktioneller Integration“ (Ipsen 1972: 196) 1957 gegründeten EWG forderten daher die Einbeziehung und Entwicklung einer E.n I. R., die in Schritten erfolgte.
2. Entwicklung
Begonnen wurde mangels hinreichender Rechtsgrundlage im EWG-Vertrag außerhalb dessen Rahmens. Zum einen durch die mit Billigung des Europäischen Rates 1975 begonnene regelmäßige Erörterung von Fragen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Innenminister der damals sechs Mitgliedstaaten, der sogenannten TREVI-Gruppe (benannt wohl nach dem ersten Treffen nahe der Fontana di Trevi in Rom; passt aber auch zu Terrorisme, Radicalisme, Extremisme, Violence International). Arbeitsgruppen behandelten Terrorismus, öffentliche Ordnung, Polizeitechnik und Ausbildung, Bekämpfung des organisierten Verbrechens, insb. Drogenkriminalität, die Koordination der erforderlichen Ausgleichsmaßnahmen im Rahmen des Binnenmarktprogramms. Ab 1991 bestand die Ad-hoc-Gruppe Europol. Mit Beobachterstatus wurden die damaligen Drittstaaten Österreich und Schweden, ferner Norwegen, die Schweiz, Marokko, Kanada und die USA einbezogen. 1986 wurden die Ad-hoc-Gruppe Einwanderung, mit Untergruppen u. a. für Asyl, sowie im Rahmen der EPZ die Gruppe „Justizielle Zusammenarbeit“ eingerichtet, unterteilt für die Gebiete Zivilrecht und Strafrecht. In diesem Rahmen wurden mehrere völkerrechtliche Übereinkommen erarbeitet. Zum anderen durch das von den fünf Gründungsstaaten (ohne Italien) am 14.6.1985 geschlossene Schengener Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen sowie am 19.6.1990 das Übereinkommen zu dessen Durchführung, die inhaltlich den Wegfall der Binnengrenzkontrollen, den Grenzübertritt an den Außengrenzen, Aufenthaltstitel und Sichtvermerke, die Zuständigkeit für die Behandlung von Asylanträgen sowie die polizeiliche Zusammenarbeit betreffen und ausdrücklich als Vorläufer einer weiteren Integration im Rahmen der EG/EU konzipiert waren, was auch realisiert wurde. Die EEA schuf für die EPZ einen institutionellen Rahmen auf vertraglicher Grundlage. Durch den Vertrag von Maastricht (in Kraft 1.11.1993), durch den mit der „Gründung“ der EU der Prozess der europäischen Integration auf eine „neue Stufe“ gestellt werden sollte (Art. 1 Abs. 1 und 2 EUV), wurden unter deren Dach neben der jetzt EG genannten supranationalen Säule in zwei intergouvernemental strukturierten Säulen neben der GASP auch die bisherige Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (ZBJI, sogenannte „Dritte Säule“) unter diesem Titel kodifiziert. Als Handlungsformen wurden für die ZBJI gemeinsame Standpunkte, gemeinsame Maßnahmen und Maßnahmen zu deren Durchführung und der Abschluss völkerrechtlicher Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten vorgesehen. Durch den Vertrag von Amsterdam (in Kraft 1.5.1999) wurde der Schengen-Besitzstand in das Unionsrecht einbezogen und ein wesentlicher Teil der ZBJI, nämlich Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr durch die Verlagerung in die „erste Säule“ (EG) unter dem Titel RFSR „vergemeinschaftet“. Die in der „Dritten Säule“ verbliebene polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) wurde ausgebaut. Als Rechtsetzungsform wurde dabei der Rahmenbeschluss zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten eingeführt, der für die Mitgliedstaaten verbindlich ist, aber vom Rat der Europäischen Union einstimmig und ohne Mitwirkung des Europäischen Parlaments beschlossen wird. Bes. bedeutsam ist (und bis zur Ablösung durch neue Regelungen bleibt, vgl. EuGH C-579/15, Rdnr. 27 – Poplawski) insoweit der Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl. Zur politischen Ausfüllung des RFSR stellte der Europäische Rat 1999 in Tampere ein Programm mit Leitlinien, konkreten Zielen und einem entsprechenden Zeitplan auf, an den sich 2004 das Haager Programm und 2005 ein Aktionsplan bis 2010 anschlossen. Durch den Vertrag von Lissabon wurde die Säulenstruktur aufgelöst, wobei – anders als die GASP – die PJZS voll in den AEUV (Art. 82–89) integriert wurde.
3. Europäische Innen- und Rechtspolitik nach dem Vertrag von Lissabon
3.1 Grundlagen
Durch die Integration der gesamten Grundlagen der E.n I. R. in Art. 67–89 AEUV erhielt diese supranationalen Charakter. Kennzeichnend dafür ist die Rechtsetzung durch unmittelbar geltende Verordnungen und von den Mitgliedstaaten umzusetzende Richtlinien mit Einbeziehung des im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gleichberechtigt mit dem Rat als Unionsgesetzgeber agierenden Europaparlament (Europarecht). Dieses Verfahren und die im Titel RFSR enthaltenen Rechtsetzungskompetenzen standen bzw. stehen zur Umsetzung des für die Jahre 2010–2014 beschlossenen Stockholmer Programms und dessen Fortführung durch das Post-Stockholmer-Programm zur Verfügung. Allerdings bestehen für den RFSR Besonderheiten, deren politischer Hintergrund die Sensibilität dieser einen Kernbereich der Souveränität betreffenden Materie ist, bei der die Mitgliedstaaten die Übertragung von Hoheitsrechten an Kontrollbefugnisse knüpfen. Der Europäische Rat hat eine Leitungsfunktion; ein ständiger Ausschuss des Rates soll die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit fördern, deren Bedeutung auch in deren freiwilligen Maßnahmen und Maßnahmen des Rates zum Ausdruck kommt; die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit bleibt ausdrücklich unberührt (Art. 72 AEUV), die sich auch gegenüber der gemeinsamen Einwanderungspolitik die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zum Arbeitsmarkt vorbehalten (Art. 79 Abs. 5 AEUV). Z. T. bedürfen Maßnahmen der Einstimmigkeit im Rat, z. T. wird das Europäische Parlament nur angehört. In den Bereichen des Strafrechts und des Sozialrechts wurde ein sogenannter Notbremsemechanismus eingeführt, der gegenüber Mehrheitsbeschlüssen im Rat geltend gemacht werden kann und durch den deutschen Vertreter im Rat auf Weisung des Bundestages und ggf. des Bundesrates geltend gemacht werden muss (§ 9 IntVG). Großbritannien und Irland sowie Dänemark nehmen im RFSR eine Sonderrolle ein.
3.2 Materien
Grundlegend für den Binnenmarkt als RFSR ist die Übernahme des Schengen-Besitzstandes mit dem Schengener Informationssystem in das Unionsrecht und der durch die VO 562/2006 beschlossene Schengener Grenzkodex. Im Schengen-Raum sind die Grenzkontrollen und die Kontrollen an den Flughäfen grundsätzlich, d. h. vorbehaltlich von seitens der Europäischen Kommission genehmigten (im Zusammenhang mit dem Flüchtlingszustrom aktivierten) Ausnahmesituationen, abgeschafft. Dies erfordert als sicherheitsrechtliche Maßnahmen eine effektive Kontrolle der EU-Außengrenzen mit unionalen Regelungen zu Asyl und Einwanderung, zur Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung und zur Kooperation der Polizei. Zum Asylrecht wurde 2013 zur Verwirklichung des seit 1999 auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention angestrebten „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“, neben den verbliebenen Richtlinien über Massenzustrom und ausgewogene Verteilung der Belastungen, über die Qualifikation von Anerkennungskriterien und über die Rückführung sich illegal in der EU aufhaltender Drittstaatsangehöriger ein „Asylpaket“ erlassen, das z. T. frühere Normen aufhob und durch Richtlinien zur Festlegung von gemeinsamen Normen und Verfahren ersetzte. Der Schutz der EU-Außengrenzen durch die Mitgliedstaaten wird durch die Agentur Frontex koordiniert. Art. 79 AEUV normiert ausdrücklich das Ziel einer wirksamen Steuerung der Migrationsströme, der angemessenen Behandlung von sich legal aufhaltenden Drittstaatsangehörigen und die Verhütung und Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel. Für diese Politik soll gemäß Art. 80 AEUV der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten, einschließlich in finanzieller Hinsicht gelten. Die offensichtlichen Defizite und Missstände liegen zum einen am fehlenden Willen einiger Mitgliedstaaten, zum anderen an der grundsätzlichen Unzulänglichkeit des sogenannten Dublin-Systems.
Hauptziel der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ist die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, ferner der Erlass von Mindestvorschriften im Bereich des Strafprozessrechts sowie des materiellen Strafrechts in Bereichen bes. schwerer Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension (Europäisches Strafrecht). Probleme des Europäischen Haftbefehls (vgl. BVerfG NJW 2016, 1149: Bedeutung des Schuldgrundsatzes; EuGH C-404/15 und C-659/15 PPU – Aranyosi und C&abog;ld&abog;raru: grundrechtswidrige Haftbedingungen als Überstellungshindernis) zeigen die Notwendigkeit der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze angesichts Unterschieden in den Mitgliedstaaten und die Grenzen des Konzepts der gegenseitigen Anerkennung. Eurojust (Einheit für justizielle Zusammenarbeit der EU) und Europäisches Justizielles Netz sollen die Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehörden koordinieren. Die Europäische Staatsanwaltschaft (Art. 86 AEUV) soll zur Bekämpfung von grenzüberschreitender Steuerhinterziehung und Steuerbetrug wegen Bedenken einiger Mitgliedstaaten jetzt im Wege Verstärkter Zusammenarbeit (Art. 20 EUV) installiert werden. Europol ist seit 2016 eine Agentur der EU auf der Basis einer EU-VO.
Die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen dient der wirtschaftlichen Integration im Binnenmarkt, zunehmend aber auch der Stärkung der Rechtsstellung der Unionsbürger („Zugang zum Recht“ im RFSR). Dazu wurde eine Reihe von Verordnungen erlassen (Europäisches Prozessrecht).
4. Perspektiven
Die Zukunft der E.n I. R. hängt von der künftigen Entwicklung der EU nach dem gemäß Art. 50 AEUV erfolgten Austritt des Vereinigten Königreichs ab. Nicht nur dieser zeigt, dass die Integrationsbereitschaft der Mitgliedstaaten gerade in diesem Bereich Grenzen hat. Andererseits wird deutlich, dass Innenpolitik in einer als RFSR konzipierten Union eine europäische Angelegenheit ist und zu den dynamischsten Politikfeldern der EU gehört. Der Ansatz eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten, wie er bei Schengen verfolgt wurde und jetzt bei der Europäischen Staatsanwaltschaft geplant ist, wirft das Problem der Koordinierung zwischen den insoweit getrennten Mitgliedstaaten auf. Wie generell gilt es, gegenüber dem problematischen „immer enger“ die richtige und in den Mitgliedstaaten zu vermittelnde Balance zwischen den Kompetenzen der EU und den Kompetenzen der Mitgliedstaaten zu finden.
Literatur
R. Streinz: Europarecht, 102016, § 13 • K.-D. Borchardt: Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 62015, §§ 17–20 • E. Pache: Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: M. Niedobitek (Hg): Europarecht – Politiken der Union, 2014, § 10 • H. P. Ipsen: Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972.
Empfohlene Zitierweise
R. Streinz: Europäische Innen- und Rechtspolitik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europ%C3%A4ische_Innen-_und_Rechtspolitik (abgerufen: 23.11.2024)