Europäischer Rat
1. Begriff
Der E. R., nicht zu verwechseln mit dem Rat (der Europäischen Union) und dem Europarat (Organisation mit 47 Vertragsparteien, Sitz in Straßburg), ist seit dem Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 1.12.2009) ausdrücklich (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV) ein Organ der EU.
2. Zusammensetzung
Der E. R. setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten (Stand 2017) der EU sowie dem Präsidenten des E.n R.s und dem Präsidenten der Europäischen Kommission (Art. 16 Abs. 2 S. 1 EUV). Die Unterscheidung zwischen Staats- und Regierungschefs stellt darauf ab, dass die Mitgliedstaaten im E.n R. durch denjenigen vertreten sein sollen, der nach dem Verfassungsrecht des jeweiligen Staates die politische Macht hat. Daher wird Deutschland durch den Bundeskanzler (2017: Bundeskanzlerin Angela Merkel) vertreten, der gemäß Art. 65 S. 1 GG die Richtlinien der Politik bestimmt, ebenso Österreich (trotz der Direktwahl des Bundespräsidenten, Art. 60 Abs. 1 S. 1 B-VG), die Monarchien Belgien, Dänemark, Luxemburg, Niederlande, Schweden, Spanien und Vereinigtes Königreich durch den Premierminister bzw. Ministerpräsidenten, Frankreich aber durch den Präsidenten der Republik (der den Premierminister ernennt, Art. 8 S. 1 Französische Verfassung). Eventuelle Streitfragen des Vertretungsrechts sind innerhalb des Mitgliedstaats zu klären. Der Präsident des E.n R.s wird von diesem mit qualifizierter Mehrheit (Art. 235 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 AEUV) für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt, einmalige Wiederwahl ist möglich (Art. 15 Ab. 5 S. 1 EUV). Er darf kein einzelstaatliches Amt ausüben (Art. 15 Abs. 6 UAbs. 3 EUV). Er (auch um eine doppelte Stimme eines Mitgliedstaats zu vermeiden) und der Präsident der Kommission nehmen an Abstimmungen im E. R. nicht teil (Art. 235 Abs 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV). Der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, der zugleich der Europäischen Kommission und dem Rat der Europäischen Union angehört, nimmt an den Arbeiten des E.n R.s teil (Art. 15 Abs. 2 S. 2 EUV). Der E. R. tritt mindestens zweimal pro Halbjahr zusammen, ferner zu außerordentlichen Tagungen, wenn es die Lage (z. B. Finanzkrise, Flüchtlingsproblem) erfordert. Er wird vom Generalsekretär des Rates unterstützt (Art. 235 Abs. 4 EUV).
3. Entwicklung
Von 1969–1974 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten jährlich zu sogenannten „Gipfeltreffen“. Auf dem Treffen 1974 in Paris wurde deren Institutionalisierung als E. R. im Rahmen der EPZ, d. h. den nicht in den EG-Verträgen geregelten, aber deren Materien berührenden Bereichen (Innenpolitik, Außen- und Sicherheitspolitik) beschlossen. In der EEA wurde 1986 der E. R. erstmals vertraglich verankert, in der Säulenkonstruktion des Vertrags von Maastricht (1992) wurde er als Leitungsorgan der dadurch „gegründeten“ EU bestätigt und in dieser Funktion bestärkt. Diese Funktion behält er auch nach dem Vertrag von Lissabon (2009) als Organ der jetzt einheitlichen EU bei. Dabei kam es zu erheblichen Änderungen und zu einer weiteren Stärkung der Rolle des E.n R.s, v. a. im Verhältnis zum Rat. Um Kontinuität und einheitliche Vertretung der EU nach außen zu demonstrieren, wurde (anders als beim Rat) das bisherige Rotationssystem der „Präsidentschaft“ abgeschafft und das Amt des Präsidenten des E.n R.s geschaffen. Dieser wird vom E.n R. mit qualifizierter Mehrheit für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren mit einmaliger Möglichkeit der Wiederwahl gewählt (Art. 15 Abs. 5 EUV: 2009–2014 Herman Van Rompuy, Belgien; 2014 Donald Tusk, Polen, der 2017 ohne Zustimmung Polens wiedergewählt wurde). Die Einbeziehung als Organ der EU soll den Abbau intergouvernementaler Strukturen dokumentieren, die in Bereichen wie der GASP und der EWWU gleichwohl erhalten bleiben.
4. Aufgaben
Als Leitungsorgan gibt der E. R. gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 1 EUV der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest. Der juristische Gehalt dieser in der Praxis regelmäßig als „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“ veröffentlichten Beschlüsse beschränkt sich auf eine politische Verbindlichkeit. Für die anderen Organe verbindliche Beschlüsse erlässt der E. R. im Organisationsbereich. Ferner sind im Bereich der GASP und zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik seine allgemeinen Leitlinien Grundlage von Beschlüssen des Rates. Darüber hinaus hat der E. R. aber gegenüber dem Rat keine Weisungsbefugnisse. Die Beschlussfassung erfolgt im Konsens (Art. 15 Abs. 4 EUV), d. h. ohne förmliche Abstimmung, bei rechtsförmlichen Beschlüssen einstimmig, mit qualifizierter oder mit einfacher Mehrheit. Der E. R. ist das dominante Organ in der GASP und der GSVP. Er wird ausdrücklich nicht gesetzgeberisch (d. h. hinsichtlich Sekundärrecht) tätig (Art. 15 Abs. 1 S. 2 EUV). Er ist jedoch in das Verfahren zur Änderung der EU-Verträge (Primärrecht) eingebunden (Art. 48 Abs. 3 EUV), im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV) und im besonderen Vertragsänderungsverfahren im Bereich der GASP (Art. 42 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EUV) sogar als beschließendes Organ. Er kann die Kompetenzen der Europäischen Staatsanwaltschaft erweitern (Art. 86 Abs. 4 EUV). Insoweit bedarf der deutsche Vertreter im E.n R. der Ermächtigung durch ein jeweiliges Gesetz (§ 2 und § 4 bzw. § 3 bzw. § 7 IntVG). Er ist schließlich in das sogenannte „Notbremseverfahren“ (Art. 48 Abs. 2 S. 1, Art. 82 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1, Art. 83 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 AEUV) eingebunden, durch das die jeweiligen Vertreter der Mitgliedstaaten als politisch heikel empfundene Maßnahmen blockieren können und das der deutsche Vertreter auf Weisung des Bundestages bzw. Bundesrates auslösen muss (§ 9 IntVG). Der E. R. stellt einstimmig (ohne den Vertreter des betroffenen Mitgliedstaats, Art. 7 Abs. 5 EUV, Art. 354 AEUV) das Vorliegen einer schwerwiegenden und andauernden Verletzung der Werte der EU (Art. 2 EUV) fest, die zur Aussetzung von Mitgliedschaftsrechten durch den Rat führen kann (Art. 7 Abs. 2 bzw. 3 EUV). Er ist an der „Investitur“ der Europäischen Kommission beteiligt.
5. Politische Bewertung
Während das &pfv;Europäische Parlament die „Union der Bürger“ repräsentiert, dokumentiert die Zusammensetzung des E.n R.s die EU als „Staatenverbund“, weshalb deren demokratische Legitimation zweigleisig ist und der E. R. wie der Rat der jeweiligen Rückkoppelung an die nationalen Parlamente bedarf (vgl. Art. 10 Abs. 2 EUV). Die Einbeziehung des Kommissionspräsidenten dient der auch innerhalb der jetzt einheitlichen EU gebotenen Kohärenz (vgl. Art. 13 Abs. 1 EUV). Der Präsident des E.n R.s hat Leitungs- und Koordinierungsaufgaben und vertritt die EU nach außen (Art. 15 Abs. 6 EUV). Dabei sind allerdings kompetenzielle Spannungen mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, dem Kommissionspräsidenten, dem Hohen Vertreter für die GASP und dem jeweiligen Vorsitz des Rates sowie ggf. dem Vorsitzenden der EURO-Gruppe in den Verträgen selbst angelegt und erschweren systembedingt einen einheitlichen Auftritt der EU. Die große politische Bedeutung des E.n R.s zeigt sich in Krisenzeiten, insb. hinsichtlich der EWWU. Hier ergänzen sich die „Gemeinschaftsmethode“ und der intergouvernementale Ansatz.
Literatur
E. Lenski: Art. 15 EUV, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hg.): Europäisches Unionsrecht. Kommentar, 72015 • U. Puetter: The European Council and the Council. New intergovernementalism and institutional change, 2014 • W. Wessels/T. Traguth: Der hauptamtliche Präsident des Europäischen Rates: „Herr“ oder „Diener“ im Haus Europa?, in: Integration 33/4 (2010), 297–311.
Empfohlene Zitierweise
R. Streinz: Europäischer Rat, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Europ%C3%A4ischer_Rat (abgerufen: 21.11.2024)