Feministische Theologie
1. Entstehung und Verbreitung
F. T. entstand in den 70er Jahren im Kontext der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Gleichstellung von Männern und Frauen und der zunehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit für alltägliche Diskriminierung von Frauen und sexuelle Gewalt. Daraus resultierten für F. T. eine starke Erfahrungsorientierung sowie eine enge Verbindung von Theorie und Praxis. Dies war, insb. in der katholischen Theologie, anschlussfähig an reformtheologische Strömungen und, konfessionsübergreifend, an befreiungstheologische Konzepte (Theologie der Befreiung). F. T. betrachtete die Erfahrungen von Frauen als Ausgangspunkt für ihre theologische Reflexion und für Veränderungen in Gesellschaft und Kirche. Doch schnell erwies sich „die Erfahrung von Frauen“ als unhaltbare Verallgemeinerung, denn Hautfarbe, Ethnizität, Nationalität, Religion, sexuelle Orientierung, Gesundheit, Alter oder wirtschaftliche Situation stellten sich als trennende Faktoren heraus, die zu unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen führen. Im Zuge der Verbreitung F.r T. – ausgehend von den USA nach Westeuropa, schließlich nach Osteuropa und in viele Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas – trat das Verhältnis verschiedener Diskriminierungen zueinander in den Fokus des Interesses (Intersektionalität) und führte zur Herausbildung theologischer Strömungen, die sich durch eigene Bezeichnungen, wie z. B. womanist theology oder teologia mujerista, von F.r T. absetzten.
Innerhalb F.r T. wurde auf die Kritik öffentlich und konstruktiv reagiert. F. T. befasste sich nun intensiv mit den Verflechtungen verschiedener Formen von Diskriminierung. Das hohe Erklärungspotential und die praktische Relevanz intersektionaler Analysen lassen sich z. B. daran zeigen, dass muslimische Frauen in westlichen Ländern, die unter häuslicher Gewalt leiden, häufig Hilfsangebote nicht wahrnehmen, weil sie fürchten, dass ihre Religion dafür verantwortlich gemacht wird und sie wegen ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert werden. Als schwarze Arbeiterinnen in den 80er Jahren von General Motors entlassen wurden, konnten sie weder wegen rassistischer noch wegen sexistischer Diskriminierung klagen, weil schwarze Männer und weiße Frauen ihre Stellen behalten hatten und das Gesetz eine Verbindung von Diskriminierungsformen nicht kannte. Auch die Behauptung, dass Jungen heute die Bildungsverlierer seien, ist nur im Zusammenhang mit bestimmten sozialen und ökonomischen Faktoren zutreffend.
Das Aufkommen der Gender Studies in vielen Wissenschaftsdisziplinen verschob auch in F.r T. den Schwerpunkt von der Frauenforschung zur Frage nach der Geschlechterdifferenz und ihren Auswirkungen und stellte zugleich die angestammte Loyalität zu einer sozialen Bewegung und die enge Verbindung der Forschung mit praktisch-politischem Veränderungsstreben in Frage. Über die F. T. hinaus gibt es kontroverse Diskussionen, ob zugunsten einer analytischen Beobachtung und Erforschung der Geschlechterdifferenz und der Überführung der Forschungsergebnisse in den Kanon der jeweiligen Fächer eine Distanz zu sozialen Bewegungen notwendig sei. Einerseits werde, z. B. in den biomedizinischen Fächern, die Kategorie „Geschlecht“ trotz ihrer Bedeutsamkeit, etwa für die Diagnostik oder die Entwicklung von Medikamenten, kaum in die Forschung einbezogen, weil Gender Studies als „reine Frauenforschung“ oder als „Gleichstellungspolitik“ wahrgenommen wurden. Andererseits bleibt die Erforschung der Geschlechterdifferenz immer auf die Verbesserung von Lebensbedingungen bezogen, sodass der gesellschaftliche und politische „impact“ nicht außer Acht gelassen werden kann.
Über den Begriff „Gender“ wurde auch in F.r T. intensiv debattiert. Grundsätzlich wurde zwischen dem biologischen Geschlecht (sex) und dem sozialen (gender) als Gesamtheit kultureller Rollenbilder und -erwartungen (Soziale Rolle) unterschieden. Diese Unterscheidung erwies sich als unzureichend in Bezug auf Menschen, deren biologisches und soziales Geschlecht nicht übereinstimmen oder deren Geschlechtszugehörigkeit nicht festgelegt werden kann. Kontrovers wurde die Zuordnung von sex und gender diskutiert, insb. hinsichtlich einer normativen Verbindung mit Heterosexualität. In feministischer Philosophie und Sozialtheorie gewann das Konzept einer Konstruktion der Geschlechtsidentität aus gesellschaftlichen Diskursen, nicht aus etwas naturhaft oder ontologisch Gegebenem große Bedeutung.
Im politischen Feld entstanden Begriff und Strategie des Gender mainstreaming. Gemeint ist die Prüfung aller Maßnahmen dahingehend, welchen Einfluss sie auf die Gleichstellung von Männern und Frauen und die Verwirklichung von Chancengerechtigkeit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) ausüben.
Seit dem Beginn des 21. Jh. wird F. T. innerhalb und außerhalb der Kirchen mit dem Vorwurf der „Gender-Ideologie“ konfrontiert. In Verkennung des wissenschaftlich-analytischen Charakters des Gender-Begriffs wird hinter diesem eine politische Verschwörung (Verschwörungstheorien) vermutet. Es handelt sich um eine intendierte Fehlinterpretation der Begriffe gender equality und gender mainstreaming, die politische und religiöse fundamentalistische Motive vereint. Diese transnational wirksame „Anti-Gender-Debatte“ wird im Rahmen politischer antidemokratischer und antieuropäischer Bewegungen oftmals dann entfacht, wenn Gesetzesreformen zugunsten der Gleichstellung der Geschlechter oder bezüglich der Rechte sexueller Minderheiten umgesetzt werden sollen.
Zur Versachlichung der Debatte wurde unter Verantwortung der DBK 2015 ein „Genderflyer“ veröffentlicht, der wichtige Grundbegriffe erläutert und den Willen bekundet, auf allen Ebenen geschlechtersensibel zu handeln.
2. Themen (Auswahl)
F. T. befasste sich mit biblischen und historischen Frauengestalten, entwickelte eine neue biblische Hermeneutik und erneuerte das einseitig männliche Gottesbild. Im Umgang mit den biblischen Texten suchte sie nach Autorinnenschaft und Zeugnissen weiblicher Perspektiven. V. a. entwickelte sie Methoden, Frauen in biblischen Texten sichtbar zu machen, z. B. durch die Analyse einer Sprache, die Frauen im generischen Maskulinum („die Jünger“) verschwinden ließ und in der die namentliche Nennung einer Frau auf ihre bes. Bedeutung verwies. Entgegen dem äußeren Anschein konnten Frauen in ihrer Bedeutung als Jüngerinnen Jesu und als führende Personen in den frühen Gemeinden erkannt werden. Zur Korrektur des einseitig männlichen Gottesbildes richteten Theologinnen das Augenmerk auf weibliche Bilder und weiblich konnotierte Rede von Gott. Diese Arbeiten entfalteten im Bereich kirchlicher Frauenarbeit, in der pastoralen und liturgischen Praxis eine enorme Wirksamkeit. Im Jahr 2006 wurde die „Bibel in gerechter Sprache“ veröffentlicht – eine Bibelübersetzung, die feministisch-theologische Sprachkritik und Bibelhermeneutik kreativ aufnahm und sehr kontrovers rezipiert wurde.
Im Bereich der Systematischen Theologie legten feministisch-theologische Ansätze den Fokus bes. auf die Gotteslehre, die Christologie und die Anthropologie. Das Nachdenken über Gott und Bilder von Gott erfolgte auf verschiedenen Ebenen – von der Suche nach einer weiblichen Symbolik für Gott in der Bibel und in religiösen Traditionen über das tiefenpsychologisch als Archetyp verstandene Bild der Göttin bis zu verschiedenen Versuchen, Gott als weiblich und als Mutter zu benennen, ohne in kulturelle Geschlechterstereotypen zu verfallen. Selbstkritisch erkannten Feministische Theologinnen die Funktionalisierung von Gottesbildern für die emanzipatorischen Zwecke, die Essentialisierung des Weiblichen trotz gegenteiliger Absicht und die Überfrachtung der Kategorie der „Beziehung“ mit Heilserwartungen als Gefahren. Diese Probleme finden sich allerdings in vielen reformtheologischen Strömungen des 20. und 21. Jh. Feministisch-christologische Ansätze erwiesen sich durch die Relativierung der Göttlichkeit Jesu ungewollt als anfällig für Antijudaismus. Denn es wurde auf andere, scheinbar historisch begründete Weise an der Einzigartigkeit Jesu festgehalten: als Freund der Frauen, als Symbol für Gerechtigkeit, als Beispiel für gelungene Beziehung oder als ethisches Vorbild für die egalitäre Nachfolgegemeinschaft – und dies zumeist unter Abhebung Jesu von einem als patriarchal etikettierten jüdischen Hintergrund.
Bes. Bedeutung erhielt die theologische Anthropologie, weil in der traditionellen theologischen Lehre vom Menschen die Geschlechterdifferenz mit einem Verhältnis von Über- und Unterordnung einherging. Die derart hierarchisierten Geschlechterrollen galten darüber hinaus als Symbol und Spiegel der Beziehung zwischen Gott und Mensch bzw. zwischen Christus und der Kirche. Aus dieser Symbolisierung resultierten traditionell Anweisungen zum konkreten Verhalten der Geschlechter zueinander. Die Tatsache, dass die Über- und Unterordnung nicht für die Seelen von Männern und Frauen galt – hier herrschte eine strenge Gleichstellung –, verschärfte die Problematik eher noch, weil die (hierarchisierte) Differenz an der Körperlichkeit festgemacht, d. h. als etwas Natürliches dargestellt wurde.
Diese Naturalisierung der theologischen Anthropologie ist auch in solchen anthropologischen Entwürfen nicht verschwunden, die nicht mehr von einer Überordnung des männlichen Geschlechts über das weibliche ausgehen, sondern die „Andersartigkeit“ von Männern und Frauen als gleichwertig und komplementär verstehen. Auch in einem solchen Konzept wird eine primär theologische Aussage im Sinne einer dualen Geschlechterordnung naturalisiert und verdeckt so deren Charakter als soziale Struktur.
Im Blick auf Sünde und Gnade formulierten Theologinnen die Erkenntnis, dass nicht nur Selbstüberhebung als Sein-Wollen-wie-Gott, sondern auch Selbst-Verleugnung als Mangel an Subjekt-Sein Sünde sein kann. Die befreiungstheologische Rede von der sozialen oder strukturellen Sünde wurde rezipiert und auf den Sexismus angewandt.
Römisch-katholische Theologinnen kritisierten aus ekklesiologischer und pastoraler Perspektive den Ausschluss der Frauen vom kirchlichen Amt, die damit verbundene Ignoranz gegenüber den Berufungen von Frauen, die Verbindung von Priesterweihe und Führungspositionen in der römisch-katholischen Kirche (Katholische Kirche) sowie die entspr. geschlechtlich konnotierten symbolischen Strukturen der Kirche.
3. Künftige Aufgaben
F. T. muss den Einfluss von „Geschlecht“ auf die Lebenswirklichkeit in Religionen erforschen und die Theologisierung einer dualistischen Geschlechterstruktur kritisch analysieren. Angesichts des ausgeprägten Kulturalismus feministischer Theorien und der eher an den biologischen Grundlagen des Geschlechts orientierten kirchenamtlichen Aussagen steht eine Debatte um „Natur“ und „Kultur“ an, in der sowohl die Naturalisierung theologischer Aussagen als auch der Fehler vermieden werden, sozial Geprägtes für reversibel und biologisch Bedingtes für unveränderlich zu halten.
F. T. kann darüber hinaus zur Auseinandersetzung um das Verhältnis von Religion, Säkularität und Liberalität beitragen, indem sie die Vorstellung korrigiert, Gleichstellung sei nur durch die Bekämpfung der Religion zu erreichen.
Literatur
Deutscher Hochschulverband (Hg.): Gender, in: Forschung & Lehre 21/11 (2014), 880–897 • M. Jakobs: Gender in der Theologie, in: A. Fellner u. a. (Hg.): Gender überall!?, 2014, 119–143 • R. Ammicht Quinn u. a.: Gender in Theologie, Spiritualität und Praxis, in: Conc(D) 48/4 (2012), 362–460 • L. Scherzberg: Feministische Theologie, in: Theologien der Gegenwart, 2006, 67–101;
Empfohlene Zitierweise
L. Scherzberg: Feministische Theologie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Feministische_Theologie (abgerufen: 21.11.2024)