Integralismus

1. Zum Begriff

Als „integrale Katholiken“ bezeichneten sich bereits vor 1914 jene Kreise, die einen nicht exklusiv theologischen, sondern auch direkt gesellschaftlich wirksamen Antimodernismus vertraten. Der kuriale Antimodernist Umberto Benigni definierte die Anliegen so: „Wir sind integrale Römische Katholiken. Wie es dieser Begriff anzeigt, akzeptiert der integrale Römische Katholik vollständig (integral) die Lehre, die disziplinäre Ordnung und die Anweisungen des Heiligen Stuhles sowie alle ihre legitimen Konsequenzen für das Individuum und die Gesellschaft. Er ist ‚papal‘, ‚klerikal‘, antimodernistisch, antiliberal und antisektiererisch. Also ist er völlig (integral) konterrevolutionär, weil er nicht nur der Feind der jakobinischen Revolution und des sektiererischen Radikalismus ist, sondern auch des religiösen und sozialen Liberalismus“ (zit. nach Poulat 1969: 119). Auch in deutschsprachigen antimodernistischen Organen wie den Trierer „Petrusblättern“ oder „Klarheit und Wahrheit“ begegnet I. vor 1914 als Selbstbezeichnung. Die parallele negative Konnotation des Begriffs bei den Gegnern des I. wurde implizit durch die Antrittsenzyklika von Papst Benedikt XV. „Ad beatissimi apostolorum“ (1.11.1914) bestätigt. Der Papst verlangte von den Gläubigen, sich der Bezeichnungen und Attribute zu enthalten, mit denen (angeblich gute) Katholiken von (angeblich schlechten) Katholiken unterschieden würden.

2. Die integralistische Agenda unter Pius X.

Integralistischer Hauptakteur war der Kirchenhistoriker U. Benigni, seit 1902 in der Römischen Kurie tätig, die er 1911 wohl aufgrund von Spannungen mit Kardinalstaatssekretär Raffaele Kardinal Merry del Val verließ. U. Benigni genoss aber weiterhin die Gunst von Pius X., der ihn umgehend zum Apostolischen Protonotar ernannte. Es spricht für die (halbierte) „Modernität“ Pius X., dass er sich weiterhin des internationalen Presse- und Informationswesens bedienen wollte, das U. Benigni aufgebaut hatte. Dieses beruhte wesentlich auf dem 1909 begründeten Sodalitium Pianum, einer konspirativen Gruppe von maximal 50 europäischen Antimodernisten, die als „Cousins“ unter Decknamen miteinander korrespondierten. Das Sodalitium trug den Codenamen „La Sapinière“ (das Tannenwäldchen). Seine Arbeit hatte eine doppelte Richtung: Zum einen wurden gezielte Pressekampagnen gegen den „politischen und sozialen Modernismus“ in Europa gestartet, der für den I. ein Teilphänomen einer größeren liberal-jüdisch-freimaurerischen Verschwörung (Verschwörungstheorien) gegen die katholische Kirche darstellte. Neben geheimen Zirkularschreiben fungierte dabei U. Benignis eigenes Blatt, die „Correspondance de Rome“, als Leitorgan, das die angeschlossenen Blätter mit Informationen versorgte. Dieses Netzwerk umspannte die Organe „La Vigie“ (Frankreich), „Myśl Katolicka“ (Der Katholische Gedanke, Polen), die Trierer „Petrusblätter“, das „Österreichische katholische Sonntagsblatt“ und die Wochenschrift „Klarheit und Wahrheit“ des rechten Zentrumsabgeordneten Hans Georg Graf von Oppersdorff. Zum anderen sammelten die „Cousins“ Informationen bzw. Denunziationen, die U. Benigni an das Staatssekretariat sowie an Pius X. bzw. dessen Sekretär Gianbattista Bressan weitergab.

Ins Visier des Sodalitium gerieten insb. katholische Politiker und Gewerkschafter, die sich für eine von der Hierarchie relativ unabhängige, tendenziell interkonfessionelle christdemokratische Ausrichtung bemühten. Im Einzelnen waren dies die 1910 von Pius X. verbotene christdemokratische Bewegung Le Sillon des Laien Marc Sangnier in Frankreich, die Lega democratica nazionale des 1907 suspendierten und 1909 exkommunizierten Priesters Romolo Murri in Italien, die katholisch-soziale Bewegung in Polen, die österreichischen Christlich-Sozialen und die sogenannte „Kölner“ bzw. „Mönchengladbacher“ Richtung im deutschen Gewerkschafts- und Zentrumsstreit. Der nach dem Zentrumsblatt „Kölnische Volkszeitung“ bzw. nach dem Sitz des Volksvereins für das katholische Deutschland benannte sozialkatholische Flügel der deutschen Zentrumspartei (Zentrum) trat für die interkonfessionellen (gleichwohl mehrheitlich katholischen) Christlichen Gewerkschaften ein, während die „Berliner“ bzw. „Trierer“ Richtung (unterstützt vom zuständigen Breslauer Fürstbischof Georg Kardinal von Kopp und dem Trierer Bischof Michael Felix Korum) für die „Fachabteilungen“ in den strikt katholischen Arbeitervereinen (Christliche Arbeitnehmerorganisationen) optierte. Nach einer bes. heftigen Attacke auf „Gladbachismo“ bzw. den „Bachemismo“ (nach dem Herausgeber der „Kölnischen Volkszeitung“ Karl Josef Emil Bachem) in der „Correspondance de Rome“ vom 4.7.1911 erreichte der Münchener Nuntius Andreas Franz Kardinal Frühwirth OP, dass sich die Kurie öffentlich von U. Benigni distanzierte. R. Kardinal Merry del Val ließ verlauten, die „Correspondance“ besitze weder offiziösen noch halboffiziösen, sondern rein privaten Charakter. Auch in der Sache scheiterte U. Benigni am Widerstand der mehrheitlich „kölnisch“ gesonnenen deutschen Bischöfe: Die päpstliche Enzyklika „Singulari quadam“ vom 24.9.1912 favorisierte zwar eindeutig die Arbeitervereine, erlaubte dem deutschen Episkopat aber, das Engagement von Katholiken in den Christlichen Gewerkschaften zu dulden.

3. Nachwirkung des Integralismus

U. Benigni belieferte bis zum Tode Pius X. im August 1914 den Papst mit „Informationen“. Unter Benedikt XV. sank U. Benignis Stern rapide, die Konzilskongregation löste sein Sodalitium 1921 förmlich auf. Pius XI. erneuerte zwar den Kampf gegen den „sozialen Modernismus“, grenzte sich aber durch die Verurteilung der Action française (1926) deutlich vom integralistisch-rechtskatholischen Milieu ab. Dessen Gedankengut lebte – mit antisemitischem Einschlag und einer deutlichen Nähe zum Faschismus – allerdings in Organen wie der Schweizer „Schildwache“ (1912–1945) weiter und floss letztlich in die traditionalistische Bewegung der Gegenwart ein. Die erfolgreiche anti-integralistische Abwehr prägte hingegen den Mainstream des deutschen Katholizismus nachhaltig.