Internationaler Gerichtshof (IGH, International Court of Justice, ICJ)
Der IGH ist das „Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen“ (Art. 92 UN-Charta). Seine völkerrechtliche Grundlage ist das Statut, ein multilateraler Vertrag, der einen untrennbaren Bestandteil der UN-Charta bildet. Daher sind alle Mitgliedstaaten der UNO auch Vertragsparteien des Statuts (was aber noch nicht die Zuständigkeit des IGH zur Schlichtung von konkreten Streitfällen begründet; dazu unten). Aufgrund dieses Merkmals mag es berechtigt sein, den IGH als „Weltgerichtshof“ zu bezeichnen, um ihn von den immer zahlreicheren regionalen Gerichtshöfen zu unterscheiden; eine hierarchische Überordnung des IGH über andere internationale Gerichte und Schiedsgerichte (Schiedsgerichtsbarkeit) ergibt sich daraus jedoch nicht. Der IGH mit seiner Kanzlei (Registry) hat seinen Sitz im Friedenspalast in Den Haag.
1. Zuständigkeit (Gerichtsbarkeit)
Unmittelbar aufgrund der UN-Charta und seines Statuts ist der IGH nur zur Erstattung von Rechtsgutachten zuständig. In zwischenstaatlichen Streitfällen, die den Hauptgegenstand seiner Tätigkeit darstellen, kann der IGH dagegen nur aufgrund einer Unterwerfung beider Streitparteien, also nach Zustandekommen eines Konsenses über die Zuständigkeit tätig werden. Als Streitparteien kommen nur Staaten in Frage. Der Konsens der Streitparteien hat meistens die Form eines völkerrechtlichen Vertrags. Dies kann einmal ein Vertrag sein, dessen (alleiniger) Gegenstand eben (ggf. nach Erschöpfung vorangehender nichtgerichtlicher Verfahren) die Berufung des IGH zur Streitschlichtung bildet (wie z. B. das „Europäische Übereinkommen zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten“ vom 29.4.1957), oder ein für einen konkreten Fall vereinbarter Schiedsvergleich (Kompromiss); am häufigsten liegen der Zuständigkeit allerdings Schieds(-kompromissarische-)klauseln in völkerrechtlichen Verträgen über alle möglichen Sachgebiete zugrunde. Insgesamt sehen gegenwärtig etwa 350 völkerrechtliche Verträge eine IGH-Zuständigkeit vor. Eine Zuständigkeitsbegründung durch konkludente Handlungen (Prorogation) erfolgt sehr selten. Bes. Beachtung verdient dagegen die Unterwerfung durch einseitige Erklärungen beider Streitteile gemäß der Fakultativklausel in Art. 36 Abs. 2 des Statuts, die Gerichtsbarkeit des IGH in Zukunft für alle oder bestimmte Rechtsstreitigkeiten gegenüber jedem sich in gleicher Weise, also auf der Grundlage strikter Gegenseitigkeit, verpflichtenden Staat anzuerkennen. Solche Erklärungen können ohne Beschränkungen oder unter Vorbehalten abgegeben werden. Von der damit beschriebenen Möglichkeit der Unterwerfung durch opting in haben gegenwärtig etwas über 70 Staaten Gebrauch gemacht, darunter Deutschland, Österreich und die Schweiz. Sie war nach dem Ersten Weltkrieg für den Vorgänger des IGH in der Völkerbundzeit, den Ständigen Internationalen Gerichtshof, geschaffen worden und kann die umfassendste Zuständigkeit des Gerichts begründen. Ihr Erfolg blieb aber stets beschränkt, weil die Staaten soweit irgend möglich ausschließen wollen, sich in Zukunft gegen ihren Willen auf ein Gerichtsverfahren einlassen zu müssen. Unter einer „Rechtsstreitigkeit“ i. S. d. Statuts ist jedmögliche völkerrechtliche Frage zu verstehen. Damit ist der „Zugriff“ des IGH umrissen: er ist weltweit das einzige internationale Gericht, das jede beliebige Völkerrechtsfrage (vom Vorwurf des Völkermords bis zum Verlauf einer Seegrenze) entscheiden kann, also in diesem Sinn eine „universelle“ Zuständigkeit besitzt, dies aber ausnahmslos nur, wenn ein Konsens der streitenden Staaten darüber vorliegt, dass der IGH dazu berechtigt soll – wenig überraschend also, dass bereits über diese Frage in der Mehrzahl der Fälle erbittert gestritten wird.
2. Zusammensetzung
Der IGH besteht aus 15 unabhängigen Richtern, die je eine verschiedene Staatsangehörigkeit haben und die hauptsächlichen Rechtssysteme der Welt vertreten müssen. Sie werden durch die UN-Generalversammlung und den UN-Sicherheitsrat mit einfacher Stimmenmehrheit (kein Veto im Sicherheitsrat!) auf neun Jahre gewählt und sind wiederwählbar. Von den 15 Richtern rekrutierten sich bis 2018 drei aus Afrika, zwei aus Lateinamerika und der Karibik, drei aus Asien, fünf aus der Gruppe der westlichen und anderen Staaten und zwei aus Osteuropa. Damit spiegelte der IGH die Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrats wieder (dessen Ständige Mitglieder im Übrigen immer Staatsangehörige auf der Richterbank hatten). Die Richter genießen diplomatische Vorrechte, sind aber auch gewissen Regeln über die Unvereinbarkeit ihres Amtes mit anderen Tätigkeiten und den Ausschluss bei Befangenheit unterworfen. Der IGH übt seine Tätigkeit i. d. R. in Plenarsitzungen aus (Quorum: 9 Richter), doch kann er auch in Kammern tätig werden, von denen einige im Statut vorgesehen sind, andere von den Parteien eines Streitfalls ad hoc bestimmt werden können Ein schiedsrichterlicher Einschlag ist darin zu sehen, dass in einem Streitfall, an dem der Heimatstaat eines Richters beteiligt ist, dieser sich nicht aus dem Verfahren zurückzuziehen hat, sondern im Gegenteil dann, wenn sich in einem Fall nur ein oder kein Richter mit der Staatsangehörigkeit der Parteien auf der Richterbank findet, die nicht-„vertretenen“ Staaten Richter ihrer Wahl für den bewussten Fall bestimmen können (sogenannte Richter ad hoc). Die Arbeit des Gerichts wird durch die Gerichtskanzlei (Registry) unterstützt.
3. Verfahren
Hier muss zwischen Streitverfahren und Gutachtenverfahren unterschieden werden.
Das Streitverfahren beginnt mit einem schriftlichen Abschnitt, an den sich eine mündliche Verhandlung anschließt. Beweisaufnahmen werden im Wesentlichen durch Parteivorbringen gesteuert. Widerklagen sind zulässig. Die Beratung des Gerichts ist geheim und verläuft unter Beteiligung aller Richter; die Urteile werden mit Stimmenmehrheit gefällt, wobei vom Mehrheitsbeschluss abweichende Meinungen (dissenting opinions), abweichende Begründungen (separate opinions) oder sonstige Erklärungen abgegeben werden können. Sie werden gemeinsam mit den Urteilen veröffentlicht. Die Urteile sind endgültig (eine Revision ist nur sehr beschränkt möglich), aber nur für die Streitteile verbindlich (also formal kein Fallrecht [stare decisis] wie im Common Law). Bei Nichterfüllung eines Urteils kann der UN-Sicherheitsrat zur Hilfe bei der Durchsetzung angerufen werden. In der Praxis spielt dieser Weg jedoch wegen des politischen Charakters der Ratsaktivitäten keine Rolle, dennoch werden die meisten Urteile (oder zumindest Teile davon) freiwillig erfüllt. Auf alle Entscheidungen hat der IGH die in Art. 38 seines Statuts angeführten Quellen des Völkerrechts (Verträge, Völkergewohnheitsrecht, Allgemeine Rechtsgrundsätze) anzuwenden; Judikatur und wissenschaftliche Stimmen gelten nur als Hilfsmittel zur Feststellung der einschlägigen Rechtsnormen. Von der Möglichkeit zur einvernehmlichen Ermächtigung an das Gericht, Billigkeitsentscheidungen zu treffen, ist noch niemals Gebrauch gemacht worden Der IGH kann – verbindliche – vorsorgliche Maßnahmen treffen, seine Urteile auf Antrag einer Partei auslegen und Entscheidungen auch bei Nichtteilnahme der beklagten Partei fällen. Dritte Staaten können bei Vorliegen eines rechtlichen Interesses an der Entscheidung einem Verfahren beitreten.
Das Verfahren zur Erstattung von Rechtsgutachten (advisory opinions) soll soweit möglich nach den Bestimmungen des Statuts über Streitverfahren durchgeführt werden. Ein Gutachten kann über jede Rechtsfrage erstellt werden; es kann aber nur von der UN-Generalversammlung, dem Sicherheitsrat, anderen von der Generalversammlung dazu ermächtigten Organen der UNO oder deren Sonderorganisationen angefordert werden, nicht jedoch von Seiten eines oder mehrerer Staaten. Diese können im Gutachtenverfahren dann aber schriftliche oder mündliche Stellungnahmen abgegeben. Obwohl ihm für Rechtsfragen freies Ermessen eingeräumt ist, kann der IGH die Erstattung eines Gutachtens nur aus zwingenden Gründen verweigern, da er als Organ der UNO an deren Aktionen grundsätzlich mitzuwirken hat. Die politische Bedeutung oder Motivation einer Frage bildet kein Hindernis. De facto hat der IGH noch niemals die Erstattung eines Gutachtens abgelehnt.
Die Gutachten sind nicht rechtsverbindlich, genießen aber wegen der herausgehobenen Stellung des IGH große Autorität. Einzelne Verträge sehen jedoch die Anerkennung eines Rechtsgutachtens als verbindlich ausdrücklich vor.
4. Bewertung
Die Bilanz des Gerichts bietet ein überwiegend positives Bild. Bis Ende 2013 sind 129 Streitfälle vor den IGH gebracht worden; davon wurden 114 durch Urteil entschieden. An Rechtsgutachten hat der IGH im gleichen Zeitraum 27 erstellt. Insgesamt haben 86 Staaten als Parteien an den Verfahren teilgenommen. Seit Ende des Kalten Krieges hat der IGH deutlich an Akzeptanz gewonnen, v. a. bei Entwicklungsländern (sein getreuester „Kunde“ ist gegenwärtig Nicaragua). Neben vielen mehr technischen (z. B. maritimen Abgrenzungs-)Fragen hatte das Gericht auch einige politisch hochbrisante Streitigkeiten zu entscheiden, etwa über Völkermord im Balkankonflikt. Dasselbe gilt für die Gutachtenverfahren. V. a. in Streitigkeiten mit wissenschaftlich-technischem Bezug, wie etwa im internationalen Umweltrecht, bei Befassung mit Massenunrecht (wie in den Völkermordfällen) oder den Aktivitäten internationaler Organisationen, wirkt sich der sehr traditionelle Charakter des Statuts wie auch die Begrenztheit der dem IGH zur Verfügung stehenden Ressourcen hinderlich aus. Daneben muss sich der IGH auch gegenüber den regionalen wie überregionalen Gerichts- (oder gerichtsähnlichen) Systemen behaupten, deren Zuständigkeiten zwar nicht vergleichbar sachlich uneingeschränkt sein mögen, deren Zwangscharakter aber viel stärker ausgeprägt ist, man denke etwa an die Gerichtshöfe in Luxemburg oder Straßburg oder den Streitschlichtungsmechanismus der WTO.
Was dagegen die Entwicklung des Völkerrechts anbetrifft, so ist der Beitrag der IGH-Rechtsprechung nach wie vor von größter Bedeutung. Hier genießt der IGH trotz der Zunahme an Konkurrenten und des Fehlens einer formalen Hierarchie zwischen den völkerrechtlichen Gerichtsinstanzen nach wie vor und unangefochten den ersten Rang.
Literatur
M. N. Shaw: S. Rosenne’s Law and Practice of the International Court: 1920–2015, 52016 • R. Kolb: The International Court of Justice, 2013 • C. Tams/J. Sloan (Hg.): The Development of International Law by the International Court of Justice, 2013 • H. Thirlway: The Law and Practice of the International Court of Justice, 2013 • S. Rosenne: International Court of Justice (ICJ), in: MPEPIL, Bd. 3, 2012, 453–482 • A. Zimmermann u. a. (Hg.): The Statute of the International Court of Justice. A Commentary, 22012 • C. Schulte: Compliance with Decisions of the International Court of Justice, 2004.
Empfohlene Zitierweise
B. Simma: Internationaler Gerichtshof (IGH, International Court of Justice, ICJ), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Internationaler_Gerichtshof_(IGH,_International_Court_of_Justice,_ICJ) (abgerufen: 21.11.2024)