Notstand
1. Allgemeines
Mit dem Begriff „N.“ werden zwei sowohl in den Voraussetzungen als auch in der Wirkungsweise völlig unterschiedliche Gründe der Straflosigkeit bezeichnet. Der rechtfertigende N. beruht dabei auf dem Gedanken, wonach in einer Notlage u. U. ein weniger bedeutendes zugunsten eines höherwertigen Interesses aufgeopfert werden darf, während der entschuldigende N. eine bes. persönliche Zwangslage des Täters zum Gegenstand hat. Im RStGB wurde in den damaligen §§ 52, 54 RStGB nur der entschuldigende N. gesetzlich verankert. Das Bedürfnis, auf der Grundlage einer Güter- bzw. (nach heutigem Verständnis) Interessenabwägung (Abwägung) unter bestimmten Voraussetzungen einen Rechtfertigungsgrund zum Eingriff in fremde Rechtsgüter bereitzustellen, berücksichtigte der Gesetzgeber zunächst nur durch zwei Vorschriften im BGB, die in den von ihnen erfassten Fällen bis heute auch für die strafrechtliche Betrachtung maßgeblich sind: § 228 BGB erlaubt die Zerstörung oder Beschädigung fremder Sachen, um eine durch sie drohende Gefahr abzuwenden, soweit dies zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht. § 904 BGB erlaubt demgegenüber allg. eine Einwirkung auf fremde Sachen, wenn dies zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr erforderlich ist und der durch diese drohende gegenüber dem aus der Einwirkung auf die Sache entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß wäre. Jenseits dieser Sonderregelungen fand der rechtfertigende N. in den 1920er Jahren strafrechtliche Anerkennung als „übergesetzlicher N.“, und zwar – im Anschluss an entsprechende Forderungen im Schrifttum – durch Grundsatzentscheidungen des Reichsgerichts zum (heute in § 218a StGB gesetzlich geregelten) medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch (RGSt 61, 242 und RGSt 62, 137). Nur so ließ sich die Straflosigkeit der behandelnden Ärzte begründen, für die – im Gegensatz zur Schwangeren – entschuldigender N. mangels eigener persönlicher Gefährdung nicht in Betracht kam. Bei diesem Rechtszustand blieb es, bis der rechtfertigende N. im Zuge der Großen Strafrechtsreform mit Wirkung zum 1.1.1975 im heutigen § 34 StGB eine gesetzliche Regelung erfuhr. Damit wurde die Figur des „übergesetzlichen N.s“ für die Rechtfertigungsdogmatik obsolet. Zugleich wurden die alten Vorschriften über den entschuldigenden N. durch den heutigen § 35 StGB ersetzt.
2. Rechtfertigender Notstand
§ 34 StGB setzt zunächst voraus, dass die Tat erforderlich ist, um eine gegenwärtige Gefahr für ein (grundsätzlich beliebiges) Rechtsgut abzuwenden. „Gegenwärtig“ ist die Gefahr, wenn alsbald gehandelt werden muss, um einen drohenden Schadenseintritt noch zuverlässig verhindern zu können. „Erforderlich“ ist die N.s-Tat, wenn die Gefahr „nicht anders“, d. h. weder ohne noch durch weniger gravierende Eingriffe in fremde Rechtsgüter abgewendet werden kann. Als weitere und zentrale Voraussetzung einer Rechtfertigung verlangt das Gesetz, dass im Rahmen einer Interessenabwägung das durch die N.s-Tat geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Als maßgebliche Abwägungsfaktoren hebt das Gesetz das Rangverhältnis der betroffenen Rechtsgüter und den „Grad der ihnen drohenden Gefahren“ (bei dem sowohl die Höhe eines evtl. eintretenden Schadens als auch die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommen wird, zu berücksichtigen sind) bes. hervor. Darüber hinaus sind aber ggf. auch weitere Umstände zu berücksichtigen, die im Einzelfall für und gegen die Schutzwürdigkeit der widerstreitenden Interessen sprechen. Bes. Bedeutung kann dabei die Herkunft der Gefahr erlangen: Entstammt die Gefahr der Verantwortungssphäre desjenigen, gegen den sich die N.s-Handlung richtet (Defensiv-N.), so kann man diesem weitaus größere Einbußen an eigenen Rechtsgütern abverlangen, als das (im Aggressiv-N.) gegenüber einem Unbeteiligten der Fall ist. Eine eigenständige Regelung für den Defensiv-N. findet sich (ausschließlich) in § 228 BGB für Konstellationen, in denen die Gefahr von fremden Sachen (einschließlich Tieren) ausgeht. Dort sieht das Gesetz zugleich eine (in der Sozialbindung des Eigentums an gefährlichen Sachen begründete) bes. weitgehende Verschiebung der Interessenabwägung vor, nämlich in Form einer völligen Umkehr der für den Aggressiv-N. (d. h. in § 904 BGB und normalerweise auch im Rahmen von § 34 StGB) geltenden Maßstäbe. Bei der Interessenabwägung ist zu beachten, dass Tötungen (und darüber hinaus auch gravierende Körperverletzungen) selbst dann nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt werden können, wenn dies zur Rettung einer beliebigen Vielzahl anderer Menschen erforderlich wäre. Ausnahmen hiervon werden lediglich für bestimmte Konstellationen des Defensiv-N.s und für Fälle diskutiert, in denen der durch die N.s-Tat Getötete untrennbar mit der Gefahrenquelle verbunden ist und sein Tod deshalb ohnehin mit Sicherheit unmittelbar bevorsteht. Ob hier ausnahmsweise eine strafrechtliche N.s-Rechtfertigung in Betracht kommt, ist sehr umstritten; das BVerfG hat die Frage in der Entscheidung über das Luftsicherheitsgesetz (BVerfGE 115,118 [157]) offen gelassen. Soweit das durch die N.s-Handlung beeinträchtigte Interesse einer Abwägung zugänglich ist und diese ein „wesentliches Überwiegen“ des durch die Tat geschützten Interesses ergibt, setzt eine Rechtfertigung nach § 34 S. 2 StGB zusätzlich voraus, dass „die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden“. Dies ist insb. dann zu verneinen, wenn die Rechtsordnung zur Abwendung bestimmter Gefahren ein rechtlich geordnetes Verfahren vorsieht (bspw. Befreiung aus wirtschaftlicher Not nur durch rechtmäßige Inanspruchnahme von Sozialleistungen, aber niemals unter Berufung auf § 34 StGB durch Übergriffe auf fremdes Eigentum).
3. Entschuldigender Notstand
Der in § 35 StGB geregelte entschuldigende N. ist in seinen Voraussetzungen enger, was die privilegierten Rechtsgüter und den Kreis der in Betracht kommenden Personen betrifft: Hier werden nur gegenwärtige Gefahren für Leben, Gesundheit und Freiheit des Täters selbst, eines Angehörigen oder einer sonst nahestehenden Person erfasst. Liegt eine solche Gefahr vor, greift die Vorschrift im Gegensatz zu § 34 StGB aber unabhängig von Interessenabwägung und Angemessenheitsprüfung, sodass im Extremfall auch Tötungen Unbeteiligter straflos bleiben können. Die Wirkung beschränkt sich dabei jedoch auf eine Entschuldigung, d. h. anders als bei § 34 StGB bleibt die Tat rechtswidrig, weshalb gegen sie ein Notwehrrecht (Notwehr) besteht und solche Tatbeteiligte, die selbst nicht in der von § 35 StGB vorausgesetzten Zwangslage stehen, uneingeschränkt strafbar sind. Im Übrigen bleibt die Entschuldigung dem Täter versagt, wenn ihm aus besonderen Gründen zugemutet werden konnte, die Gefahr zu bestehen. Exemplarisch genannt sind hierfür in § 35 S. 2 StGB berufliche Gefahrtragungspflichten und die vorwerfbare Verursachung der Gefahr, darüber hinaus ist insb. an Fälle zu denken, in denen die Folgen der N.s-Handlung in Relation zur Gefahr grob unverhältnismäßig erscheinen.
Literatur
A. Streng-Baunemann: Strafrechtliche Grenzen der Rationierung medizinischer Leistungen, 2016 • W. Frisch: Notstandsregelungen als Ausdruck von Rechtsprinzipien, in: H.-U. Paeffgen u. a. (Hg.): FS für Ingeborg Puppe, 2011, 425–450 • H.-J. Hirsch: Defensiver Notstand gegenüber ohnehin Verlorenen, in: M. Hettinger u. a. (Hg.): FS für Wilfried Küper, 2007, 149–172 • M. Jahn: Das Strafrecht des Staatsnotstandes, 2004 • M. Pawlik: Der rechtfertigende Notstand, 2002 • J. Renzikowski: Notstand und Notwehr, 1994 • K. Bernsmann: „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989 • W. Küper: Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1989 • T. Lenckner: Der rechtfertigende Notstand, 1965.
Empfohlene Zitierweise
V. Erb: Notstand, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Notstand (abgerufen: 21.11.2024)