Staatslexikon
I. Erste bis vierte Auflage
Abschnitt drucken1. Gründung und Programm
Schon ein Jahr nach ihrer Gründung nahm die Görres-Gesellschaft auf der Generalversammlung in Münster 1877 das Großprojekt eines von ihr herausgegebenen S.s in Angriff. Sie wollte ein Gegengewicht zur Vorherrschaft der „liberalen Schule“ in Jurisprudenz und öffentlichem Leben schaffen sowie Position im kirchenpolitischen Konflikt beziehen, der v. a. mit staatsrechtlichen Argumenten bestritten wurde. Der Kölner Zentrumsabgeordnete und Rechtsanwalt Julius Bachem führte die Haltung der tonangebenden liberalen Staatslexika (das „S.“ von Carl von Rotteck und Carl Theodor Welcker [1834–1849], das „Deutsche Staats-Wörterbuch“ von Johann Caspar Bluntschli und Karl Brater [1857–1870]) auf den überzogenen Staatsbegriff der idealistischen Philosophie (Idealismus) bes. Georg Wilhelm Friedrich Hegels zurück. Der „moderne Staat“ erscheine hier als Selbstzweck, allkompetenter Organisator menschlicher Kultur auf nationaler oder Welt-Ebene, als abstrakte und kollektive Persönlichkeit, die sich die gesellschaftlichen Kräfte unterordne und dienstbar mache. Das aufgrund der Vorarbeiten des Kirchenhistorikers Dr. Alfons Bellesheim erstellte, auf der Generalversammlung von 1878 redigierte Programm wollte den „modernen Irrthümern im Staats- und Kirchenrecht, in Naturrecht, Politik und Gesellschafts-Wissenschaft“ entgegentreten und „das Hauptgewicht auf die Erörterung der fundamentalen Begriffe von Religion und Moral, Recht und Gesetz, natürlichem und positiven Recht, von Staat und Kirche, Familie und Eigenthum“ legen. Das Recht war „auf seinen ewigen Urgrund, den Schöpfer selbst“ zurückzuführen, aus ihm die Verbindlichkeit der positiven Gesetzgebung und staatlichen Ordnung sowie die zweckhafte Entfaltung des menschlichen Gemeinschaftslebens letztlich abzuleiten. Die Artikel sollten bei „strenger Wahrung des katholischen Standpunktes“ den „Anforderungen der heutigen Wissenschaft“ entsprechen und „auf die besonderen Bedürfnisse der modernen Verhältnisse“ eingehen (Görres-Gesellschaft 1879: 20). Das Werk sollte mehr systematisch als historisch-biographisch angelegt sein. Das „Systematische Programm“ (24 S.) des Werkes, geplant waren zunächst drei Bände mit je 800 Seiten und 452 Stichworten, entwarf Georg von Hertling, Privatdozent und Professor (seit 1880) der Philosophie in Bonn: Der Staat war weder als Notbehelf abzuwerten noch als Selbstzweck überzubetonen, sondern „im Zusammenhange mit der sittlichen Ordnung begründet“. Neben dem Staat standen die „Lebenskreise“ der Gesellschaft. Sie sollten die Rechtsgrundsätze achten; dagegen sollte der Staat ihr inneres Recht anerkennen, aber auch in ihre Interessen und Bedürfnisse leitend und ausgleichend eingreifen. Die Innovationen des S.s bestanden in einer alternativen Grundlagenreflexion über den Staat, in einer verbindlich aufgefassten Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft (Staat und Gesellschaft), in der (von den liberalen Staatslexika vernachlässigten) Beachtung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche (Kirche und Staat) sowie in der Sozialpolitik. Die acht Abschnitte des Systematischen Programms führten diese mehrmals auf, u. a. unter den Stichworten Sozialpolitik, Sozialismus, Arbeitergesetzgebung, Armenpflege, Eigentum, Kapitalismus, Gesellschaft.
2. Mitarbeiter und Verlag
G. von Hertling versandte am 1.1.1881 an mehr als 170 Adressen das Angebot zur Mitarbeit. Die beigefügten „Grundsätze für die Bearbeitung des Staatslexikons“ offerierten ein Honorar von 60 Mark pro Oktavbogen. Die Hoffnung, unter den dünn gesäten katholischen Universitätsprofessoren, Juristen, Staatswissenschaftlern und Philologen die vielen notwendigen Autoren zu finden, grenzte an Verwegenheit. Drei eingeführte katholische Zeitschriften, die „Historisch-politischen Blätter“ in München, „Das Vaterland“ in Wien und die „Christlich-socialen Blätter“ in Aachen, versagten ihre Mitarbeit aus Arbeitsüberlastung oder weil sie einer Redaktion mit ungewissen Zukunftschancen misstrauten. Das katholische Milieu stellte schließlich doch genug Mitarbeiter. Sie kamen meist von den theologischen Fakultäten oder Seminaren in Münster, München, Innsbruck, Mainz, Köln, Fulda, Regensburg, Eichstätt und Braunsberg, ergänzt um die Exil-Jesuiten in den Niederlanden, freiberuflich tätige Rechtsanwälte, Redakteure und Parlamentarier der Zentrumspartei (u. a. J. und Carl Bachem, Peter Spahn, Franz Hitze, Carl Adolph von Hoyningen Huene, Präsident der preußischen Zentralgenossenschaftskasse). G. von Hertling trat bewusst an junge Gelehrte heran: die Historiker Dr. Hermann Grauert, Dr. Victor Gramich und den Nationalökonomen Dr. Adolf Bruder. Wissenschaftlich interessierte und ausgewiesene junge Geistliche stellten sich trotz der nach dem Kulturkampf gewachsenen Anforderungen an die Seelsorge zur Verfügung. Unentbehrlich war der Rückgriff auf Mitarbeiter aus Süddeutschland, Österreich und der Schweiz, doch ein rheinisch-schlesisch-norddeutsches Kontingent sorgte für Ausgleich. G. von Hertlings „Systematisches Programm“ fand allgemeine Anerkennung, konzeptionelle Kontroversen blieben aus. Mit Zustimmung des Verwaltungsausschusses vereinbarten G. von Hertling und der Herder-Verlag die Herausgabe der ersten Auflage des S.s und „aller etwa nothwendig werdenden folgenden Auflagen“ durch Herder sowie eine Auflage von 2 500 Stück (Vertrag vom 12.5.1887).
3. Professionalisierung bis zur dritten/vierten Auflage
Dr. A. Bruder, Bibliothekskustos an der Universität Innsbruck, übernahm unter Aufsicht G. von Hertlings die Redaktion. Er achtete peinlich genau auf Vereinheitlichung der Zitierweise, positives Material, zeitnahe Belege, Statistiken und lieferte selbst ausführliche Artikel. Als er 1886 plötzlich und unerwartet starb, führte J. Bachem die Redaktion der ersten Auflage (1889–97) zügig zu Ende. Die jahrzehntelange Verzögerung rührte von dem Mangel und der Säumigkeit der Beiträger her, während die Auflage wegen der Stofffülle auf fünf Bände anwuchs. 1899 wurde J. Bachem mit der Durchführung der zweiten Auflage betraut und erhielt von G. von Hertling freie Hand für die Auswahl der Mitarbeiter. J. Bachems im Vorwort des ersten Bands bekannt gegebene Richtlinie für die zweite Auflage (1901–04) sah vor, bei Schilderung der „neuzeitlichen staatlichen Verhältnisse“ (Bachmann 1990: iv) die Bedürfnisse der Gegenwart stärker zu berücksichtigen sowie zwischen feststehender Kirchenlehre und mehr oder weniger verbindlichen Schulmeinungen zu unterscheiden. Für die mehr staats- als kirchenrechtliche Orientierung der Neuauflage gaben ihm die Staats- und sozialwissenschaftliche Sektion der Görres-Gesellschaft und der Präsident G. von Hertling Rückendeckung. J. Bachem ersetzte v. a. jene Artikel, in denen Autoren aus dem Jesuitenorden die Gegenwartsprobleme mit „mittelalterlichen Staatstheorien“ (zitiert nach Becker 2019: 393) zu bewältigen suchten. G. von Hertling steuerte selbst den Artikel „Staat“ bei; den in der früheren Auflage der Moraltheologe Viktor Cathrein SJ verfasst hatte. Die Zentrumsfraktion (Zentrum) im Reichstag hielt freilich an ihrer Forderung nach gänzlicher Aufhebung des Jesuitengesetzes und völliger Wiederherstellung des Rede- und Publikationsrechts des Ordens unbeirrt fest. J. Bachem setzte seinen Kurs in der dritten Auflage unter Beiziehung des Herder-Angestellten Dr. Hermann Sacher fort. Er fand nun eine ausreichende Anzahl angesehener Autoren, auch aus dem Nachwuchs der Görres-Gesellschaft (u. a. den Philosophen Clemens Baeumker und den Historiker Gustav Schnürer). Drei Frauen, die öffentlich für Frauenrechte und Sozialpolitik eintraten, lieferten Beiträge (Elisabeth Gnauck-Kühne, Hedwig Dransfeld, Dr. Fanny Immle). Wegen der großen Nachfrage nach den ersten drei Bänden der dritten Auflage (1908–10) erschienen diese nochmals 1911 unverändert als vierte Auflage mit 3 000 Exemplaren. Der vierte und fünfte, bis zur Gegenwart fortgeführte Band (mit ebenfalls 3 000 Stück) wurden 1911 und 1912 als dritte, neu bearbeitete, und vierte Auflage gedruckt. Mit repräsentativem Einband versehen, wurden Exemplare des S.s dem Papst, dem Reichskanzler sowie den Bischöfen von Köln und Breslau zugestellt. Das gute Echo auf die dritte/vierte Auflage aus dem nicht-katholischen Lager gab J. Bachems Strategie recht, wenngleich der Verlag Herder sich für den Absatz des Werkes weiterhin bes. auf die katholischen Käuferkreise angewiesen sah. Das S. leistete einen bedeutsamen Beitrag zum Aufbau kultureller Identität, indem es sich der drohenden Uniformität deutscher Nationalkultur im Kaiserreich auf konstruktive Weise widersetzte.
Literatur
W. Becker: Ein Spiegel der Kulturgeschichte. Das Staatslexikon, in: HJb 139 (2019), 375–409 • Ders.: „Ein kleines Feuer am Fuße des Jettenbühels“. Die Anfänge des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 2012/106, 2012, 107–142 • H.-J. Becker: Der Staat im Spiegel der Staatslexika. Ein Vergleich des Evangelischen Staatslexikons und des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft, in: HJb 121 (2001), 367–399 • Görres-Gesellschaft (Hg.): Staatslexikon, Bd. 1–5, 3/41908–12 • Dies. (Hg.): Staatslexikon, Bd. 1–5, 21901–04 • Dies. (Hg.): Staatslexikon, Bd. 1–5, 1889–97 • Dies.: Jahresberichte 1877–1913, 1878–1914.
Empfohlene Zitierweise
W. Becker: Staatslexikon, I. Erste bis vierte Auflage, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staatslexikon (abgerufen: 21.11.2024)
II. Fünfte bis siebte Auflage
Abschnitt drucken1. Fünfte Auflage 1926–32
Bereits zwei Jahre nach Erscheinen von Band 5 der dritten/vierten Auflage begann Hermann Sacher mit Vorarbeiten für eine neue Auflage. Er schlug 1920 der Görres-Gesellschaft sein Konzept eines „von Grund auf neuen Werkes“ vor. Es würde mit den früheren Auflagen „nur das im Vorwort der ersten Auflage“ von Georg von Hertling formulierte „katholische Programm gemeinsam“ haben. Es gehe um die „Erfassung der Zeitaufgaben“. Aus dem „Studienbuch“ müsse ein „praktisches Nachschlagewerk auf gelehrter Grundlage“ werden. 1921 bestätigte die Görres-Gesellschaft H. Sacher als Herausgeber der fünften, von Grund aus neubearbeiteten Auflage. Nach seinem Programm von 1922 sollte das „neue S.“ ein „geistiger Leuchtturm der Gegenwart und der voraussichtlichen Zukunft“ werden. 1926–32 erschienen fünf Bände mit 2 500 Beiträgen. Sie enthielten ein Verzeichnis der 747 Mitarbeiter. Ihre Artikel wurden honoriert.
Das Werk bot einen Überblick über die neue parlamentarische Demokratie, die „man ziemlich genau nicht gewollt“ hatte (Krings 1989: 769), ihre Institutionen und Parteien, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme sowie über aktuelle Fragen, auch der europäischen wie der Weltpolitik. Zur „vorsichtigen Annäherung an die Republik von Weimar“ diente v. a. die breite Darstellung der katholischen Soziallehren (Bauer 1964: 89). Die fünfte Auflage belegte die Rückkehr des Katholizismus aus dem Exil der Kulturkampfzeit (Kulturkampf) und die Überwindung der Polemik gegen den Liberalismus. Sie suchte Spannungen innerhalb des Katholizismus über die Grundlage der WRV (Volkssouveränität) auszugleichen und die Republik zu legitimieren.
Um 1933 eine Beschlagnahme des S.s zu verhindern, lieferten H. Sacher und Emil Ritter für die Artikel „Nationalsozialismus“, von Franz Schweyer in Band 3 (1929) und von E. Ritter in Band 5, zeitgemäße Nachträge. Präsident Heinrich Finke musste sich bei Adolf Hitler entschuldigen. Das S. verschwand 1936 in den „Giftschränken“ der Bibliotheken (wo es in der DDR verblieb). 1937 wurde die Auslieferung verboten.
2. Sechste Auflage 1957–68
Die 1948 wieder begründete Görres-Gesellschaft vereinbarte 1953 mit dem Herder-Verlag eine sechste, erneut völlig neubearbeitete Auflage. Das Herausgeber-Gremium (Friedrich August Freiherr von der Heydte, J. Heinz Müller, Max Müller, Helmut Ridder), das Clemens Bauer leitete, betreute, mit einer Redaktion im Verlag (Walter Dadek), die 1957–68 erschienenen acht Bände. Der Untertitel „Recht – Wirtschaft – Gesellschaft“ umschrieb die inhaltliche Öffnung, die – so Präsident Hans Peters –, „die Tradition der früheren Auflagen“ fortsetzte, sich aber in eine „Enzyklopädie der Sozialwissenschaften“ ausweitete (Bauer 1964: 91). „Nachträge“ in Band 8 galten den 21 „neuen Staaten in Afrika“. Die 279 Biographien machten ca. 19 % des Gesamtanteils aus. Die meisten Mitarbeiter waren Protestanten.
3. Ergänzungsbände der sechsten Auflage 1969/70
Die Redaktion der 1969/70 erschienenen drei Ergänzungsbände leitete Präsident Paul Mikat. Aus ihr schieden C. Bauer und F. A. von der Heydte, an dessen Stelle Ulrich Hommes trat, aus, dann H. Ridder. Er hatte, politisch nach links gerückt, gleichgesinnte Mitarbeiter gewonnen. Infolge der Auswirkungen der 1968er Revolution konnten sich Herausgaber und Redaktion, so im Vorwort, mit „vielen“ Beiträgen („einseitige Sichten“) (Mikat 1969) nicht mehr identifizieren. So erschien der Artikel „Demokratie“ erst am Schluss von Band 3. Die Ergänzungsbände enthielten 34 Biographien. Von der sechsten Auflage wurden mehr als 12 000 Exemplare verkauft.
4. Siebte Auflage 1985–93
Ab 1976 erarbeitete unter Vorsitz von Hermann Krings eine Redaktion (Karl Forster, nach dessen Tod Walter Kasper, Alexander Hollerbach, Hans Maier, P. Mikat, Rudolf Morsey und J. H. Müller) die „Grundorientierung“ einer wiederum völlig neu bearbeiteten siebten Auflage. Sie erschien, ab 1980 vorbereitet mit einer Verlagsredaktion (Günter Böingh), 1985–89 in fünf Bänden mit einer Auflage von 6 000. In Band 6 und 7 (1992/93) wurden „Die Staaten der Welt“ behandelt, eingeleitet von zehn Beiträgen „Globale Perspektiven“.
Auch die siebte Auflage war ein Spiegel des weltgeschichtlichen Umbruchs von 1945, des Wandels in Staat und Gesellschaft wie des Wandels des Katholizismus in seinen Einstellungen zur Welt. Ausführlich behandelt wurden die Entwicklung in der BRD und die ihrer elf Länder und West-Berlins sowie, bis 1990, die in der DDR, ab Band 6 nach dem Stand der Wiedervereinigung Deutschlands. Diese Auflage enthielt 1941 Artikel von 839 Verfassern, darunter 237 Biographien. 1995 erschien eine Sonderausgabe.
Literatur
R. Morsey: Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Streiflichter ihrer Geschichte, 2009 • A. Frenken: Die Görres-Gesellschaft im Dritten Reich, in: H. Lehmann u. a. (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1, 2004, 371–415 • H.-J. Becker: Der Staat im Spiegel des Staatslexikons, in: HJb 121 (2001), 367–399 • H. Krings: Das Staatslexikon und der Staat, in: D. Schwab u. a. (Hg.): Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, 1989, 759–774 • H. Maier: Das „Staatslexikon“ als Spiegel des katholischen Rechtsdenkens, in: ders.: Katholizismus und Demokratie, 1983, 89–106 • P. Mikat: Vorwort, in: StL, Bd. 9 (Erster Ergänzungsband), 61969 • C. Bauer: Das Staatslexikon. Zur Vollendung der 6. Auflage, in: ders.: Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, 1964, 54–92.
Empfohlene Zitierweise
R. Morsey: Staatslexikon, II. Fünfte bis siebte Auflage, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staatslexikon (abgerufen: 21.11.2024)