Virtuelle Realität
Der Begriff V. R. beschreibt die menschliche Wahrnehmung einer mit Hilfe von Technologie erzeugten und dargestellten scheinbaren Realität. In der Science-Fiction-Literatur wurde ein System, das V.r R. entspricht, erstmals 1964 von Daniel Francis Goulouye in seinem Roman „Simulacron-3“ beschrieben. Dieser Roman bildete die Grundlage für den von Rainer Werner Fassbinder im Jahr 1973 produzierten Fernsehfilm „Welt am Draht“. Der von den Schwestern Lana und Lilly Wachowski produzierte Film „The Matrix“ aus dem Jahr 1999 greift ebenfalls die Ideen aus „Simulacron-3“ auf, genauso wie der Film „13th Floor“ von Roland Emmerich.
Die erstmalige Verwendung des Begriffs „V. R.“ wird dem Informatik-Pionier Jaron Lanier zugeschrieben, der ab Mitte der achtziger Jahre des letzten Jh. die Entwicklung von V.r R. wesentlich vorantrieb und u. a. den Datenhandschuh und erste technische V. R.s-Systeme entwickelte. Neben V.r R. werden auch Begriffe wie Virtuelle Umgebung oder Cyberspace verwendet, um solche Systeme zu charakterisieren. Die Bezeichnung V. R. hat sich weitgehend etabliert. V. R. beschreibt die Schnittstelle zwischen den im Cyberspace verfügbaren Daten und den menschlichen Benutzern. Der Begriff Cyberspace beschreibt die Daten und Systeme selbst.
Auf Paul Milgram und Fumio Kishino geht der Begriff des „Realitäts-Virtualitäts-Kontinuums“ (Milgram u. a. 1994) zurück, das in Abb. 1 dargestellt ist. Damit wird der stufenlose Übergang zwischen den Antipoden physikalische Realität und V. R. beschrieben. Werden nur kleinere Anteile der Realität durch künstliche Reize ersetzt, wird dies als erweiterte Realität, engl. Augmented Reality oder abgekürzt AR, bezeichnet. Wird nur noch ein sehr kleiner Teil der physikalischen Realität wahrgenommen, spricht man von erweiterter Virtualität, engl. Augmented Virtuality. Der Begriff der erweiterten Virtualität wird heute nicht mehr verwendet. Die Autoren beschreiben das komplette Spektrum des Kontinuums als „gemischte Realität“ (engl. Mixed Reality).
Abb. 1: Das Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum nach P. Milgram und F. Kishino
Von V.n R.s-Systemen werden Fortschritte für die einfache und intuitive Benutzung von Software-Systemen erwartet, denn bei entspr. gestalteten Systemen interagieren die Benutzer nicht mit Tastatur und Maus, sondern mit Abbildern der physikalischen Welt. Dadurch verspricht man sich die intuitive Benutzung von Software-Systemen ohne vorheriges Training.
1. Realisierung von Virtueller Realität
Ein V.s R.s-System erzeugt Sinnesreize für die menschlichen Benutzer, die eine möglichst hohe Immersion hervorrufen sollen. Die Benutzer akzeptieren die künstlich hervorgerufenen Stimuli als real und können mit der dargestellten Umgebung interagieren. Ziel ist es, bei den Benutzern die Wahrnehmung einer Präsenz in der künstlich geschaffenen Umgebung hervorzurufen, die virtuelle Umgebung wird mental als real akzeptiert. Die Immersion und Präsenz werden durch die technische Verfolgung der Position und Orientierung der Benutzer und von Handsteuergeräten hervorgerufen. Diese Signale werden in Echtzeit auf entsprechende Darstellungen für die verwendeten Stimuli umgewandelt.
In der Theorie regt ein V.s R.s-System alle menschlichen Sinne mit Signalen an, von der visuellen und auditiven Wahrnehmung bis hin zur Propriozeption (Körperwahrnehmung im Raum), Thermozeption (Temperaturwahrnehmung) und Nozizeption (Schmerzwahrnehmung). In der Praxis werden hauptsächlich visuelle und auditive Signale eingesetzt. Taktile und haptische Informationen finden zunehmend Verwendung. Es darf bezweifelt werden, ob es jemals eine technische Realisierung von Systemen geben wird, die die gustatorische Wahrnehmung (Geschmacksempfinden) oder die Schmerzempfindung einsetzen. Selbst wenn dies zukünftig technisch möglich sein sollte, fällt es schwer, eine sinnvolle Anwendung dafür zu beschreiben.
2. Technische Realisierung
Sehr lange wurde V. R. v. a. mit Hilfe des Cave Automatic Virtual Environment realisiert. Das erste derartige System wurde 1992 an der University of Illinois in Chicago aufgebaut. Dazu wurden Projektoren, Rückprojektionsleinwände und Positionsverfolgung und sehr leistungsfähige Grafik-Rechner eingesetzt.
Durch die Fortschritte in der Herstellung von Sensoren und Aktoren werden heute häufig Datenbrillen, sogenannte Head-Mounted-Displays, verwendet. Diese Geräte verwenden kleine, in Brillen verbaute Bildschirme und Kopfhörer für die visuellen und auditiven Signale. Die Datenbrillen können sowohl mit leistungsfähigen Rechnern, aber auch mit mobilen Endgeräten eingesetzt werden. Dabei werden die Bildschirme der mobilen Endgeräte verwendet, so dass sehr kostengünstige Lösungen realisiert werden können, die allerdings in der Qualität der Darstellung hinter dem technisch Möglichen zurückbleiben.
3. Ausblick
Die Automobil- und Luftfahrt-Industrie setzt bereits längere Zeit V. R. produktiv in Bereichen wie Prototypenbau oder Fertigungsplanung ein. Bedingt durch die Marktdurchdringung mit mobilen Endgeräten und dem ständigen Preisverfall wird der professionelle Einsatz von V.r R. und der erweiterten Realität in der Industrie bis hin zu den Endverbrauchern deutlich ansteigen. Dabei werden überwiegend mobile Endgeräte wie Smartphones oder Tablet-Rechner eingesetzt werden.
Die Unterhaltungsindustrie, insb. die Hersteller von Computer-Spielen, versuchen V. R. in diesem Bereich zu etablieren. Es darf bezweifelt werden, ob dies von großem Erfolg gekrönt sein wird. Die heutigen großen Stückzahlen werden die Kosten für den Aufbau eines V.n R.s-Systems künftig deutlich senken, so dass die ernsthafte Verwendung von V.r R. und von erweiterter Realität in vielen Bereichen der Wirtschaft und der Kultur zunehmen dürfte.
Literatur
W. Sherman/A. Craig: Understanding Virtual Reality, 2019 • R. Dörner u. a.: Virtual und Augmented Reality (VR/AR), 2013 • M. Brill: Virtuelle Realität, 2009 • P. Milgram/F. Kishino: A Taxonomy of Mixed Reality Visual Displays, in: IEICE Transactions on Information and Systems E77-D (1994), 1321–1329 • Paul Milgram u. a.: Augmented Reality: A Class of Displays on the Reality-Virtuality Continuum, in: SPIE, 2351. Bd., (1994), 282–292 • C. Cruz-Neira u. a.: The CAVE: Audio Visual Experience Automatic Virtual Environment, in: CACM, 35/6, (1992), 64–72 • H. Rheingold: Virtual Reality, 1991 • J. Lanier u. a.: Virtual Environments and Interactivity: Windows to the Future, in: Computer Graphics, 23/5, (1989), 7–18 • M. Krueger: Artificial Reality, 1983 • I. Sutherland: The Ultimate Display, in: Proceedings of the IFIP Congress, (1965), 506–508 • D. Goulouye: Simulacron-3, 1964.
Empfohlene Zitierweise
M. Brill: Virtuelle Realität, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Virtuelle_Realit%C3%A4t (abgerufen: 21.11.2024)