Volksdemokratie
Hierbei handelt es sich um einen tautologisch geprägten Begriff, mit dem die Staaten des Ostblocks die erste Etappe der eigenen Entwicklung nach 1944/45 charakterisierten. In dieser Selbstbeschreibung galt der Begriff der V. als „Form der Diktatur des Proletariats“, nämlich als eine „revolutionär-demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern unter Führung der Arbeiterklasse“ (o. V. 1973: 1128). Diese nachträgliche Zuschreibung definierte den ab 1944/45 einsetzenden Prozess der Sowjetisierung Osteuropas als Zwei-Phasen-Entwicklung. In der V. als der ersten Phase habe eine „demokratische Umwälzung“ stattgefunden, in der antifaschistische, antifeudale und antikapitalistische Maßnahmen auf der Basis eines größeren politischen Bündnisses, aber unter „Führung der Arbeiterklasse“, verwirklicht worden seien. In einer zweiten Phase, die direkt in die Diktatur des Proletariats (Diktatur des Proletariats) führte, habe eine „sozialistische Revolution“ die Grundlagen der „sozialistischen Gesellschaftsordnung“ (o. V. 1973: 1128 f.) geschaffen. Der Begriff der V. camouflierte demnach die frühe gesellschaftspolitische Transformation, die maßgeblich geprägt war von der Anwesenheit sowjetischer Truppen, entsprechenden Moskauer Planungen und Interaktionen mit den teils aus Moskau kommenden Führungsgruppen der nationalen kommunistischen Parteien. Vor dem Hintergrund der alliierten Mächtekonstellation sah sich die sowjetische Führung veranlasst, ihr Vorgehen elastischer zu gestalten als noch im eigenen Land nach 1917. Dies galt in besonderer Weise für die SBZ. Aus diesem Grund knüpfte sie an Konzeptionen an, die bereits in den 1920er Jahren („Arbeiterregierung“) und in den 1930er Jahren („Volksfront“) entwickelt worden waren. Noch im Moskauer Exil formulierten Spitzenkader der nationalen KP Konzepte, die Mehrparteiensysteme unter Führung der KP und im Rahmen einer National- bzw. Volksfront vorsahen. 1944 entwarf etwa die KPD ein „Aktionsprogramm des Blocks der kämpferischen Demokratie“, das ab Sommer 1945 Gestalt annahm. So gründete die KPD in der SBZ einen „Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien“, in den alle anderen Parteien eintreten mussten und in dem die KPD – dank des Einstimmigkeitsprinzips und der Anwesenheit der sowjetischen Besatzungsmacht – selbst die Führung innehatte. Ein freies Spiel der politischen Kräfte wurde so von Anfang an verhindert. Die Anwesenheit sowjetischer Truppen sicherte den Kadern der nationalen KP auch durchweg die Übernahme von Schlüsselpositionen in den staatlichen Verwaltungen, v. a. in den Bereichen des Inneren, der Verteidigung und der Wirtschaft. Dadurch konnte mit Bodenreformen, Enteignungen der privaten Unternehmensstruktur und der Etablierung von ersten Elementen der Wirtschaftsplanung (Zentralverwaltungswirtschaft) die schrittweise Transformation der Gesellschaft vorangetrieben werden, die dann als „reale“ oder „wirkliche“ Demokratie firmierte. Konkurrierende sozialdemokratische Arbeiterparteien wurden früher (1946) oder später (1948) mit Druck, Zwang und Zugeständnissen von den KP vereinnahmt und so politisch ausgeschaltet. Wahlen wurden manipuliert, „korrigiert“ oder gleich als Einheitslistenwahlen angesetzt. Der heraufziehende Kalte Krieg legitimierte den verschärften Umbau der osteuropäischen Gesellschaften. Die Sowjetisierung wurde jetzt mit offener Gewalt (wie etwa in der Tschechoslowakei im Februar 1948) durchgesetzt. Dem bulgarischen Staatschef Georgi Dimitroff, vormals Vorsitzender der Kommunistischen Internationale, blieb es vorbehalten, auf dem Parteikongress der bulgarischen KP im Dezember 1948 Begriff und Inhalt der V. erstmals näher zu bestimmen: Er definierte den „volksdemokratischen Staat“ als „Staat der Übergangsperiode“, als „Herrschaft der Werktätigen unter Führung der Arbeiterklasse“, der berufen sei, die „Entwicklung auf dem Weg zum Sozialismus zu sichern“ und selbst erst „geschaffen“ werde in „Zusammenarbeit und Freundschaft mit der Sowjetunion“ und letztlich auch zum „demokratischen, antiimperialistischen Lager“ (Dimitroff 1958: 597 f.) gehöre. Damit hatte G. Dimitroff – und trotz aller Camouflage – die bereits Ende 1947 entwickelte „Zwei-Lager-Theorie“ ideologisch ausformuliert.
Literatur
A. Applebaum: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956, 2013 • N. Naimark/L. Gibianski (Hg.): The Establishement of Communist Regimes in Eastern Europe 1944–1949, 1997 • P. Erler/H. Laude/M. Wilke (Hg.): „Nach Hitler kommen wir“. Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, 1994 • H. Heiter: Vom friedlichen Weg zum Sozialismus zur Diktatur des Proletariats. Wandlungen der sowjetischen Konzeption der Volksdemokratie 1945–1949, 1977 • W. Diepenthal: Drei Volksdemokratien. Ein Konzept kommunistischer Machtstabilisierung und seine Verwirklichung in Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1944–1948, 1974 • o. V.: Volksdemokratie, in: G. Schüßler (Hg.): Wörterbuch zum sozialistischen Staat, 1974, 389 • o. V.: Volksdemokratie: in: G. König/G. Schütz/K. Zeisler (Hg): Kleines Politisches Wörterbuch, 21973, 1128 f. • F. Fejtö: Die Geschichte der Volksdemokratien, 2 Bde., 1972 • G. Dimitroff: Politischer Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der Bulgarischen Arbeiterpartei (Kommunisten) an den V. Parteitag (19. Dezember 1948), in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, 1958, 525–652.
Empfohlene Zitierweise
M. Schmeitzner: Volksdemokratie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Volksdemokratie (abgerufen: 21.11.2024)