Hinduismus: Unterschied zwischen den Versionen
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− | A. Michaels: Hinduismus, Version | + | A. Michaels: Hinduismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Hinduismus}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}}) |
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:08 Uhr
H. (von Persisch hindu/Sanskrit sindhu, „ein am Indus-Fluss Lebender“, ursprünglich nur ein geographischer Begriff), ist ein um 1830 in die englische Sprache (hindooism) eingeführter Begriff für diejenigen religiösen Gemeinschaften und Glaubenslehren, die
a) v. a. in Indien und Nepal verbreitet sind;
b) deren Gesellschaft durch bes. Abstammungs- und Heiratsvorschriften sowie Reinheits- und Kommensalitätsregeln geprägt ist;
c) bei denen vedisch-brahmanische Anschauungen, Werte und Rituale vorherrschen;
d) die mindestens eine Erscheinungsform von Shiva, Vishnu, Devī, Rāma, Krishna bzw. Ganesha als Gott bzw. göttliche Kraft verehren oder zumindest nicht explizit ablehnen; und
e) die die Fähigkeit, mehreren Glaubenslehren oder religiösen Praktiken folgen zu können, als Habitus ausgeprägt haben. Nach Christentum und Islam ist der H. die drittgrößte Weltreligion.
Bes. verbreitete Texte, meist in Sanskrit verfasst, sind die vedischen Sammlungen, namentlich der Rigveda, die Upanishaden, die Bhagavadgita und mythologische (Puranas) sowie tantrische Texte. Daneben hat der H. ein umfangreiches Schrifttum hervorgebracht, das u. a. Rechtstexte (Dharmashāstra), Philosophien, einheimische Wissenschaften und Erzählungsliteratur umfasst. Die religiösen Texte des H. werden oft in geoffenbarte „gehörte“ (shruti) und von Menschen „erinnerte“ (smriti) Texte aufgeteilt. Zur ersten Kategorie gehören der Veda und die Upanishaden, zur zweiten die meisten anderen Texte.
1. Geschichte
Der H. hat seine Wurzeln in der vedischen (altindischen) Religion, die sich ca. 1750 bis 500 v. Chr. unter den nach Südasien einwandernden Indo-Ariern formierte. Ab ca. 300–200 v. Chr. entstanden jedoch völlig neue Vorstellungen und Praktiken. Dazu zählen etwa die Lehren von einem übermächtigen Schöpfergott, der Tatvergeltung (karma [alle nachfolgenden fremdsprachlichen Begriffe entstammen dem Sanskrit]), der zyklischen Zerstörung der Welt (samsāra), der Erlösung (zu Lebzeiten) (moksha, nirvāna) und der Welt als Illusion (māyā). Auch das Kastensystem, die Witwenverbrennung, die Verehrung (pūjā) der Götter in Götterbildern und festen Tempeln, Yoga, Wallfahrten, Vegetarismus und die Heiligkeit des Rindes finden sich noch nicht in der vedischen Religion.
Im vorklassischen H. (ca. 200 v. Chr. bis 300 n. Chr.) kamen asketische Reformbewegungen auf, v. a. der Buddhismus und Jainismus, die den exklusiven Charakter des Opferrituals in Frage stellten und individuelle Erlösungslehren bestärkten. Zugleich setzte eine Entwicklung ein, bei der die Brahmanen lokale Gottheiten zu Erscheinungsformen einer Hochgottheit erklärten, wodurch sich das hinduistische Pantheon mit seinen zahlreichen Göttern und deren Erscheinungsformen bildete.
In der späten Gupta-Zeit (320 bis ca. 550 n. Chr.) entstanden die ersten Tempel, die als sakrale Paläste, in denen die Priester als Diener die Götter wie hochgestellte Gäste behandeln und bewirten, das feudalistische Herrschaftssystem (Feudalismus) widerspiegeln. In der Spätzeit des klassischen H. (ca. 650–1100 n. Chr.) zerfielen die nordindischen Großreiche in regionale kleinere Königtümer. Die wenigen Großkönige (mahārāja) bauten Reichstempel als Wallfahrtszentren, um sich als Bewahrer der religiösen Ordnung (dharma) zu zeigen. Mit der Segmentierung der Macht ging eine Stärkung der regionalen und lokalen Kulte einher. Ländliche devotionale Bewegungen und vereinzelt antibrahmanische Stifterreligionen kamen auf. Dazu trug etwa der südindische Reformer Shankara (zwischen 650 und 800, traditionell 788–820) bei, der einen radikalen Monismus gegen brahmanischen Ritualismus und Buddhismus vertrat (Vedānta). Hinduistische Richtungen wie Shivaismus, Vishuismus, Bhakti und der sogenannte Tantrismus reiften heran.
Zwischen etwa 1100 bis 1850 n. Chr. beeinflusste der Islam die höfischen Künste (Musik, Tanz, Malerei, Architektur), die Verwaltungs- und Handelsstrukturen sowie einzelne asketische Gefolgschaften, die von charismatischen Gestalten (Charisma), Dichterheiligen oder militanten Führern gestiftet wurden, darunter Caitanya (1486–1533), Dādū (1544–1660) oder Rāmdās (1608–81). Der Islam brachte nicht nur Verfolgungen und Zerstörungen, sondern auch neue synkretistische Religionen: Kabīr (1440–1518) setzte Allah mit Rāma gleich, und Nānak (1469–1539) begründete den Sikhismus, eine Religion mit vielen islamischen und hinduistischen Einflüssen.
Der in der britischen Kolonialzeit entstandene Neohinduismus ist durch einen christlich-hinduistischen Synkretismus geprägt (Interreligiöser Dialog). Seine prominentesten Vertreter sind etwa Raja Ram Mohan Roy, Swami Vivekananda oder Mahatma Gandhi. Dadurch wandelte sich der H. vielfach zu einem ethischen Reformhinduismus, der Witwenverbrennung, Kastenwesen, Kinderheirat etc. verurteilte, teilweise aber auch einen betont vedischen, von angeblich schädlichen westlichen und islamischen Einflüssen gereinigten H. propagierte.
Mit der Unabhängigkeit Indiens am 15.8.1947 kamen u. a. die rechtliche Säkularisierung der Indischen Union und schrittweise neue Medien (Radio, Kino, Fernsehen, Video, Internet), die zu einer Uniformierung (Globalisierung), Politisierung und Radikalisierung des H. führten. Dieser sich zu Beginn des 21. Jh. stark verbreitende Hindu-Nationalismus verstärkte mit seinem Alleinanspruch und seiner Betonung eines Hindureichs (hindurāshthra) und Hindutum (hindutva) lange bestehende Spannungen zwischen Islam und Christentum. Der politische H. hat sich auch in Parteien (Bharatiya Janata Party) und teilweise paramilitärischen Organisationen (Rasthriya Svayamsevak Sangha oder Shiv Sena) organisiert.
2. Glaubensrichtungen
Nach einem Urteil des indischen Supreme Courts beansprucht der H. weder nur einen Gott noch einen Propheten, beruht nicht auf einem einzigen Glaubenssystem und folgt nicht einheitlichen Riten. Er erfülle daher nicht die üblichen Kriterien einer Religion und sei mehr eine Lebensform. In der Tat hat der H. keinen Stifter, kein Oberhaupt, keine „kirchliche Ordnung“ und kein für alle Hindus verbindliches heiliges Buch. Daher kann man ihn als polytheistisch und monotheistisch, theistisch und agnostisch bzw. atheistisch bezeichnen. Stattdessen findet sich eine Vielzahl von Religionsformen; die wichtigsten sind:
a) Klassischer, brahmanischer Sanskrit-H.: eine polytheistische, ritualistische, über nahezu ganz Südasien verbreitete brahmanische Priesterreligion mit einem Schwerpunkt auf großfamiliären Haus- und Opferritualen und einer Berufung auf den Veda als Autorität.
b) Volksreligionen der Regionen und sozialen Gemeinschaften (Subkaste, Kaste, Stamm): polytheistische, teilweise animistische Religionen mit einem Schwerpunkt auf lokal begrenzten, gemeinschaftlichen, kastenübergreifenden Feiern bzw. Verehrungsformen und oralen, volkssprachlichen Texten, eigenen Priestern, Göttern und Festen.
c) Gestiftete Religionen: meist asketische, oft antibrahmanische Erlösungsreligionen mit monastischen Gemeinschaften und Basistexten der Stifter. Dazu gehören:
– Sektenreligionen (vishnuitische: Shrīvaishnava, Pancarātra, Rāmānandīs, Nāgas u. a.; shivaitische: Dashanāmī, Nātha, Aghorī u. a.);
– synkretistische Stifterreligionen: hindu-muslimische (Sikhismus, Kabīrpanthīs), hindu-buddhistische (Nepal) oder hindu-christliche Mischreligionen wie der (ethische) Neohinduismus oder hinduistisch beeinflußte Religionsformen des Christentums (Dalittheologie);
– missionierende Stifterreligionen, „Guruismus“: in Indien entstandene, aber auch im Westen verbreitete, von charismatischen Personen (Gurus, Charisma) begründete Religionsgruppierungen (Krishnamurti, Transzendentale Meditation, Sai Baba, Rajneesh u. a.) mit überwiegend englischen esoterischen Schriften (Esoterik) der Gurus.
Diese Aufteilungen spiegeln sich in verschiedenen Klassifizierungen des H. wider, etwa in derjenigen zwischen der einen großen gesamtindischen und den vielen kleinen lokalen Traditionen. Aus den Wechselbeziehungen ergeben sich etliche kulturelle Prozesse und Dynamiken der Angleichung und Abgrenzung. So hat der Indologe Paul Hacker die hinduistische Neigung, eine zentrale Vorstellung einer fremden religiösen Gruppe für identisch mit einer zentralen Vorstellung der eigenen Gruppe zu deklarieren und dadurch das Fremde mit dem Eigenen zu identifizieren, als Inklusivismus bezeichnet. Die Tendenz zu solchen Identifikationen ist vermutlich auf die Praxis vedischer Opferidentifikationen und -äquivalenzen zurückzuführen. Eine Folge dieses identifikatorischen Habitus ist z. B. die weitverbeitete Sanskritisierung, bei der eine ursprünglich nicht-hinduistische Gottheit einen Sanskritnamen erhält und von brahmanischen Priestern versorgt wird oder brahmanische Werte (z. B. Vegetarismus, Kuhverehrung) von nicht-brahmanischen Gruppen angenommen werden. Bezeichnend für den H. ist aber v. a., dass Hindus mehreren dieser Religionsformen „angehören“ können, etwa indem sie die häuslichen Rituale nach dem klassischen Sanskrit-H. praktizieren, aber auch volksreligiöse Gottheiten verehren und Meditationen nach einer Stifterreligion betreiben.
Weiterhin wird der H. nach Textgruppen (Vedismus, Brahmanismus, epischer H.) oder theistisch nach Göttern eingeteilt. Die bedeutsamsten hinduistischen Bewegungen, Richtungen und Systeme sind:
a) Der Shivaismus, bei dem eine Identität mit Shiva rituell oder meditativ im Mittelpunkt steht. Er teilt sich in asketische Gruppierungen wie die Aghorīs, die vermutlich auf Shankara zurückgehenden Dashanāmīs oder die yogisch-tantrischen Nātha-Yogīs und in Laienbewegungen auf, zu denen etwa das System des Shaivasiddhānta oder die Kultgemeinschaft der Lingāyats gehören. Daneben gibt es einen volksreligiösen Shivaismus, der überwiegend auf der Mythologie der Purānas beruht.
b) Im tantrischen Shivaismus (Tantrismus) wird Shiva zusammen mit seiner weiblichen Energie (shakti) verehrt, oder er tritt wie im kaschmirischen Shivaismus als Gott Bhairava bzw. untergeordneter Begleiter der Göttin Shakti auf. Von Shāktismus ist die Rede bei der Verehrung von Göttinnen als shakti (Shrīvidyā, Kaula u. a.), wobei das Weibliche als eine allumfassende Göttin (Devī, Durgā, Kālī u. a.), die beschwichtigt werden muss, betont wird.
c) Der Vishnuismus wird oft in vier Traditionen (sampradāya) aufgeteilt, die der devotionalen Bhakti-Religionsform nahestehen: Shrī-Sampradāya mit dem Shrīvaishnava-System und Rāmānuja (1056–1137) mit seinem modifizierten Monismus (Vishishtādvaita); der dualistische Brahmā-Sampradāya mit Madhva (1199–1278) und seinem Dvaita-Vedānta, wonach sich Gott und die Einzelseelen als Realitäten gegenüberstehen, aber nur Vishnu autonom ist; der Sanaka-Sampradāya sowie die Nimāvatsekte, begründet von Nimbārka alias Nimbāditya (12. Jh.), der im System des Dvaitādvaita Monismus und Dualismus vereinte; der Rudra-Sampradāya, begründet von Vishnusvāmī (13. Jh.) der einen extremen Monismus (Shuddhādvaita) vertrat. Die Sekte der Rāmānandīs, die im 15. Jh. von Rāmānanda gegründet worden sein soll, verehrt vorrangig den heroischen Gott Rāma, eine Erscheinungsform Vishnus.
d) Der Smārta-H. stellt die Verehrung von Shiva, Vishnu, Ganesha, der Sonne (Sūrya) und Skanda oder anderen Gottheiten in den Vordergrund. Er gilt als orthodox, d. h. am Veda ausgerichtet und oft vedantischen Lehrsystemen verbunden. Die Rituale folgen dem Prinzip der Gewaltlosigkeit (ahimsā), so dass sich etwa Tieropfer oder Alkohol als Gaben verbieten.
e) Verschiedene devotionale Bhakti-Gemeinschaften stellen Krishna und seine Liebe zu der Kuhhirtin Rādhā in den Mittelpunkt, darunter der Vārkarī Panth („Pilgerpfad“) mit dem Gott (Krishna-)Vithoba und viele Dichterheilige (Jnāneshvara, Nāmdev, Tukarām, Janābāi, Eknāth u. a.); die Vallabhacārīs mit ihrem Stifter Vallabha (1479–1531), die Krishna als Knaben (Bālagopāla oder Bālakrishna) verehren, und die Gaudīyas oder bengalischen Vaishnavas, unter denen Jayadeva (12. Jh.) mit seinem einflußreichen Gītagovinda-Gedicht, Caitanya (1485–1533) und die Gosvāmī-Sekte herausragen.
In den orthodoxen Lehrtraditionen des klassischen H. haben sich sechs religiös-philosophische Systeme bzw. Schulen herausgebildet, die mitunter paarweise geordnet werden: die Naturphilosophie des Vaisheshika und der auf Logik bauende Nyāya; das dualistische, erkenntnistheoretische System des Sāmkhya und der auf körperliche und geistige Selbstkontrolle bezogene Yoga; sowie das ritualistische und Veda-exegetische Mīmāmsā-System und der verbreitete monistisch-metaphysische Vedānta.
Die Glaubens- und Lehrsysteme des H. sind nicht homogen, beruhen aber auf einigen gemeinsamen Merkmalen:
a) Autorität des Veda: Die Veden gelten als geoffenbartes Wissen, dem eine hohe Autorität v. a. in brahmanischen Kreisen zukommt.
b) Heilswege: Erlösung, Selbstbefreiung oder Gottesgnade ist möglich durch verschiedene Heilswege (mārga): gute Taten und das Opfer (karmamārga), rechte Erkenntnis oder rechtes Wissen (jñānamārga), Gottesliebe bzw. Mystik (bhaktimārga) oder auch durch heldenhafte Taten (vīryamārga). Die verschiedenen Heilswege teilen sich auch auf vier klassische Lebensziele (purushārthas) auf: kāma (sinnliches Vergnügen, sexuelle Lust), artha (Erwerb von Reichtum), moksha (individuelle Befreiung) und dharma.
c) Ethik: Von wenigen universalen Verboten wie Inzest oder Mord abgesehen, gibt es keine für alle Hindus verbindliche Heils- und Verhaltensnorm. Stattdessen richten sich die jeweiligen ethischen und sittlichen Lebensnormen (dharma) nach Kaste bzw. Herkunft oder Geschlecht (jātidharma, strīdharma), aber auch nach Lebensstufen, Alter und Stand (varnāshramadharma) und Region (deshadharma). Ein einheitlicher, universeller dharma, Sanātana Dharma genannt, kam erst im Neohinduismus und in Abgrenzung zum relativen Dharma (svadharma) auf.
d) Polyvalenter Theismus: Götter haben meist mehrere, teilweise sehr viele (108, 1008) Namen und können sich in anthropo- oder theriomorpher Form oder als Steine oder Pflanzen manifestieren. Dadurch kommt es zu einer Koexistenz von poly-, mono- und pantheistischen Konzepten sowie zur Bildung von Göttergruppen, z. B. Neun Durgās (Navadurgā) oder Acht Mütter (Asthamātrika). Die große Zahl der Götter, traditionell 33 Mio., lässt sich durch Hauptgötter und verschiedene Klassifizierungen reduzieren. Die bekanntesten sind die hinduistische Dreiergruppe (trimūrti) von Shiva, Vishnu und Brahma und die zehn Erscheinungsformen (avatāra) Vishnus: Matsya (Fisch), Kūrma (Schildkröte), Varāha (Eber), Narasimha (Mann-Löwe), Vāmana (Zwerg), Parashurāma, Rāma, Krishna, Buddha und – zukünftig – Kalki (Vishnu als weißes Pferd am Ende des gegenwärtigen Weltalterzyklus).
e) Eigenschaftslosigkeit des Göttlichen: Trotz seiner vielfältigen Erscheinungsformen ist das Absolute (ātman, brahman, purusha etc.) im Grunde eigenschaftslos (nirguna). Die wahrnehmbaren und temporären Eigenschaften eines Gottes gelten dann als Illusion (māyā) oder Hilfsmittel. Die wahre, merkmallose Natur des Göttlichen oder der Gottheit ist daher nur dem Begnadeten, Eingeweihten oder Erlösten erkenn-, erfahr- und (ein)sehbar.
f) Das Göttliche als Kraft: Das Göttliche wird nicht selten als heilige Macht oder feinstofflich bzw. substanzhaft gedachte Kraft empfunden und ausgedrückt (brahman, shakti, tapas), die in Göttern, lebenden Wesen, Objekten, Zahlen, heiligen Sprüchen (mantra) u. a. enthalten, erworben, angehäuft und weitergegeben werden kann, was zu religiösem Verdienst (punya) führt.
g) Identität zwischen Gott und Mensch: Aufgrund einer prinzipiellen Identität zwischen Individualseele (ātman) und Höchstem oder Weltseele (brahman) kann – z. B. durch Askese oder Meditation – die höchste Macht auch von Menschen erworben werden. Dies drückt sich u. a. in dem asketischen Bestreben der Selbstvergottung (Max Weber) bzw. der Vorstellung von der Erlösung zu Lebzeiten (moksha) aus.
h) Zyklizität und Inaktivität: Das Höchste kann sich nur bedingt in Raum und Zeit entfalten. Dadurch herrscht ein Heilsideal der Inaktivität vor. Welt, Natur und Materie (prakriti) gelten als nur bedingt erlösend; hingegen wird wie im Sāmkha-System die mitunter als reines Licht konzipierte völlige Ruhe mit dem Heil identifiziert. Die Weltentfaltung wird oft durch einen Wechsel von Aktivität bzw. Schöpfung und Inaktivität bzw. Zerstörung (samsāra) bzw. als Spiel (līlā) eines Gottes erklärt.
i) Tatvergeltungskausalität: Die Tat (karma) führt im Allgemeinen zur Wiedergeburt und damit zu neuem Leid. Das Heilsideal der Inaktivität begünstigt in bestimmten Kreisen quietistische, mystische und weltflüchtige Lebensformen.
3. Hinduistische Gesellschaft
Das religiöse Spezialistentum besteht aus Brahmanen, bes. Haus- (purohita) und Tempelpriestern (pūjārī) sowie Pilger- und Totenpriestern, und vielen nicht-brahmanischen Priestern, Astrologen und Heilern. In der religiösen Praxis ragen auch geistliche und weltliche Lehrer (ācārya, guru, pandita) sowie spirituelle Meister oder Asketen (samnyāsin, sādhu, yogī, svāmī etc.) heraus.
Die stärkste Auswirkung des H. auf die indische Gesellschaft liegt in der Kastenorganisation sowie in den damit verbundenen Kategorien von Hierarchie und Reinheit, die sich bes. im sozialen Kontakt zeigen. Dabei gelten viele Veränderungen als verunreinigend: lebenszyklische Übergänge (samskāra), vornehmlich Geburt und Tod, Körperausscheidungen, Zeiten- und Ortswechsel oder bestimmte Sternkonstellationen. Als Reinigungsmittel sind Wasser (am besten Gangeswasser), Feuer, heilige Sprüche (mantra), Kuhprodukte, bestimmte Pflanzen (z. B. Basilienkraut und Kusha-Gras) und Gebete oder Pilgerfahrten hoch angesehen.
Verbreitet ist ein brahmanisch-ideologisches Modell, nach der die Gesellschaft in vier Stände (varna) hierarchisiert ist (varnāshrama): 1. Brahmanen (Priester, Geistesadel): der Lehrstand; 2. Kshatriyas (Ritter, Krieger, Aristokratie): der Wehrstand; 3. Vaishyas (Händler, Bauern): der Nährstand; sowie 4. Shūdras (Hörige und Gemeine), unter denen die sogenannten Unberührbaren oder Parias bzw. Dalits stehen. In der sozialen Schichtung sind aber kleinere soziale Gruppen und genealogische Abstammungskriterien bedeutsamer als das Varnamodell.
Die hinduistische Gesellschaft ist zudem durch ein hierarchisches System von Gaben (dāna), eine bisweilen untergeordnete Stellung der Frau, gemeinschaftliche oder auf individuellen Gelübden (vrata) beruhende Feste und Pilgerfahrten sowie große öffentliche und viele familiäre Rituale gekennzeichnet.
Literatur
A. Michaels: Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, 22012 • H. Kulke/D. Rothermund: Geschichte Indiens, 2011 • K. A. Jacobsen u. a. (Hg.): Brill’s Encyclopedia of Hinduism, 2009–14 • G. Flood: An introduction to Hinduism, 1996 • C. Fuller: The Camphor Flame. Popular Hinduism and Society in India, 1992 • P. Hacker: Inklusivismus, in: G. Oberhammer (Hg.): Inklusivismus, 1983, 11–28 • J. Gonda: Die Religionen Indiens, Bde. 1–2, 21978 • P. V. Kane: History of Dharmaśāstra, 21974 • M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 1921.
Empfohlene Zitierweise
A. Michaels: Hinduismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Hinduismus (abgerufen: 23.11.2024)