Moralisches Risiko (moral hazard): Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:10 Uhr
M. R. bedeutet allg., dass jemand zusätzliche Risiken eingeht, die er für sich allein nicht eingehen würde, weil ggf. ein anderer (zumindest partiell) für die Kosten aufkommt. M. R. tritt entspr. auf Versicherungs- und Finanzmärkten auf, bezeichnet jedoch auch den Teil von Prinzipal-Agenten-Problemen, bei denen der Agent nachvertraglich verdeckte Handlungen (hidden action) zum Nachteil des Prinzipals vornehmen kann.
1. Versicherungs- und Finanzmärkte
M. R. liegt vor, wenn sich Versicherungsnehmer riskanter verhalten, als sie es ohne Versicherung täten, weil die Versicherung bzw. die Gemeinschaft der Versicherten zahlt, wenn sich ein ungünstiges Ereignis realisiert. Haftpflicht- und insb. vollkaskoversicherte Autofahrer fahren demnach schneller und rücksichtsloser, Krankenversicherte achten weniger auf ihre Gesundheit, gegen Arbeitslosigkeit Versicherte bemühen sich weniger darum, einen bestehenden Job zu behalten oder einen neuen zu finden. Bes. problematisch sind Überversicherungen, wenn z. B. eine Feuerversicherung mehr zahlt, als ein Gebäude überhaupt wert ist, was einen Anreiz zur Brandstiftung schafft.
M. R. gibt es auch auf Finanzmärkten, wenn z. B. Schuldner immer mehr Kredite aufnehmen, die sie im Falle einer Insolvenz ohnehin nicht zurückzahlen können, oder Banken ihnen solche Kredite gewähren, weil sie die Kredite mit ihren Risiken weiterverkaufen oder im Falle einer Krise vom Steuerzahler gerettet werden. Insb. in der Eurozone können sich ganze Staaten stärker verschulden, weil ihre Anleihen zu großen Teilen von der EZB gekauft werden, im Krisenfall Rettungsfonds einspringen und sie deshalb viel niedrigere Zinsen zahlen müssen.
2. Prinzipal-Agenten-Beziehungen
M. R. tritt nicht nur auf Märkten auf, sondern auch innerhalb von bestehenden Prinzipal-Agenten-Beziehungen, d. h. nach Abschluss eines Vertrages, mit dem ein Auftraggeber (Prinzipal) Aufgaben an einen Auftragnehmer (Agenten) delegiert. Andere Opportunismusprobleme, die vor Vertragsabschluss auftreten, werden als adverse Selektion bezeichnet, die auch auf Versicherungs- und Finanzmärkten existiert. M. R. tritt nachvertraglich auf, wenn die vereinbarte Leistung des Agenten vom Prinzipal nicht direkt beobachtet oder zumindest nicht gerichtsfest nachgewiesen werden kann. Der Agent droht dann, zum Nachteil des Prinzipals weniger als vereinbart zu arbeiten oder z. B. auch direkt höhere Risiken einzugehen. Wenn die Sache gut ausgeht, bemerkt der Prinzipal dieses Fehlverhalten häufig gar nicht. Realisieren sich hingegen die schlechten Risiken, hat v. a. der Prinzipal den Schaden.
Die Prinzipal-Agenten-Theorie beschäftigt sich damit, wie sich durch geeignete Anreizgestaltung Risiken und Schäden möglichst gering halten lassen. Bestimmte Risiken lassen sich vielleicht gar nicht vermeiden oder sollen nicht auf den Agenten abgewälzt werden, weil dieser oft risikoaverser ist als der Prinzipal. Es geht dann um den optimalen Trade-off zwischen Anreizen und Risiken für den Agenten, die beide zugleich zu hoch oder auch zu niedrig sein können.
Typische Anwendungsbeispiele sind die Beziehungen zwischen Arzt und Patient, Handwerker und Kunde oder angestelltem Manager und Unternehmenseigentümer (an erster Stelle steht hier jeweils der Agent, gefolgt vom Prinzipal), wobei auch Erweiterungen auf z. B. die Politik oder Universitäten möglich sind. Das Modell lässt sich auch mehrstufig erweitern, wenn z. B. Manager normale Arbeitnehmer als Agenten einsetzen, selbst jedoch vom Aufsichtsrat überwacht werden, dessen Mitglieder wiederum Agenten der Aktionäre sind. Dies ist mit Kollusionsgefahren verbunden, also einer nicht erwünschten Zusammenarbeit der Agenten unterschiedlicher Stufe zu Lasten der Prinzipale. Andere Probleme ergeben sich, wenn mehrere Agenten auf der gleichen Stufe als Team zusammenarbeiten oder in Leistungsturnieren gegeneinander antreten sollen, was nicht beides gleichzeitig geschehen darf. Wenn ein Agent mehrere verschiedene Aufgaben zu erledigen hat, dann darf eine für sich genommen gut beobachtbare Aufgabe nicht stärker als die anderen Aufgaben angereizt werden, weil letztere sonst kaum oder gar nicht erledigt wird. Wenn die Prinzipal-Agenten-Beziehungen über viele Perioden besteht, dann erleichtert das den Rückschluss auf die nicht direkt beobachtbaren Handlungen. Denn jeder kann einmal Pech haben, aber ein guter Agent liefert nicht zu häufig schlechte Ergebnisse ab.
Literatur
D. Rowell/L. Connelly: A History of the Term „Moral Hazard“, in: JRI 79/4 (2012), 1051–1075 • P. Krugman: The Return of Depression Economics and the Crisis of 2008, 2009 • A. Dilger: Was lehrt die Prinzipal-Agenten-Theorie für die Anreizgestaltung in Hochschulen?, in: Zeitschrift für Personalforschung 15/2 (2001), 132–148 • A. Dembe/L. Boden: Moral Hazard. A Question of Morality?, in: New Solutions 10/3 (2000), 257–279 • T. Baker: On the Genealogy of Moral Hazard, in: Texas Law Review 75/2 (1996), 237–292 • B. Holmström/P. Milgrom: Multitask Pricipal-Agent Analyses. Incentive Contracts, Asset Ownership, and Job Design, in: JLEO 7/Special Issue (1991), 24–52 • D. Sappington: Incentives in Principal-Agent Relationships, in: JEP 5/2 (1991), 45–66 • C. Odle/R. Gorman: Collusion Among Many Agents, in: Journal of Economics and Business 38/1 (1986), 57–64 • W. Rogerson: Repeated Moral Hazard, in: EC 53/1 (1985), 69–76 • S. Grossman/O. Hart: An Analysis of the Principal-Agent Problem, in: EC 51/1 (1983), 7–46 • B. Holmström: Moral Hazard in Teams, in: Bell Journal of Economics 13/2 (1982), 324–340 • E. Lazear/S. Rosen: Rank-order Tournaments as Optimum Labor Contracts, in: JPE 89/5 (1981), 841–864 • M. Harris/A. Raviv: Optimal Incentive Contracts with Imperfect Information, in: JET 20/2 (1979), 231–259 • B. Holmström: Moral Hazard and Observability, in: Bell Journal of Economics 10/1 (1979), 74–91 • S. Shavell: Risk Sharing and Incentives in the Principal Agent Relationship, in: Bell Journal of Economics 10/1 (1979), 55–73 • J. Marshall: Moral Hazard, in: AER 66/5 (1976), 880–890 • J. Mirrlees: The Optimal Structure of Incentives and Authority Within an Organization, in: Bell Journal of Economics 7/1 (1976), 105–131 • M. Pauly: Overinsurance and Public Provision of Insurance. The Roles of Moral Hazard and Adverse Selection, in: QJE 88/1 (1974), 44–62 • J. Stiglitz: Incentives and Risk Sharing in Sharecropping, in: RES 41/2 (1974), 219–255 • S. Ross: The Economic Theory of Agency. The Principal’s Problem, in: AER 63/2 (1973), 134–139 • A. Alchian/H. Demsetz: Production, Information Costs, and Economic Organization, in: AER 62/5 (1972), 777–795 • M. Pauly: The Economics of Moral Hazard. Comment, in: AER 58/3 (1968), 531–537 • K. Arrow: Uncertainty and the Welfare Economics of Medical Care, in: AER 53/5 (1963), 941–973.
Empfohlene Zitierweise
A. Dilger: Moralisches Risiko (moral hazard), Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Moralisches_Risiko_(moral_hazard) (abgerufen: 22.11.2024)