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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:12 Uhr
Im Kern bezeichnet s. K. Handlungen, die darauf zielen, von sozialen Normen abweichendes Verhalten zu unterbinden. Ihnen liegen also Bewertungen zu Grunde. Soziale Normen als Verhaltenserwartungen wiederum werden in Sozialisationsprozessen u. a. in Familien und peer groups erlernt, wobei die jeweiligen Normen mit übergeordneten politischen, religiösen/weltanschaulichen und/oder ökonomischen Machtbereichen variieren können. In pluralisierten Gesellschaften sind insofern Norm- und Rollenkonflikte weniger eine Ausnahme, als vielmehr Normalität. Ethnomethodologischen Ansätzen zufolge seien Normen jedoch nicht dinghaft, sondern dienten als sprachliche Konstrukte lediglich der Handlungsorientierung in grundsätzlich interpretationsbedürftigen Situationen. Ein Ausbalancieren heterogener Erwartungen und situationsangemessene Interpretationen seien notwendig, direkte Handlungsaufforderungen ließen sich nicht ableiten.
Beschreibungen und Analysen von Normen, Devianz und damit auch s.r K. werden insofern aus zwei wissenschaftstheoretischen Perspektiven diskutiert: einer objektivistischen und einer konstruktivistischen.
1. Theoretische Perspektiven und Paradoxien
Edward Alsworth Ross gilt als Begründer des soziologischen Begriffs s.r K. Diese sei sozialen Prozessen und Institutionen inhärent. Insb. strukturfunktionalistische Annahmen schlossen daran an und verstanden s. K. als Prozesse, die dazu dienten, gesellschaftliche Dysfunktionen zu vermeiden. In solch einem weiten Verständnis s.r K. sind auch Vorstellungen einer internalen (im Unterschied zu externalen) s.n K. einzuordnen. Das sozial erlernte, auf Verhaltenserwartungen anderer bezogene Gewissen (Gewissen, Gewissensfreiheit) bewirke Selbstkontrolle. U. a. Alexander L. Clark und Jack P. Gibbs wiesen jedoch auf die fehlende Präzision eines solchen Verständnisses hin. S. K. sei so nicht von Sozialisation oder Institutionalisierung zu unterscheiden und empirisch betrachtet seien nicht unsichtbare Kräfte der Gesellschaft am Werk, sondern es ließen sich konkrete Akteure erkennen. Infolgedessen richtete sich der Blick auf konkrete soziale Systeme, auf explizit intendierte Reaktionen auf Devianz sowie auf Machtverhältnisse (Macht) und Interessen statt abstrakt auf die Gesellschaft. Mit Bezug auf Instanzen s.r K. wird zwischen formeller (durch Strafjustiz, Polizei, Schule, Sozialarbeit etc. sowie in Einrichtungen wie Gefängnissen und Psychiatrien) und informeller s.r K. etwa durch Peers, Nachbarschaft, Familie unterschieden. Der Objektivitätscharakter von Devianz wird hier nicht bezweifelt und auch von Vertretern des frühen Labeling Approachs implizit beibehalten: Edwin McCarthy Lemert wie auch Howard S. Becker betonten gleichwohl die Bedeutung gesellschaftlicher Reaktionen. Mit Begriffen wie „sekundäre Devianz“ und „kriminelle Karriere“ beschrieben sie, wie Reaktionen auf (erwartete) Devianz/Kriminalität in Form negativer Sanktionen (Strafen, Strafdrohungen) kontraindizierte Effekte produzierten. Negative Sanktionen führten zur Degradierung der Devianten (Abwertung des sozialen Status, Zuschreibung eines neues Master-Status z. B. „Dieb“), reduzierten gesellschaftliche Teilhabechancen (z. B. über Geld- oder Freiheitsstrafen) und führten zur Übernahme einer „abweichenden Identität“. Devianz reproduziere sich gerade in Folge s.r K., diese schaffe das, was sie verhindern solle. Zahlreiche Untersuchungen unterstrichen eine solche, objektivistische Absurditätsannahme s.r K. auch dadurch, als dass sie zeigten, dass das Konformitätsziel über generalpräventive Maßnahmen systematisch verfehlt wird.
Bei allen Differenzen deuten sowohl Émile Durkheim (1988: 130) – „Wir verurteilen sie [die Tat, J. W.] nicht, weil sie ein Verbrechen ist, sondern sie ist ein Verbrechen, weil wir sie verurteilen“ – als auch H. S. Becker (2014: 31) – „Abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen als solches bezeichnen“ – eine zweite, konstruktivistische (Konstruktivismus) Absurditätsannahme an: Weil Handeln (Handeln, Handlung) erst über interaktive Be-Deutungen eine spezifische Qualität erlange, würde Devianz erst über die Reaktion und insb. über Kontrollaktivitäten zu dem, was verhindert werden soll. Hier wird jedoch kein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang angenommen, sondern es besteht ein Zuschreibungsverhältnis. Die qualitätsproduzierende Zuschreibung erweist sich wiederum als kontext- und machtabhängig. So schützt z. B. der Kontext „Krieg“ i. d. R. davor, das Töten von Menschen als Mord zu klassifizieren. Mit Helge Peters kann s. K. daher wie folgt definiert werden: „Der Begriff ‚Soziale Kontrolle‘ soll Handlungen bezeichnen, die folgende Merkmale aufweisen: Sie
– zielen darauf ab, abweichendes Verhalten in dem sozialen System, in dem sie wirkt, künftig zu verhindern.
– sind eine Reaktion auf gegenwärtiges oder erwartetes abweichendes, d. h. normverletzendes Verhalten und
– stehen im Einklang mit den Vorstellungen einer Bezugsgruppe, die über die Angemessenheit der Handlung wacht und die die Macht hat, diesen Vorstellungen Geltung zu verschaffen“ (Peters 2002: 115).
2. Begriffskritik und weiterführende Fragen
Kritisiert wird teilweise ein euphemistischer Charakter des Begriffs s. K. Auch wenn Strafe als Teil dieser gemäß É. Durkheim (1988) v. a. auf die „ehrenwerten Leute“ und damit auf Normverdeutlichung ziele und – so Heinrich Popitz (1968: 9) – Strafe immer selektiv erfolgen würde und müsse, um das jeweilige Normsystem nicht zu „Tode zu blamieren“ (Popitz 1968, S. 9), so bedeute sie für die als deviant/krank/kriminell Etikettierten oft Ausschluss. Aspekte wie Folter, Tötung, Verbannung würden mit dem Begriff verharmlost. S. K. umfasse eben nicht nur Maßnahmen, die Bedingungen des Handels änderten oder positive Sanktionen wie Lob.
Die in den unterschiedlichen Perspektiven zum Ausdruck kommende doppelte Absurditätsannahme verweist wiederum auf neue Fragen. Insb. die Instrumentalisierung von Kriminalität zum Erhalt und Ausbau von (politischer, staatlicher) Macht gerät in den Blick. Johnathan Simon (2007) spricht von „Governing through Crime“; entsprechende Politiken produzierten einen Herrschaftssicherungsmehrwert. Interaktionistisch sowie materialistisch inspirierte Forschungen verwiesen zudem auf die soziale Selektivität s.r K. Obwohl Sachverhalte, die als Devianz/Kriminalität etikettiert würden, ubiquitär seien, erfolgten Reaktionen (u. a. Anzeige, Anklage, Urteil) bzw. deren Abbruch selektiv. Weil Kontextmerkmale wie Lebensführung, Ethnizität, Klassenzugehörigkeit oder Geschlecht zuschreibungsrelevant seien, reproduziere s. K. so soziale Ungleichheit und legitimiere diese.
Literatur
H. S. Becker: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, 2014 • J. Simon: Governing Through Crime. How the War on Crime formed American Democracy and Created a Culture of Fear, 2007 • H. Peters: Soziale Probleme und Soziale Kontrolle, 2002 • É. Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, 1988 • K. F. Schumann/C. Berlitz/H. W. Guth/R. Kaulitzky: Jugendkriminalität und die Grenzen der Generalprävention, 1987 • A. L. Clark/J. P. Gibbs: Soziale Kontrolle: Eine Neuformulierung, in: K. Lüderssen/F. Sack (Hg.): Seminar: Abweichendes Verhalten I. Die selektiven Normen der Gesellschaft, 1982, 153–185 • H. Popitz: Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, 1968 • E. M. Lemert: Human Deviance: Social Problems and Social Control, 1967 • E. A. Ross: Social Control: A Survey of the Foundations of Order, 1901.
Empfohlene Zitierweise
J. Wehrheim: Soziale Kontrolle, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Soziale_Kontrolle (abgerufen: 23.11.2024)