Volkssouveränität: Unterschied zwischen den Versionen
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Erschöpft sie sich im ursprünglichen Gründungsakt, in der Sache also in der Schaffung und Inkraftsetzung einer [[Verfassung]], ist V. gleichbedeutend mit der Idee oder dem Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. In dieser Bedeutung tritt sie in voller Reinheit wiederum bei E. J. Sieyès hervor, wenn dieser das Recht zum Erlass einer Verfassung der Nation und nur der Nation zuerkennt; diese beweist sich hier gerade insofern als wahrhaft souverän, als sie selbst dabei keiner Verfassung und damit keiner positivrechtlichen Bindung unterworfen ist. Allerdings hatte schon E. J. Sieyès mit seiner Unterscheidung von verfassunggebender („pouvoir constituant“) und durch die Verfassung eingerichteter Gewalt („pouvoir constitué“) (Sieyès 1789: 111) darauf aufmerksam gemacht, dass alle von der Verfassung eingesetzten Organe ihrerseits an die Verfassung gebunden sind und nur in deren Rahmen handeln können. Von hier aus ist es nur noch ein weiterer Schritt, die verfassunggebende Gewalt auf Dauer zu stellen und anschließend auch die Ausübung von Macht unterhalb der Verfassung dem Prinzip der V. zu unterwerfen. Aus der V. als Forderung nach einer vom Volk autorisierten Verfassung wird dann die V. als Forderung nach einer demokratischen Ordnung. Hinsichtlich des Organisationsmodells ist sodann zu klären, in welcher Art und Weise das zur Herrschaft berufene Volk diese konkret ausüben soll. Dafür stehen vom theoretischen Ausgangspunkt her erneut zwei Grundmodelle zur Verfügung, das Modell der [[Identität]] und das der [[Repräsentation]]. Im Modell der Identität, wie es von J.-J. Rousseau selbst bis hin zu Carl Schmitt favorisiert wird, gehen Staat und Volk, Regierende und Regierte sachlich wie personell vollständig ineinander auf; es kann und darf immer nur das unmittelbar bei sich seiende Volk als Kollektivwesen handeln, weil, wie J.-J. Rousseau schrieb, die Souveränität „unveräußerlich und auch unteilbar“ sei (Rousseau 1762: 28). Unter diesen Bedingungen fehlt es allerdings an einer Struktur, aus der heraus überhaupt [[Entscheidung|Entscheidungen]] gefällt werden können. Darüber hinaus besteht die Gefahr der Usurpation durch bes. schlagkräftige Gruppen oder autoritäre Führerfiguren, die den authentischen Volkswillen zu verkörpern beanspruchen und sich ihre Entscheidungen nur noch akklamieren lassen. Angesichts dieser theoretischen wie praktischen Mängel des Identitätsmodells hat sich im Ergebnis weltweit das Modell der Repräsentation durchgesetzt, in dem das Volk die Herrschaft nicht selbst, sondern durch von ihm berufene Vertreter ausübt. Auch hier muss allerdings sichergestellt sein, dass die Herrschaft sich nicht in einem einmaligen Akt der Bestellung erschöpft, sondern auch über diesen hinaus fortwirkt; erreicht wird dies typischerweise dadurch, dass die Bestellung nur auf Zeit erfolgt und auch zwischen den Bestellungsakten eine ausreichende Rückkoppelung an das Volk – etwa durch intermediäre Institutionen ([[Medien]], [[Parteien]] etc.) oder eine politische [[Öffentlichkeit]] – gewährleistet bleibt. Hinsichtlich der möglichen Grenzen schließlich ist v. a. das Verhältnis der Rechte der Einzelnen gegenüber dem Kollektivsubjekt „Volk“ zu bestimmen; gleichbedeutend kann man auch vom Verhältnis der öffentlichen [[Autonomie]] der Staatsbürger (als Ausdruck der V.) und ihrer privaten Autonomie (als Bezugspunkt von [[Grundrechte|Grundrechten]]) sprechen. Auch hier lassen sich die möglichen Standpunkte zu zwei gegensätzlichen Grundmodellen zusammenziehen, die durch J.-J. Rousseau einerseits und J. Locke andererseits repräsentiert werden. Während bei J.-J. Rousseau die V. den unbedingten Vorrang hat und sich die [[Freiheit]] des Einzelnen überhaupt nur in seiner Teilhabe an der Bildung des kollektiven Willens äußert, wird bei J. Locke die politische Ordnung ganz auf den Schutz der privaten Autonomie und der mit ihr verbundenen individuellen Rechte bezogen, vor denen sich auch die V. zu rechtfertigen hat. Diese Rechte wirken damit zugleich als Begrenzung der V. Neuere Überlegungen, etwa von Jürgen Habermas, suchen demgegenüber nach einer prinzipiellen Balance zwischen V. und individuellen Rechten, zwischen öffentlicher und privater Autonomie, die als „gleichursprünglich“ und „gleichgewichtig“ (Habermas 1992: 161) behandelt werden; die Suche nach einer solchen Balance dürfte auch der Praxis der meisten demokratischen Verfassungsstaaten entsprechen. |
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− | Die überragende Bedeutung, die die V. mit diesem Inhalt für eine demokratische Ordnung hat, kommt in diesen Ordnungen typischerweise dadurch zum Ausdruck, dass sie in den Rang eines grundlegenden Verfassungsprinzips erhoben worden ist; in der Bundesrepublik ist dies durch den eingangs bereits angesprochenen Art. 20 Abs. 2 GG geschehen. Das [[Bundesverfassungsgericht (BVerfG)|BVerfG]] hat daraus weitreichende Folgerungen abgeleitet, etwa zur Frage, wer als „Volk“ i. S. dieser Bestimmung zu verstehen ist (i. e. die Summe der Staatsangehörigen, weshalb etwa ein Ausländerwahlrecht verfassungswidrig wäre), aber auch zu den inhaltlichen Anforderungen an staatliches Handeln (i. S. einer sachlichen [[Legitimation]] durch das parlamentarische Gesetz [ [[Gesetzgebung]] ]) bis hin zur Bestimmung, wer gegenüber dem Bürger zu einem Handeln mit Entscheidungscharakter berufen ist (i. S. einer personellen Legitimation der je handelnden Amtswalter [ [[Amt]] ]). Allerdings ist die dahinter wie überhaupt hinter dem | + | Die überragende Bedeutung, die die V. mit diesem Inhalt für eine demokratische Ordnung hat, kommt in diesen Ordnungen typischerweise dadurch zum Ausdruck, dass sie in den Rang eines grundlegenden Verfassungsprinzips erhoben worden ist; in der Bundesrepublik ist dies durch den eingangs bereits angesprochenen Art. 20 Abs. 2 GG geschehen. Das [[Bundesverfassungsgericht (BVerfG)|BVerfG]] hat daraus weitreichende Folgerungen abgeleitet, etwa zur Frage, wer als „Volk“ i. S. dieser Bestimmung zu verstehen ist (i. e. die Summe der Staatsangehörigen, weshalb etwa ein Ausländerwahlrecht verfassungswidrig wäre), aber auch zu den inhaltlichen Anforderungen an staatliches Handeln (i. S. einer sachlichen [[Legitimation]] durch das parlamentarische Gesetz [ [[Gesetzgebung]] ]) bis hin zur Bestimmung, wer gegenüber dem Bürger zu einem Handeln mit Entscheidungscharakter berufen ist (i. S. einer personellen Legitimation der je handelnden Amtswalter [ [[Amt]] ]). Allerdings ist die dahinter wie überhaupt hinter dem allgemeinen Konzept der V. stehende Vorstellung eines zentralen Ortes des Politischen, in dem die demokratische Willensbildung ihren imaginären Fluchtpunkt findet, aus verschiedenen Gründen fraglich geworden: Innerhalb des Staates wird Macht wieder zusehends dezentriert und immer weniger über die klassische Form des vom Parlament ([[Parlament, Parlamentarismus]]) beschlossenen Gesetzes ausgeübt; außer- und oberhalb des Staates verflüssigt sie sich in den komplexen Entscheidungszusammenhängen der internationalen und europäischen [[Mehrebenensystem|Mehrebenensysteme]]. Insofern teilt die V. das Schicksal des in ihr enthaltenen Souveränitätsbegriffs, dessen Grundgedanke eines Zuhöchst-Seins i. S. eines Rechts zum „letzten Wort“ ebenfalls fragwürdig geworden und dessen Zukunft unsicher ist. Ob ein verändertes Verständnis von V. als subjektloses, im Wesentlichen nur noch kommunikatives „Verfahren“ diesen Bedeutungsschwund auffangen kann, wie es etwa von J. Habermas vorgeschlagen ist (Habermas 1992: 600), bleibt vorerst offen. |
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:13 Uhr
1. Allgemeine Bestimmung
Der Grundgedanke der V. ist bündig in dem Satz des Art. 20 Abs. 2 GG zusammengefasst, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht; gleichbedeutend oder erläuternd wird oft auch vom Volk als alleinigem „Legitimationsgrund“ oder alleiniger „Legitimationsquelle“ der gesamten Staatsgewalt gesprochen. Diese darf dann nicht nur, als eine Herrschaft für das Volk, im tatsächlichen oder vermuteten Interesse des Volkes und zu seinem Wohl ausgeübt werden, sondern muss, i. S. einer Herrschaft des Volkes und durch das Volk, selbst auf dessen wie auch immer zu ermittelnde Entscheidung rückführbar sein. Die konkrete Formulierung des Satzes geht dabei ihrerseits auf verschiedene ältere Fassungen zurück, deren bedeutsamste sich, mit der charakteristischen Verschiebung von „Volk“ zu „Nation“, in Art. 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 findet. Mit ihr verbindet sich zugleich der historische Durchbruch der V., in dessen Folge sie heute zur selbstverständlichen Grundlage jeder demokratischen Ordnung geworden ist. Unter Demokratie kann dann verkürzt diejenige Form politischer Herrschaft verstanden werden, die der Idee der V. innerlich verpflichtet ist und auf ihre reale Verwirklichung zielt. In diesem Sinne ist V. das begründende Prinzip der Demokratie.
2. Begriffliche Grundelemente
Mit diesem zunächst noch sehr allgemeinen Inhalt lässt sich von V. in einem unspezifischen und einem spezifischen Sinne sprechen. In einem unspezifischen Sinne ist die Vorstellung, dass die politische Ordnung von der Gesamtheit ihrer Mitglieder getragen sein muss und diese auch die politische Leitungsgewalt ausüben sollen, alt und lässt sich bis weit in die Geschichte zurückverfolgen. Für die römische Republik etwa bestimmt Cicero in seiner berühmten Definition den Staat ganz allgemein als Sache des Volkes („res publica res populi“, Cic. rep. 1,39), und zum Ausgang des Mittelalters lässt sich bei Marsilius von Padua in seinem „Defensor Pacis“ lesen, Gesetzgeber bzw. „erste bewirkende Ursache“ (Defensor Pacis, 1,12) des Gesetzes sei die Gesamtheit oder zumindest die Mehrheit der Bürger (Bürger, Bürgertum). Marsilius’ Gesamtkonzeption verweist freilich schon voraus auf den spezifischen Begriff der V., der gerade die Souveränität als voraussetzungsvollen Schlüsselbegriff des politischen Denkens zum Ausgangspunkt hat. Diese ist ihrerseits ein spezifisch modernes Konzept, das sich mit der Herausbildung des neuzeitlichen Staates verbindet und nach der bekannten Formulierung von Jean Bodin dessen Vermögen bezeichnet, die bindenden, selbst aber von jeder Bindung freien Entscheidungen für alle ihm Unterworfenen zu treffen. Souveränität in diesem Sinne setzt damit zweierlei voraus, zum einen die Einheitlichkeit der Entscheidungsbefugnisse i. S. ihrer Konzentration in einer Hand oder zumindest an einem Ort, zum anderen die Vorstellung einer prinzipiellen Verfügbarkeit der Welt. Beides war der mittelalterlichen Ordnung noch fremd, die Einheitlichkeit der Entscheidungsbefugnis, weil sich Macht auf verschiedene geistliche und weltliche, überregionale und lokale Institutionen verteilte, die miteinander um den Vorrang konkurrierten, und die Vorstellung einer prinzipiellen Verfügbarkeit der Welt, weil diese in ihrem Kern nur als die von Gott gestiftete und gelenkte Ordnung erschien. Unter diesen Bedingungen fehlte es zugleich an einem möglichen Gegenstand von Souveränität. Ein solcher entstand erst mit dem modernen Staat, der sich als autonomer Bereich politischer Gestaltung ausdifferenzierte und namentlich die Rechtssetzungsbefugnis bei sich monopolisierte. Das Recht selbst wird dadurch positives Recht (Rechtspositivismus), das für die Verfolgung gesetzter Zwecke in Dienst genommen werden kann; in ihm verkörpert sich zugleich der Anspruch auf die prinzipielle Gestaltbarkeit der politischen Ordnung, der im Konzept von Souveränität i. S. eines allgemeinen Zuhöchst-Seins vorausgesetzt ist.
Allerdings war mit dieser sachlichen Bestimmung von Souveränität die Frage nach ihrem möglichen Träger noch nicht beantwortet. Bei J. Bodin selbst war dies in der bekannten Formulierung vom princeps legibus solutus der absolute Monarch (Absolutismus), der sich bei der Ausübung seiner Befugnisse nur an den Grundsätzen des Naturrechts oder der Moral zu orientieren hatte. Bei Thomas Hobbes verdankt sich demgegenüber zumindest die erstmalige Einsetzung des Herrschers einem ursprünglichen Akt der Zustimmung durch das der Herrschaft unterworfene Volk, wie er sinnbildlich im Abschluss des Gesellschaftsvertrages (Vertragstheorie) zum Ausdruck kommt. Von hier aus war es nur folgerichtig, das Volk selbst zum Träger dieser Herrschaft und damit von Souveränität zu erklären, wie es durch nachfolgende Vertragstheoretiker wie John Locke und sodann bes. wirkmächtig Jean-Jacques Rousseau geschah. Der Begriff des Volkes umfasst dabei im Ausgang ein Doppeltes; er kann sowohl das Volk als eine noch ganz unorganisierte Gruppe von Menschen meinen, die sich ihre politische Ordnung und ihre positive Rechtsordnung erst noch geben will, als auch diejenige politische Einheit, die bereits in und unter dieser Ordnung lebt. Für letztere führt der Abbé Emmanuel Joseph Sieyès, nun unmittelbar am Vorabend der Französischen Revolution, den Begriff der Nation ein, die dann in der Menschenrechtserklärung von 1789 zum „Ursprung aller Souveränität“ erklärt wird: als, wie es bei E. J. Sieyès heißt, Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem gemeinsamen Gesetz stehen und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten sind. Auch im Übrigen ist „Volk“ in seiner Amalgamierung mit „Souveränität“ aber ein nicht weniger anspruchs- und voraussetzungsvoller Begriff als diese, auch wenn das hier seltener gesehen wird. Mit ihm verbindet sich über einen nur irgendwie gruppenförmigen Zusammenschluss hinaus die Vorstellung einer prinzipiellen Gleichheit aller seiner Mitglieder, die für das Gesamtkonzept der V. nicht weniger zentral ist. Sie tritt in dieser Form bes. markant erneut bei E. J. Sieyès hervor, wenn dieser das Volk bzw. die „Nation“ mit dem „Dritten Stand“ gleichsetzt, in der Sache also mit der bürgerlichen Gesellschaft unter Ausschluss aller durch Geburt oder sonst wie privilegierten Mitglieder. Auch die Kritiker haben diesen Punkt klar gesehen, wenn sie sich, wie in Deutschland zu Beginn des 19. Jh., gegen die nun auch hier erhobenen Forderungen nach einer „Repräsentativverfassung“ zur Wehr setzten: Diese führe, schrieb Metternichs Hofpublizist Friedrich von Gentz anlässlich der Karlsbader Beschlüsse, geradezu auf den „verkehrten Begriff von einer obersten Souveränetät des Volks“ zurück, in dem an die Stelle der gottgewollten Standes- und Rechtsunterschiede der „Wahn allgemeiner Gleichheit der Rechte“ (von Gentz 1845: 215) trete.
3. Weitere theoretische Modellierung
Während allerdings die Grundelemente als solche alsbald zutreffend erkannt sind, treten im weiteren Verlauf der Diskussion erhebliche Unklarheiten über ihre konkrete Ausfüllung hervor. Im Einzelnen betreffen diese den möglichen Bezugspunkt der V., die Bestimmung des für sie maßgeblichen Organisationsmodells sowie die ihr ggf. zu setzenden Grenzen. Hinsichtlich des Bezugspunkts ist zu entscheiden, ob sich die V. im ursprünglichen Gründungs- oder Konstitutionsakt einer politischen Gemeinschaft erschöpft oder über diesen, in welchem Sinne auch immer, hinauswirkt. Erschöpft sie sich im ursprünglichen Gründungsakt, in der Sache also in der Schaffung und Inkraftsetzung einer Verfassung, ist V. gleichbedeutend mit der Idee oder dem Begriff der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. In dieser Bedeutung tritt sie in voller Reinheit wiederum bei E. J. Sieyès hervor, wenn dieser das Recht zum Erlass einer Verfassung der Nation und nur der Nation zuerkennt; diese beweist sich hier gerade insofern als wahrhaft souverän, als sie selbst dabei keiner Verfassung und damit keiner positivrechtlichen Bindung unterworfen ist. Allerdings hatte schon E. J. Sieyès mit seiner Unterscheidung von verfassunggebender („pouvoir constituant“) und durch die Verfassung eingerichteter Gewalt („pouvoir constitué“) (Sieyès 1789: 111) darauf aufmerksam gemacht, dass alle von der Verfassung eingesetzten Organe ihrerseits an die Verfassung gebunden sind und nur in deren Rahmen handeln können. Von hier aus ist es nur noch ein weiterer Schritt, die verfassunggebende Gewalt auf Dauer zu stellen und anschließend auch die Ausübung von Macht unterhalb der Verfassung dem Prinzip der V. zu unterwerfen. Aus der V. als Forderung nach einer vom Volk autorisierten Verfassung wird dann die V. als Forderung nach einer demokratischen Ordnung. Hinsichtlich des Organisationsmodells ist sodann zu klären, in welcher Art und Weise das zur Herrschaft berufene Volk diese konkret ausüben soll. Dafür stehen vom theoretischen Ausgangspunkt her erneut zwei Grundmodelle zur Verfügung, das Modell der Identität und das der Repräsentation. Im Modell der Identität, wie es von J.-J. Rousseau selbst bis hin zu Carl Schmitt favorisiert wird, gehen Staat und Volk, Regierende und Regierte sachlich wie personell vollständig ineinander auf; es kann und darf immer nur das unmittelbar bei sich seiende Volk als Kollektivwesen handeln, weil, wie J.-J. Rousseau schrieb, die Souveränität „unveräußerlich und auch unteilbar“ sei (Rousseau 1762: 28). Unter diesen Bedingungen fehlt es allerdings an einer Struktur, aus der heraus überhaupt Entscheidungen gefällt werden können. Darüber hinaus besteht die Gefahr der Usurpation durch bes. schlagkräftige Gruppen oder autoritäre Führerfiguren, die den authentischen Volkswillen zu verkörpern beanspruchen und sich ihre Entscheidungen nur noch akklamieren lassen. Angesichts dieser theoretischen wie praktischen Mängel des Identitätsmodells hat sich im Ergebnis weltweit das Modell der Repräsentation durchgesetzt, in dem das Volk die Herrschaft nicht selbst, sondern durch von ihm berufene Vertreter ausübt. Auch hier muss allerdings sichergestellt sein, dass die Herrschaft sich nicht in einem einmaligen Akt der Bestellung erschöpft, sondern auch über diesen hinaus fortwirkt; erreicht wird dies typischerweise dadurch, dass die Bestellung nur auf Zeit erfolgt und auch zwischen den Bestellungsakten eine ausreichende Rückkoppelung an das Volk – etwa durch intermediäre Institutionen (Medien, Parteien etc.) oder eine politische Öffentlichkeit – gewährleistet bleibt. Hinsichtlich der möglichen Grenzen schließlich ist v. a. das Verhältnis der Rechte der Einzelnen gegenüber dem Kollektivsubjekt „Volk“ zu bestimmen; gleichbedeutend kann man auch vom Verhältnis der öffentlichen Autonomie der Staatsbürger (als Ausdruck der V.) und ihrer privaten Autonomie (als Bezugspunkt von Grundrechten) sprechen. Auch hier lassen sich die möglichen Standpunkte zu zwei gegensätzlichen Grundmodellen zusammenziehen, die durch J.-J. Rousseau einerseits und J. Locke andererseits repräsentiert werden. Während bei J.-J. Rousseau die V. den unbedingten Vorrang hat und sich die Freiheit des Einzelnen überhaupt nur in seiner Teilhabe an der Bildung des kollektiven Willens äußert, wird bei J. Locke die politische Ordnung ganz auf den Schutz der privaten Autonomie und der mit ihr verbundenen individuellen Rechte bezogen, vor denen sich auch die V. zu rechtfertigen hat. Diese Rechte wirken damit zugleich als Begrenzung der V. Neuere Überlegungen, etwa von Jürgen Habermas, suchen demgegenüber nach einer prinzipiellen Balance zwischen V. und individuellen Rechten, zwischen öffentlicher und privater Autonomie, die als „gleichursprünglich“ und „gleichgewichtig“ (Habermas 1992: 161) behandelt werden; die Suche nach einer solchen Balance dürfte auch der Praxis der meisten demokratischen Verfassungsstaaten entsprechen.
4. Aktuelle und künftige Bedeutung
Die überragende Bedeutung, die die V. mit diesem Inhalt für eine demokratische Ordnung hat, kommt in diesen Ordnungen typischerweise dadurch zum Ausdruck, dass sie in den Rang eines grundlegenden Verfassungsprinzips erhoben worden ist; in der Bundesrepublik ist dies durch den eingangs bereits angesprochenen Art. 20 Abs. 2 GG geschehen. Das BVerfG hat daraus weitreichende Folgerungen abgeleitet, etwa zur Frage, wer als „Volk“ i. S. dieser Bestimmung zu verstehen ist (i. e. die Summe der Staatsangehörigen, weshalb etwa ein Ausländerwahlrecht verfassungswidrig wäre), aber auch zu den inhaltlichen Anforderungen an staatliches Handeln (i. S. einer sachlichen Legitimation durch das parlamentarische Gesetz [ Gesetzgebung ]) bis hin zur Bestimmung, wer gegenüber dem Bürger zu einem Handeln mit Entscheidungscharakter berufen ist (i. S. einer personellen Legitimation der je handelnden Amtswalter [ Amt ]). Allerdings ist die dahinter wie überhaupt hinter dem allgemeinen Konzept der V. stehende Vorstellung eines zentralen Ortes des Politischen, in dem die demokratische Willensbildung ihren imaginären Fluchtpunkt findet, aus verschiedenen Gründen fraglich geworden: Innerhalb des Staates wird Macht wieder zusehends dezentriert und immer weniger über die klassische Form des vom Parlament (Parlament, Parlamentarismus) beschlossenen Gesetzes ausgeübt; außer- und oberhalb des Staates verflüssigt sie sich in den komplexen Entscheidungszusammenhängen der internationalen und europäischen Mehrebenensysteme. Insofern teilt die V. das Schicksal des in ihr enthaltenen Souveränitätsbegriffs, dessen Grundgedanke eines Zuhöchst-Seins i. S. eines Rechts zum „letzten Wort“ ebenfalls fragwürdig geworden und dessen Zukunft unsicher ist. Ob ein verändertes Verständnis von V. als subjektloses, im Wesentlichen nur noch kommunikatives „Verfahren“ diesen Bedeutungsschwund auffangen kann, wie es etwa von J. Habermas vorgeschlagen ist (Habermas 1992: 600), bleibt vorerst offen.
Literatur
H. Hofmann: Über Volkssouveränität, in: JZ 69/18 (2014), 861–868 • D. Grimm: Souveränität, 2009 • J. Habermas: Faktizität und Geltung, 1992 • P. Graf Kielmansegg: Volkssouveränität, 1977 • H. Kurz: Volksouveränität und Staatssouveränität, 1970 • C. Schmitt: Verfassungslehre, 1928 • F. von Gentz: Ueber den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativverfassungen, in: J. L. Klüber (Hg.): Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation, 21845, 213–223 • E. J. Sieyès: Qu’est-ce que le Tiers-État?, 1789 • J.-J. Rousseau: Du contrat social, 1762.
Empfohlene Zitierweise
U. Volkmann: Volkssouveränität, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Volkssouver%C3%A4nit%C3%A4t (abgerufen: 23.11.2024)