Europäisches Verwaltungsrecht: Unterschied zwischen den Versionen

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Als allgemeine Entwicklungslinien der Europäisierung des Verwaltungsrechts fallen ein Bedeutungszuwachs des Verfahrensgedankens (Prozeduralisierung), eine Stärkung von Transparenz, ein Ausbau von Partizipationsrechten der Öffentlichkeit, eine verstärkte Eröffnung administrativer Entscheidungsspielräume sowie eine Tendenz zur Finalprogrammierung (statt Konditionalprogrammierung) und zur Entpolitisierung einer „völlig unabhängigen“ [[Verwaltung]] (technokratisches Verwaltungsmodell) auf, die aus deutscher Perspektive teilweise zu positiven Reformimpulsen geführt haben (z.&nbsp;B. Eigenwert des Verfahrens), die sich z.&nbsp;T. aber auch an verfassungsrechtlichen Vorgaben des freiheitlichen, demokratischen [[Rechtsstaat|Rechtsstaats]] (Art.&nbsp;19 Abs.&nbsp;4, 20 Abs.&nbsp;2 und 3 GG) reiben und daher kritisch zu betrachten sind (z.&nbsp;B. unabhängige Regulierungsverwaltung).
 
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:07 Uhr

1. Begriff

Das e. V. im engen Sinne umfasst die Rechtsmaterien, die im Zusammenhang mit der Setzung und dem Vollzug des Rechts der EU und der EURATOM stehen. Demgegenüber bezieht sich der Begriff des e.n V.s im weiten Sinne auf alle zwischenstaatlichen Organisationen Europas (ohne räumliche Beschränkung auf die EU), also etwa auch die Verwaltung des Europarates oder des EWR. Gegenstand dieses Artikels ist nur das e. V. im engen Sinne.

2. Rechtsquellen und Unionskompetenzen

Das e. V. speist sich aus sämtlichen Rechtsquellen der EU. Diese sind das Primärrecht, sprich die Unionsverträge (EUV, AEUV, EURATOM-Vertrag) sowie die EuGRC, daneben die auf der Grundlage des Primärrechts erlassenen Sekundärrechtsakte (insb. RL, VO, Beschluss) und das Tertiärrecht als Produkt der administrativen Rechtsetzung durch die Europäische Kommission oder Unionsagenturen in Form von delegierten Rechtsakten (Art. 290 AEUV) sowie Durchführungsrechtsakten (Art. 291 Abs. 2 AEUV).

Über Kompetenzen zur verwaltungsrechtlichen Rechtsetzung verfügt die EU nur, sofern und soweit sie von den Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV) hierzu ermächtigt wurde. Durchbrochen wird dieses Prinzip durch die Lehre von den ungeschriebenen Unionskompetenzen (implied powers) sowie durch die Vertragsabrundungskompetenz gemäß Art. 352 AEUV. Das Verwaltungssystem der EU beruht auf der Aufteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen den Unionsorganen und den Mitgliedstaaten (Trennungsprinzip). Dabei wird die Kompetenz zur Durchführung des Unionsrechts in Art. 291 Abs. 1 AEUV grundsätzlich den Mitgliedstaaten zugewiesen (Grundsatz des indirekten Vollzugs; s. 4.) und liegt nur ausnahmsweise bei der EU (direkter Vollzug; s. 3.). Diese Zweiteilung erfährt jedoch durch das Verbundverwaltungsrecht (Kooperationsprinzip; s. 5.) eine zunehmende Relativierung.

3. Eigenverwaltungsrecht der EU

Das Eigenverwaltungsrecht der EU beschreibt den direkten Vollzug des Rechts der EU durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU. Unter den Verwaltungsorganen nimmt die Kommission eine Schlüsselrolle ein, wobei in jüngerer Zeit aber auch die Bedeutung von selbständigen Unionsagenturen und Ausschüssen (insb. Komitologie-Ausschüsse) stetig wächst. Generell ist eine fortschreitende Diversifizierung der Unionsverwaltung festzustellen, begleitet von einem Trend zur Zentralisierung von Verwaltungsaufgaben auf Unionsebene.

Gegenstände des Eigenverwaltungsrechts sind Regelungen betreffend das Personal und die Organisation der EU selbst (z. B. EU-Beamtenrecht, Geschäftsordnungen der EU-Organe), aber auch Vollzugsakte mit unmittelbarer Außenwirkung gegenüber Privaten, etwa im Rahmen der Wettbewerbsaufsicht. Als Handlungsformen kommen die in Art. 288 AEUV aufgeführten Rechtsakte in Betracht, wobei der Beschluss (Art. 288 Abs. 4 AEUV) eine bes. Bedeutung hat.

Bislang werden die Unionsorgane im EU-Eigenverwaltungsrecht auf der Grundlage des jeweiligen bereichsspezifischen EU-Verfahrensrechts tätig. Etwaige Lücken im geschriebenen Recht werden über die vom EuGH im Wege wertender Rechtsvergleichung entwickelten Allgemeinen Rechtsgrundsätze geschlossen. In jüngster Zeit weist die Entwicklung jedoch in Richtung einer, vom &pfv;Europäischen Parlament angestrebten, einheitlichen Kodifikation des Eigenverwaltungsrechts der EU, für die mit den von einer europäischen Forschergruppe ausgearbeiteten „ReNEUAL-Model Rules“ (2014) ein erster konkreter Entwurf vorliegt. Eine Kodifikation des EU-Eigenverwaltungsrechts könnte einen Beitrag zu mehr Deregulierung, Transparenz und Systembildung im e.n V. leisten.

4. Unionsverwaltungsrecht

Das Unionsverwaltungsrecht steht für das unionsrechtlich überlagerte und überformte („europäisierte“) nationale Recht der Mitgliedstaaten, das diese beim indirekten Vollzug des Unionsrechts anwenden (zum indirekten Vollzug als Regelfall im e.n V. s. o. 2.). Beim unmittelbaren indirekten Vollzug implementieren nationale Behörden unmittelbar geltendes Unionsrecht (insb. VO) im Einzelfall. Beim mittelbaren indirekten Vollzug schaffen die Mitgliedstaaten dagegen in Umsetzung von Unionsrecht (insb. RL) zunächst selbst nationales Recht und vollziehen dieses dann durch ihre Behörden. Den Mitgliedstaaten kommt dabei grundsätzlich eine Verfahrensautonomie zu. Diese besagt, dass sich der indirekte Vollzug, soweit es an einheitlichen unionsrechtlichen Regelungen fehlt, im Prinzip nach den Vorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrens und der nationalen Verwaltungsorganisation erfolgt. Grenzen der Verfahrensautonomie folgen jedoch gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) aus dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot. Danach darf die Anwendung des nationalen Rechts nicht dazu führen, dass die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts unmöglich gemacht oder wesentlich erschwert wird (Effektivitätsgebot) oder dass es zu einer Diskriminierung von Sachverhalten mit Unionsrechtsbezug gegenüber solchen mit rein innerstaatlichem Bezug kommt (Äquivalenzgebot).

Aus den sekundärrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts, aber auch aus dem in einer Vielzahl an Entscheidungen richterrechtlich „ausbuchstabierten“ Effektivitätsgebot als dem „Passepartout“ des Unionsverwaltungsrechts, folgt eine, im Einzelnen unterschiedlich weit gehende, Europäisierung des nationalen Verwaltungsrechts. Die Europäisierung ist dabei zum einen eine materielle, bezieht sich also auf das materielle (nationale) Recht, insb. das bes. Verwaltungsrecht. Einzelne Rechtsgebiete wie das Umwelt- und Wirtschaftsverwaltungsrecht beruhen schon längst zum überwiegenden Teil (die Zahlen schwanken zwischen 70 und 80 %) auf Vorgaben „aus Brüssel“, während andere Bereiche wie das Polizei-, Kommunal- oder Schulrecht deutlich weniger oder kaum unionsrechtlich „imprägniert“ sind. Zu beobachten ist zum anderen eine formelle Europäisierung. Diese erfasst v. a. das nationale Verwaltungsverfahrensrecht (prozedurale Europäisierung), wie beispielhaft die Überformung der nationalen Dogmatik der §§ 48–49a VwVfG bei der Aufhebung unionsrechtswidriger Verwaltungsakte zeigt. Erheblich von der formellen Europäisierung betroffen ist ferner das nationale Verwaltungsprozessrecht (prozessuale Europäisierung). Nationale Institute wie die Verletztenklage (§ 42 Abs. 2 VwGO) oder Strukturen wie die des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80, 80a, 123 VwGO) stehen pars pro toto für dessen unionsrechtliche Überformung.

Als allgemeine Entwicklungslinien der Europäisierung des Verwaltungsrechts fallen ein Bedeutungszuwachs des Verfahrensgedankens (Prozeduralisierung), eine Stärkung von Transparenz, ein Ausbau von Partizipationsrechten der Öffentlichkeit, eine verstärkte Eröffnung administrativer Entscheidungsspielräume sowie eine Tendenz zur Finalprogrammierung (statt Konditionalprogrammierung) und zur Entpolitisierung einer „völlig unabhängigen“ Verwaltung (technokratisches Verwaltungsmodell) auf, die aus deutscher Perspektive teilweise zu positiven Reformimpulsen geführt haben (z. B. Eigenwert des Verfahrens), die sich z. T. aber auch an verfassungsrechtlichen Vorgaben des freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaats (Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 2 und 3 GG) reiben und daher kritisch zu betrachten sind (z. B. unabhängige Regulierungsverwaltung).

5. Europäisches Verwaltungsverbundrecht

Die Dichotomie von direktem und indirektem Vollzug stößt mit fortschreitender Integration immer mehr an ihre Grenzen. Die komplexen Verschränkungen zwischen der EU und Mitgliedstaaten in einem Mehrebenen-System und die Lösung von hierarchiebedingten Problemen erfordert die Ausprägung eines Verwaltungsrechts, in dem EU und Mitgliedstaaten einen Verbund bilden. Das Recht des Europäischen Verwaltungsverbunds ist geprägt durch Kooperation in vertikaler Hinsicht (Union-Mitgliedstaaten), aber auch in horizontaler Dimension (Mitgliedstaaten untereinander). Die Verflechtungen betreffen unterschiedlichste Bereiche (Rechtsetzung, Information, Vollzug, Organisation, Aufsicht u. a.) und weisen nicht selten netzwerkartige Strukturen auf. Typische Erscheinungsform der Europäischen Verbundverwaltung ist die aktive Zusammenarbeit nationaler und unionaler Behörden in gestuften Entscheidungsverfahren, welche etwa im Zoll- und Beihilfenrecht eine erhebliche Rolle spielen.