Gewohnheitsrecht: Unterschied zwischen den Versionen

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Das Verhältnis des G.s zum sonstigen positiven Recht folgt den allgemeinen Kollisionsregeln der <I>lex superior</I> oder <I>lex posterior.</I> Erkennt man die (strittige) Existenz von Verfassungs-G. an, so geht es danach den förmlichen [[Gesetz|Gesetzen]] vor. Im Übrigen kann der parlamentarische Gesetzgeber G. jederzeit außer Kraft setzen. Der umgekehrte Fall der Derogation gesetzlicher Bestimmungen durch langjährige Nichtübung <I>(desuetudo)</I> unterstreicht den normativen Gleichrang des G.s, bleibt aber die seltene Ausnahme.
 
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Die gegenwärtige Bedeutung des traditionellen G.s im modernen demokratischen Verfassungs- und Gesetzgebungsstaat ist vergleichsweise marginal. Verfassungsrechtlich ohnehin ausgeschlossen ist G. zu Lasten des Rechtsunterworfenen im Straf- und im Eingriffsrecht (Art.&nbsp;103 Abs.&nbsp;2 GG). Im Zivilrecht geht §&nbsp;293 ZPO ausdrücklich von der Existenz von G. aus. Die Norm macht zugleich deutlich, dass die verbindliche Feststellung der Existenz von G. regelmäßig Sache der Gerichte ist. Zuletzt hat bspw. der BGH die Eintragungsfähigkeit des Doktortitels in das Partnerschaftsregister auf G. gestützt (Beschl. v. 4.4.2017 – II ZB 10/16), wohingegen das schleswig-holsteinische LVerfG parlamentarisches G. zwar festgestellt hat, es aber nicht für ausreichend hielt, um von der geschriebenen Geschäftsordnung abzuweichen (LVerfG 1/17 vom 17.5.2017).
 
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Vom G. zu unterscheiden sind ferner sogenannte allgemeine Rechtsgrundsätze, wie sie sich namentlich im Völkerrecht, im Unionsrecht (Art.&nbsp;6 Abs.&nbsp;3 EUV) aber auch im allgemeinen [[Verwaltungsrecht]] finden. Sie teilen mit dem G. die fehlende Verschriftlichung, fußen aber auf fundamentalen Gerechtigkeitserwägungen oder normlogischen Prämissen; insofern weisen sie eine Überschneidung zum Kriterium der „Vernünftigkeit“ einer Gewohnheit auf.
 
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Abzugrenzen ist das traditionelle G. zuletzt von zahlreichen Phänomenen der Rechtserzeugung, die vom überkommenen Modell der staats- und gesetzeszentrierten Rechtsetzung abweichen und als Forschungsgegenstand des sogenannten Rechtspluralismus firmieren: Dies betrifft die Erscheinungsformen des <I>soft law</I>, „private“ Rechtsetzung wie die <I>lex mercatoria</I> oder die von Wissenschaftlern formulierten Grundregeln des europäischen Vertragsrechts.
 
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:08 Uhr

1. Begriff

Als G. gilt derjenige Teil des positiven Rechts, der nicht in einem förmlichen Rechtsetzungsverfahren erzeugt wird. Ganz überwiegend sind als Voraussetzung für die Geltung als G. die langdauernde tatsächliche Übung (longa consuetudo) sowie die Überzeugung von der wohlgemerkt rechtlichen Notwendigkeit der Befolgung (opinio iuris vel necessitatis) anerkannt (BVerfGE 22, 114 [121]), wobei das (Prioritäts-)Verhältnis zwischen dem objektiven (Übung) und dem subjektiven Element (Überzeugung) seit jeher differenziert beurteilt wird. Im angloamerikanischen Bereich begegnet daneben das Abstellen auf langdauernde Übung und staatliche Anerkennung derselben. Lediglich lokal geltendes G. wird als Observanz bezeichnet.

Als Geltungsgrund des G.s werden nebeneinander die Anerkennung durch die zur förmlichen Rechtsetzung berufenen Institutionen (unter den Auspizien der Neuzeit also i. d. R. der Staat: die als „Abhängigkeitslehren“ firmierenden Ansätze stellen auf ausdrückliche Gestattung oder zumindest Duldung ab) sowie der freie Willen der dem G. folgenden Rechtsgenossen („Eigenständigkeits“- oder „Willenslehren“) genannt. Im Hintergrund steht die Einsicht, dass G. stets, aber auch erst dann zu einem Rechtsproblem wird, wenn formalisierte Rechtsetzung erstens überhaupt stattfindet und zweitens institutionell monopolisiert wird. Wenn das staatliche Rechtserzeugungsmonopol im demokratischen Verfassungsstaat der Volkssouveränität unterliegt, verschwindet die Frage nach dem Geltungsgrund des G.s, stellt dieses doch nur einen anderen Modus der Rechtserzeugung in freier Selbstbestimmung dar.

Das Verhältnis des G.s zum sonstigen positiven Recht folgt den allgemeinen Kollisionsregeln der lex superior oder lex posterior. Erkennt man die (strittige) Existenz von Verfassungs-G. an, so geht es danach den förmlichen Gesetzen vor. Im Übrigen kann der parlamentarische Gesetzgeber G. jederzeit außer Kraft setzen. Der umgekehrte Fall der Derogation gesetzlicher Bestimmungen durch langjährige Nichtübung (desuetudo) unterstreicht den normativen Gleichrang des G.s, bleibt aber die seltene Ausnahme.

2. Geschichte und gegenwärtige Bedeutung

Ungeachtet in der Spätantike kodifizierter und auch weitertradierter Einschränkungen der Wirkung des G.s gegenüber dem geschriebenen Gesetz (C.8.52.2) dominiert das G. das Rechtsleben des Mittelalters. Mit der Rezeption des gelehrten Rechts beginnen die theoretische Durchdringung des G.s wie seine Abgrenzung; Willens- wie Anerkennungslehren werden grundgelegt (etwa Geltung aufgrund eines tacitus consensus populi). Charakteristisch ist, dass sich die naturrechtlich radizierten Kodifikationen des ausgehenden 18. Jh. strikt gegen das G. wenden (§ 60 ALR von 1794). Im 19. Jh. leistet dann die historische Rechtsschule die (zumindest theoretische) Rehabilitierung des G.s (namentlich Georg Friedrich Puchta und Friedrich Carl von Savigny).

Die gegenwärtige Bedeutung des traditionellen G.s im modernen demokratischen Verfassungs- und Gesetzgebungsstaat ist vergleichsweise marginal. Verfassungsrechtlich ohnehin ausgeschlossen ist G. zu Lasten des Rechtsunterworfenen im Straf- und im Eingriffsrecht (Art. 103 Abs. 2 GG). Im Zivilrecht geht § 293 ZPO ausdrücklich von der Existenz von G. aus. Die Norm macht zugleich deutlich, dass die verbindliche Feststellung der Existenz von G. regelmäßig Sache der Gerichte ist. Zuletzt hat bspw. der BGH die Eintragungsfähigkeit des Doktortitels in das Partnerschaftsregister auf G. gestützt (Beschl. v. 4.4.2017 – II ZB 10/16), wohingegen das schleswig-holsteinische LVerfG parlamentarisches G. zwar festgestellt hat, es aber nicht für ausreichend hielt, um von der geschriebenen Geschäftsordnung abzuweichen (LVerfG 1/17 vom 17.5.2017).

3. Besondere Referenzgebiete

3.1 Völkerrecht

Erhebliche praktische Bedeutung kommt dem G. ungeachtet aller Debatten um die „Konstitutionalisierung“ des Feldes innerhalb des Völkerrechts zu. Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut erkennt ausdrücklich „das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung“ an, wobei in der völkerrechtlichen Debatte wiederum das Verhältnis von objektivem (Übung) und subjektivem Element (Überzeugung) kontrovers diskutiert wird. Das betrifft die relevanten Akteure (Staaten oder alle Völkerrechtssubjekte?) sowie die Methode der Feststellung von Völker-G. (traditionell ist die Sichtung der Staatenpraxis prioritär, während die jüngere Literatur zunächst nach der gemeinsamen Rechtsüberzeugung sucht und diese lediglich durch Praxis validiert, teils auch auf diesen Schritt verzichtet). Verfestigtes völkerrechtliches Handeln ohne Rechtsüberzeugung wird als comity oder courtoisie bezeichnet. Auch im Völkerrecht kann sich regionales G. bilden (für Europa etwa der kategorische Ausschluss der Todesstrafe).

3.2 Kanonisches Recht

Der CIC 1983 widmet dem G. einen eigenen Titel (can. 23–28) und preist die Gewohnheit als „beste Auslegerin der Gesetze“ (can. 27). G. darf weder dem göttlichen Recht (can. 24 § 1) noch einem Gesetz zuwiderlaufen, das sie ausdrücklich verwirft (can. 24 § 2). Positiv setzt die Geltung als G. Vernünftigkeit (can. 24 § 2), die Absicht der Rechtserzeugung (can. 25) sowie entweder bes. Billigung durch den Gesetzgeber oder ununterbrochene 30jährige Übung voraus (can. 26; zur Überwindung eines ausdrücklichen gesetzlichen Verbots zukünftigen G.s ist eine 100jährige oder „unvordenkliche“ Übung notwendig). Außer- oder widergesetzliches G.s kann durch entgegenstehendes G., insb. aber durch Gesetz widerrufen werden (can. 28). Die praktische Bedeutung von G. ist im kanonischen Recht (Kirchenrecht) ungeachtet dieses Versuchs, das Unregelbare zu regeln, ähnlich gering wie im weltlichen Bereich. Das protestantische Kirchenrecht erkennt G. dem Grunde nach an, ohne es näher einzuhegen. Auch im orthodoxen Kirchenrecht gilt G. als Rechtsquelle, wobei vereinzelt die Abgrenzung zum Institut der Oikonomia fraglich wird.

4. Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

Umstritten ist die Abgrenzung des G.s vom Richterrecht. Versteht man dieses als unumgängliche richterliche Rechtsfortbildung, stellt es sich als Weiterdenken des Gesetzesrechts dar; spricht man als Richterrecht demgegenüber die freie richterliche Rechtsschöpfung an, so fehlt dieser Konnex. So oder so geht es typischerweise um kleinere Anerkennungsgemeinschaften, da Richterrecht bereichsspezifisch entsteht und fortentwickelt wird (als Beispiele drängen sich das Arbeits- oder Prüfungsrecht auf), wohingegen G. grundsätzlich auf der Rechtsüberzeugung der gesamten Rechtsgemeinschaft fußt.

Vom G. zu unterscheiden sind ferner sogenannte allgemeine Rechtsgrundsätze, wie sie sich namentlich im Völkerrecht, im Unionsrecht (Art. 6 Abs. 3 EUV) aber auch im allgemeinen Verwaltungsrecht finden. Sie teilen mit dem G. die fehlende Verschriftlichung, fußen aber auf fundamentalen Gerechtigkeitserwägungen oder normlogischen Prämissen; insofern weisen sie eine Überschneidung zum Kriterium der „Vernünftigkeit“ einer Gewohnheit auf.

Überschneidungen mit dem G. weisen auch solche Bestimmungen des geschriebenen Rechts auf, die Rechtswirkungen an eine langjährige Praxis oder Nichtpraxis knüpfen; hierher gehören die Ersitzung (§§ 900, 937 ff. BGB), die Verwirkung sowie die Verjährung. Auch die Schleusen- bzw. Verweisnorm des § 346 HGB (Handelsbrauch, verstanden als „eine im Verkehr der Kaufleute untereinander verpflichtende Regel […], die auf einer gleichmäßigen, einheitlichen und freiwilligen tatsächlichen Übung beruht, die sich innerhalb eines angemessenen Zeitraumes für vergleichbare Geschäftsvorfälle gebildet hat und der eine einheitliche Auffassung der beteiligten Kreise zugrunde liegt“) knüpft an die tatsächliche Übung an und verleiht ihr normative Dignität.

Abzugrenzen ist das traditionelle G. zuletzt von zahlreichen Phänomenen der Rechtserzeugung, die vom überkommenen Modell der staats- und gesetzeszentrierten Rechtsetzung abweichen und als Forschungsgegenstand des sogenannten Rechtspluralismus firmieren: Dies betrifft die Erscheinungsformen des soft law, „private“ Rechtsetzung wie die lex mercatoria oder die von Wissenschaftlern formulierten Grundregeln des europäischen Vertragsrechts.