Kanzlerdemokratie: Unterschied zwischen den Versionen

K (Kanzlerdemokratie)
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Das [[Grundgesetz (GG)|GG]] weist dem Bundeskanzler eine dominierende Position im [[Regierungssysteme|Regierungssystem]] zu: Er wird als einziges Regierungsmitglied vom Bundestag gewählt, schlägt seine Minister zur Ernennung vor und kann nur durch das konstruktive [[Misstrauensvotum]] gestürzt werden. Er verfügt über das gut ausgestattete Bundeskanzleramt und kann durch die Vertrauensfrage seine Regierungskoalition disziplinieren oder Neuwahlen einleiten. Das im GG angelegte Kanzlerprinzip wird allerdings nur auf der Grundlage eines entspr.en [[Parteiensysteme|Parteiensystems]] wirksam. Hierzu gehört die Bereitschaft der Parteien, Regierungen zu bilden und über einen längeren Zeitraum zu unterstützen. I.&nbsp;d.&nbsp;R. besteht eine Personalunion zwischen dem Amt des Bundeskanzlers und dem Vorsitz der größten Regierungspartei. Der Bundeskanzler ist seit der Regierungszeit K.&nbsp;Adenauers in der [[Außenpolitik]] sehr engagiert. Die Gipfeldiplomatie und der Entscheidungsprozess in der [[Europäische Union (EU)|EU]] erweitern nicht nur seinen Handlungsspielraum, sondern auch seine Präsenz in den Medien.
 
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Version vom 15. August 2021, 11:44 Uhr

1. Begriff

Der Begriff K. bezeichnet allg. die herausragende politische Führungsrolle des deutschen Bundeskanzlers und hält sie für ein typisches Merkmal des politischen Systems der BRD. Die Bezeichnung findet sich erstmals in der Publizistik der 50er Jahre im Blick auf die Regierungsführung des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer (1949–63), die mit einer bis dahin in Deutschland unbekannten Stabilität der demokratischen Regierung, mit wirtschaftlichem Wachstum und mit einer zunehmenden Anerkennung der westdeutschen Bundesrepublik im Ausland verbunden war. Dolf Sternberger beschrieb diese Praxis bereits 1953 als „Kanzler-Demokratie“ (Sternberger 1953: 491) und führte den Begriff in die Politikwissenschaft ein. Er war gleichzeitig Ausdruck des wachsenden Selbstbewusstseins der Westdeutschen und ihrer Abgrenzung von der instabilen Weimarer Republik. Wenn Journalisten und Wissenschaftler von einer K. sprachen, verbanden sie hiermit allerdings nicht nur den Respekt, sondern auch Kritik: Nach Fritz René Allemann führte die Etablierung der K. zur „Atrophie der demokratischen Institutionen“ (Allemann 1956: 346 f.). Rüdiger Altmann glaubte einen „Sieg der Regierung über das Parlament“ feststellen zu können (Altmann 1960: 32). Ihre Vorbehalte waren historisch bedingt, denn populäre Politiker in Deutschland, wie Otto von Bismarck und Paul von Hindenburg, vertraten i. d. R. autoritäre Staatsvorstellungen. K. Adenauer stützte sich jedoch auf die Koalitionsmehrheit des gewählten Bundestages und konnte 1953 und 1957 mit der CDU/CSU sogar die absolute Mehrheit erreichen. Ernst Fraenkel bezeichnete 1959 die K. als eine Parallelerscheinung zur britischen Premierminister-Demokratie und fügte hinzu: „Das vielleicht erstaunlichste an der neudeutschen Kanzlerdemokratie ist das Erstaunen, das die Entdeckung ihrer Existenz hervorgerufen hat“ (Fraenkel 1960: 328).

Die Charakterisierung der BRD als K. blieb nach K. Adenauer umstritten: Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger galten als schwache Kanzler, denen das Attribut der K. nicht zuerkannt wurde. In der wissenschaftlichen Diskussion dominierte zunächst die Auffassung, nur die Regierungszeit K. Adenauers sei als K. anzusehen und eine Fortsetzung dieses Regierungstyps nicht zu erwarten. Jost Küpper zeigt in seiner umfangreichen Studie, dass die Führungskraft K. Adenauers gegen Ende seiner Regierungszeit nachließ und beschreibt die Jahre von 1959 bis 1963 als „Ende der Kanzlerdemokratie“ (Küpper 1985: 333). Nach Anselm Doering-Manteuffel (1991: 4) bezeichnet K. politische, verfassungsrechtliche, personnelle und gesellschaftliche Besonderheiten, die nur unter K. Adenauer bestanden. Für Wolfgang Jäger gab es zwar unter Willy Brandt und Helmut Schmidt noch zwei Varianten der K. Neue Rahmenbedingungen hätten jedoch den Spielraum des Regierungschefs nach und nach eingeengt, sodass der Begriff inzwischen „historisch überholt“ (Jäger 1988: 31) sei. In Zukunft könne der Bundeskanzler nur noch die Aufgabe eines Koordinators zwischen den Regierungsparteien wahrnehmen. Mit dem Übergang von H. Schmidt zu Helmut Kohl sei die Bundesrepublik deshalb nicht mehr als K., sondern als Parteiendemokratie zu bezeichnen. Nach Evelyn Schmidtke bildet die Parteiendemokratie (H. Kohl) den Gegenpol zur K. Während unter K. Adenauer die K. dominierte, hatte demnach zur Zeit H. Kohls die Parteiendemokratie ein stärkeres Gewicht. Die erfolgreiche Wiedervereinigungspolitik H. Kohls sowie die Regierungsführung Gerhard Schröders und Angela Merkels haben jedoch bewirkt, dass die Bezeichung K. zur Charakterisierung des politischen Systems der Bundesrepublik inzwischen allg. anerkannt ist.

2. Grundlagen

Das GG weist dem Bundeskanzler eine dominierende Position im Regierungssystem zu: Er wird als einziges Regierungsmitglied vom Bundestag gewählt, schlägt seine Minister zur Ernennung vor und kann nur durch das konstruktive Misstrauensvotum gestürzt werden. Er verfügt über das gut ausgestattete Bundeskanzleramt und kann durch die Vertrauensfrage seine Regierungskoalition disziplinieren oder Neuwahlen einleiten. Das im GG angelegte Kanzlerprinzip wird allerdings nur auf der Grundlage eines entspr.en Parteiensystems wirksam. Hierzu gehört die Bereitschaft der Parteien, Regierungen zu bilden und über einen längeren Zeitraum zu unterstützen. I. d. R. besteht eine Personalunion zwischen dem Amt des Bundeskanzlers und dem Vorsitz der größten Regierungspartei. Der Bundeskanzler ist seit der Regierungszeit K. Adenauers in der Außenpolitik sehr engagiert. Die Gipfeldiplomatie und der Entscheidungsprozess in der EU erweitern nicht nur seinen Handlungsspielraum, sondern auch seine Präsenz in den Medien.

Die K. zeichnete sich seit der Zeit K. Adenauers durch den Dualismus zwischen dem Regierungs- und dem Oppositionslager aus, das den Amtsinhaber mit einem Kanzlerkandidaten herausfordert. Die Wahl der Abgeordneten wurde auf diese Weise mit der Wahl des Regierungschefs verknüpft. Die K. entspr. damit der idealtypischen Herrschaftsanalyse von Max Weber: Der charismatische Führer (Kanzler) erreicht die „freie Anerkennung durch die Beherrschten“ und damit demokratische Legitimität (Weber 1964: 165). Hier wird deutlich, dass die K. auf Zustimmungsmechanismen beruht, die jenseits von Verfassung und Parteiensystem liegen. Der Journalist Alfred Rapp bezeichnete bereits 1959 die beiden Bundestagswahlen von 1953 und 1957 als „eine Art Volkswahl des Bundeskanzlers“. Auf diese Weise sei das von den Grundgesetzautoren „verfehmte plebiszitäre Element“ sozusagen durch die Hintertür wieder in die neue deutsche Demokratie eingetreten (Rapp 1959: 54 f.).

Charisma der Regierungschefs und Personalisierung der Wahlkämpfe lassen sich auch in anderen modernen Demokratien beobachten, werden dort aber in der Regel als normale Erscheinung bewertet. Im US-amerikanischen Präsidialsystem sind sie von der Verfassung vorgesehen. In Großbritannien stritten bereits im 19. Jh. Parteiführer wie William Gladstone und Benjamin Disraeli um das Amt des Regierungschefs. Die britische Kabinettsregierung verwandelte sich in eine Regierung des Premierministers und unter dem Eindruck der rigorosen Führungsrolle der Premierministerin Margaret Thatcher (1979-90) glaubte man dort sogar den Übergang zu einem Präsidialsystem feststellen zu können. In Frankreich sorgte die Führungsrolle von Charles de Gaulle in der von ihm 1958 gegründeten Fünften Republik für Irritationen und löste eine Grundsatzdiskussion über personalisierte Macht in der Demokratie aus. Maurice Duverger bezeichnete die faktische Direktwahl des Regierungschefs als Kennzeichen einer republikanischen Monarchie, in der sich die Bürger ihre Könige wählen.

3. Systematisierung

Die Diskussion in Wissenschaft und Publizistik wurde lange Zeit von der Regierungsführung des jeweiligen Bundeskanzlers bestimmt. L. Erhard und K. G. Kiesinger, aber auch H. Kohl in seiner Schwächeperiode vor der Wiedervereinigung, wurde das Gütesiegel K. verweigert. Indem sie den Begriff von der Stärke oder Schwäche des jeweiligen Bundeskanzlers lösten, wiesen der Journalist Johannes Gross und der Politikwissenschaftler Peter Haungs den Weg zur Systematisierung. Demnach bestand z. B. auch bei L. Erhard eine K., weil hiermit nicht der Amtsinhaber, sondern das Regierungssystem und die politische Mentalität in der BRD bezeichnet wird. Der nächste Schritt zur Systematisierung war die Identifizierung von fünf Merkmalen der K. bei Karlheinz Niclauß: die Durchsetzung des Kanzlerprinzips in der Regierungsorganisation, die Unterstützung des Bundeskanzlers durch die Kanzlerpartei, der Gegensatz zwischen Regierungslager und Opposition, das außenpolitische Engagement des Kanzlers sowie die mit starker Medienpräsenz verbundene Personalisierung. Anhand dieser Kriterien gelingt es, nicht nur die Amtsführung des erfolgreichsten Regierungschefs zu analysieren, sondern auch die eines Kanzlers, der mit seiner Abwahl oder mit seinem Sturz rechnen muss.

4. Neue Entwicklungen

Urspr. schien eine Große Koalition von CDU/CSU und SPD die Bildung einer K. auszuschließen. In der ersten Großen Koalition agierte Bundeskanzler K. G. Kiesinger (1966–69) aufgrund seiner Koordinierungsaufgaben vorwiegend als „wandelnder Vermittlungsausschuss“. Auch die Polarisierung zwischen Regierung und Opposition wurde in dieser Konstellation kaum spürbar, weil die FDP als einzige Oppositionspartei zu schwach für eine Regierungsalternative war. Die beiden Großen Koalitionen unter der Führung von A. Merkel (2005–09 und 2013–17) zeigten jedoch, dass die Kanzlerin auch in solch einem Bündnis eine dominierende Position einnehmen kann. Zwar fehlte auch hier wegen der Unterschiedlichkeit der Oppositionsparteien die Alternative. Alle anderen Merkmale der K. waren jedoch voll ausgebildet. Personalisierung, Medienpräsenz und Außenpolitik bilden stärker denn je das Fundament dieses Regierungstyps.