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Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr
Der Begriff S., der sich im 19. Jh. in England etabliert hat, wird bis heute uneinheitlich verwendet. Weltweit existieren unterschiedliche Typen von „Elendsvierteln“ mit länderspezifischen Konnotationen (bspw. Favela, informal settlement, Ghetto). Um dennoch eine gewisse quantifizierbare und vergleichbare Merkmalsbestimmung von S.s zu erzielen, bezeichnen die UN einen Haushalt als S., wenn er eines oder mehrere dieser Kriterien nicht erfüllt: Zugang zu Trinkwasser und sanitären Anlagen, ausreichender Wohnraum mit angemessener Bausubstanz sowie Rechtssicherheit vor Zwangsräumung und Vertreibung. Diesen Richtlinien zufolge lebten 2014 eine Mrd. Menschen in S.s, der weitaus größte Teil davon im Globalen Süden. Auch wenn sich dort der prozentuale Anteil zwischen 2000 und 2014 von 39 % auf 30 % verringert hat, steigen die absoluten Zahlen an. Regional aufgeschlüsselt lebt etwas mehr als die Hälfte der urbanen Bevölkerung in Afrika südlich der Sahara in S.s, in Asien nahezu ein Drittel und in Lateinamerika, der Karibik sowie in Ozeanien ein knappes Viertel.
An der Aussagekraft einer universellen Definition von S.s herrschen Zweifel, da sie eklatante regionale Unterschiede sowie das Selbstverständnis der Bewohner ignoriert. Außerdem verleitet sie dazu, S.s als eigenständigen Siedlungstypus zu verstehen, der territorial wie sozial eingrenzbar ist und vom städtischen Umfeld quasi getrennt existiert. Derartige Vorstellungen gelten wissenschaftlich als überholt. S.s sind räumlicher Ausdruck sozioökonomischer Ungleichheit und inhärenter Teil der urbanen Gesellschaft, die sie produziert. Ihre Bandbreite ist enorm: S.s können ehemalige Mittelschichtviertel sein, die durch wirtschaftlichen Abschwung, politische Benachteiligung und Verfall der Infrastruktur entstanden sind und sich in direkter Nachbarschaft zu Luxusapartments befinden; es können auch Viertel an Stadträndern sein, die durch Landbesetzungen neu entstanden sind. Entgegen gängiger Vorstellungen herrschen in S.s große sozioökonomische Unterschiede, die von mit Gewalt durchgesetzten Hierarchien (Slumlords) bis zu solidarischen Nachbarschaftsnetzwerken reichen. In den Medien werden S.s oft stereotyp als der Normalität entgegenstehend, rückständig, krankmachend und kriminell dargestellt, aber auch als exotisch und geheimnisvoll.
Definiert man S.s als relativ arme Viertel, die vom dominanten Stadtbild abweichen, sind sie so alt wie Städte selbst. Generell wird die Entstehung von S.s im Zuge der Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution), Urbanisierung und des radikalen gesellschaftlichen Umbruchs des 19. Jh. gesehen. Beispielhaft dafür sind London und New York, wo das Leben der Arbeiter in überbelegten, mangelhaft ausgestatteten Behausungen die sozialräumliche Segregation der Einwohner beförderte. Die Choleraepidemie und die Dokumentation der elenden Lebensumstände (u. a. von Charles Booth, Edwin Chadwick, Friedrich Engels, Jacob Riis) führten zu Sanierungsmaßnahmen und sozialreformerischen Debatten über die sog.en deserving und undeserving poor, d. h. die durch eigene Schuld oder durch Schicksal verarmte Bevölkerung. Außerhalb Europas waren S.s von Kolonialismus sowie von Gesundheits- und Hygienevorstellungen geprägt, die eine rassistische Segregationspolitik (Rassismus) legitimierten. In den USA und in Kanada bildeten sich ethnisch geprägte, stigmatisierte Viertel wie Chinatown oder Little Italy heraus, deren Lebenswelten von der Soziologie (u. a. Chicagoer Schule) untersucht wurden.
Im 20. Jh. prägten spezifische Vorstellungen von Fortschritt und Moderne die Stadtentwicklung. Als Folge strebten in der Nachkriegszeit viele europäische und nordamerikanische Städte eine Erneuerung an. In den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden bereits damals umstrittene Modernisierungsprojekte, die der Revitalisierung – und damit der „Säuberung“ – innerstädtischer Zonen dienten. Sozial schwache Stadtviertel wurden niedergewalzt oder an den Stadtrand umgesiedelt, um Raum für investitionsträchtige Projekte zu schaffen. Dagegen formierte sich Widerstand, der die strukturelle Benachteiligung von S.s anprangerte und u. a. auf hohe Umweltbelastungen und Standortnachteile verwies. Insb. in den USA engagierten sich soziale Bewegungen gegen die Stigmatisierung der häufig von African Americans bewohnten S.s als selbstverschuldete Lebensform. S.s wurden nun als hoffnungsvolle Orte des Kampfes gegen soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit gesehen (slums of hope). Aufgrund des Drucks von Bürgerinitiativen verbesserte sich die Lage in einigen Stadtvierteln merklich.
Im 21. Jh. verstehen die UN die massive Ausbreitung von S.s im Globalen Süden als Bedrohung einer globalen urbanen Nachhaltigkeit und machen ihre Eindämmung zum Gegenstand der Millenniumsziele und der Ziele für nachhaltige Entwicklung. Im Zuge des Bevölkerungswachstums, der Urbanisierung und des spekulativen Immobilienmarkts gilt neben der Landflucht die Verarmung städtischer Bevölkerung als bedeutende Ursache für die S.-Bildung. Landbesetzungen und der informelle Sektor gelten als Wesensmerkmale von S.s, obwohl tatsächlich viele S.-Bewohner im formellen Sektor tätig sind. Teilweise werden S.s sukzessive legalisiert und an die urbane Infrastruktur angeschlossen.
Während die pathologisierenden Darstellungen von S.s – heute oft als Umweltproblem – Vertreibung und Abriss weiterhin legitimieren, verwenden S.-Bewohner den Begriff zunehmend als Selbstbeschreibung, um staatliche Unterstützung und juristischen Beistand zu erhalten sowie um ihre internationale Vernetzung voranzutreiben (vgl. shack/slum dwellers international). Zudem existieren neue Formen der Inwertsetzung von S.s durch Filme (bspw. Slumdog millionaire), S.-Biennalen, Musik- und Kunstprojekte sowie Tourismus. Durch die Präsenz von S.s in sozialen Medien erhöht sich zwar ihre Sichtbarkeit, die Lebensumstände der Bewohner verbessern sich dadurch allerdings nicht zwangsläufig.
Literatur
E. Dürr: Slum(scapes). Armut und mobile Erlebniswelten, in: J. Kersten (Hg.): Inwastement, 2016, 131–152 • UN-Habitat: Slum Almanach, 2015 f. • M. Huchzermeyer: Troubling Continuities. Use and Utility of the Term „Slum“, in: S. Parnell/S. Oldfield (Hg.): The Routledge Handbook on Cities of the Global South, 2014, 86–97 • D. Mitlin/D. Satterthwaite: Urban Poverty in the Global South, 2013 • H. C. Petersen (Hg.): Spaces of the Poor, 2013 • F. Frenzel u. a. (Hg.): Slumtourismus, 2012 • M. Davis: Planet der Slums, 2007 • A. Gilbert: The Return of the Slum. Does Language Matter?, in: IJURR 31/4 (2007), 697–713.
Empfohlene Zitierweise
E. Dürr: Slum, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Slum (abgerufen: 05.12.2024)