Todesstrafe: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr
„Die Todesstrafe ist abgeschafft“. Art. 102 des GG formuliert unmissverständlich: Die Androhung, die Verhängung und die Vollstreckung der T. sind unzulässig. Damit wurde 1949 – auch unter dem Eindruck des Missbrauchs der T. als Terrorinstrument (Terror) während der nationalsozialistischen Herrschaft (Nationalsozialismus) – schließlich Verfassungsrecht, was bereits 100 Jahre zuvor in der Paulskirchenverfassung angelegt war; schon diese hatte „ausgenommen, wo das Kriegsrecht sie vorschreibt“ (§ 139), die Abschaffung der T. verfügt. Auch in der Schweiz (seit 1937) und in Österreich (seit 1950, seit 1968 auch im Kriegsrecht) ist die T. abgeschafft; in der DDR wurde sie es erst 1987.
Die Rechtslage im deutschsprachigen Raum fügt sich in den globalen Trend der Zurückdrängung der T., der sich etwa seit dem letzten Drittel des 20. Jh. mit wachsender Dynamik entfaltet. Inzwischen hat die große Mehrheit der Staaten, darunter alle Mitgliedstaaten der EU, die T. abgeschafft oder wendet sie nicht mehr an. Demgegenüber hält eine beachtliche Minderheit der Staaten – 2018 über 50 – weiterhin an der T. fest. Im Jahr 2017 verzeichnete Amnesty International weltweit knapp 700 Hinrichtungen (ohne China), wobei die Dunkelziffer erheblich höher sein dürfte und lediglich drei Staaten (Iran, Saudi-Arabien, Irak) für über 80 % aller bekannt gewordener Hinrichtungen verantwortlich waren.
Während die T. historisch durchaus gewichtige Fürsprecher hatte – Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Immanuel Kant, Martin Luther –, aber auch Widerspruch fand – Cesare Beccaria, Albrecht Friedrich Berner, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Voltaire –, dominieren heute nicht nur in der Rechtswissenschaft eindeutig ihre Gegner. Völlig verstummt ist der Ruf nach der T. freilich nicht. V. a. nach terroristischen Attentaten (Terrorismus) und Sexualverbrechen an Kindern wächst in der Bevölkerung die Bereitschaft, das kategorische Verbot der T. aufzuweichen. Dabei wird die Wiedereinführung der T. in Deutschland wohl selbst durch verfassungsänderndes Gesetz nicht möglich sein (Art. 1 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG); der Primat der Unantastbarkeit der Menschenwürde erfordert es, auf die T. zu verzichten und damit den absoluten Lebensschutz als einen der höchsten Verfassungswerte zu bekräftigen.
Die Bewertung der T. hat zwischen der Frage ihrer verfassungs- und völkerrechtlichen Rechtmäßigkeit auf der einen und ihrer ethisch-theologischen Legitimität sowie der kriminalpolitischen Gebotenheit auf der anderen Seite zu unterscheiden.
Anders als nach deutschem Verfassungsrecht ist die T. nach universellem Völkerrecht nicht prinzipiell verboten, vielmehr grundsätzlich als rechtmäßige strafrechtliche Sanktion anerkannt, unterliegt aber Einschränkungen. So darf sie nur wegen schwerster Straftaten und nur gegen erwachsene Täter verhängt und nicht gegen Schwangere vollstreckt werden (Art. 6 Abs. 2–6 IPbpR von 1966; vgl. aber auch ZP II zu IPbpR von 1989 und A/Res/62/149 von 2008).
Auch die EMRK aus dem Jahre 1950 erlaubt die Verhängung und Vollstreckung der T. unter bestimmten Bedingungen (Art. 2 Abs. 1). Freilich sieht der EGMR in der nachfolgenden Staatenpraxis, u. a. angesichts des sechsten und dreizehnten Zusatzprotokolls, „starke Hinweise“ darauf, dass die T., insofern contra legem conventionis, unter allen Umständen verboten sei (Al-Saadoon und Mufdhi v Vereinigtes Königreich). Neben der Bestimmung über die T. selbst ergibt sich eine zweite, selbstständige menschenrechtliche Schranke aus dem Verbot unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK). Bereits 1989 hatte der EGMR festgestellt, dass die Auslieferung einer Person an einen Staat, in dem der betroffenen Person die T. droht, unter bestimmten Bedingungen gegen Art. 3 (nicht Art. 2!) verstoßen könne (Soering v Vereinigtes Königreich; s. a. § 8 IRG). Für die Mitgliedstaaten der EU ist die Regelung der EMRK durch Art. 2 Abs. 2 EuGRC zusätzlich abgesichert und klargestellt: Niemand darf zur T. verurteilt oder hingerichtet werden.
Ob die T. ethisch legitimierbar ist, ist zweifelhaft. So wird versucht, den Gedanken der Verwirkung fruchtbar zu machen: Wer einem anderen Menschen vorsätzlich das Leben nehme, verwirke hierdurch sein Recht auf das eigene Leben. Im Strafrecht freilich hat der Verwirkungsgedanke, auch jenseits der Frage der T., keinen Niederschlag gefunden (so verwirkt der Betrüger nicht sein Vermögen). Nicht begründen lässt sich die T. jedenfalls unter einem theologischem Gesichtspunkt. Die einschlägigen Stellen des AT (Gen 9,6; Ex 21,12) können nicht für die T. geltend gemacht werden. Denn zum einen wird die T. dort, wo von ihr die Rede ist, keinesfalls ausdrücklich legitimiert, sondern vielmehr als zeitgenössisches Institut vorausgesetzt; zum anderen geht es historisch gerade darum, die im eigentlichen Sinne maßlose Rache einzudämmen, nicht auszudehnen.
Dem entspricht inzwischen auch die offizielle Haltung der christlichen Kirchen. Obwohl die katholische Kirche bereits in den 1960er Jahren von der T. abrückte, wurde der Katechismus, der bis dahin die T. für schwerste Taten als zulässig ansah, erst im Jahre 2018 revidiert. Nach Art. 2267 ist die T. unzulässig, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstoße. Auch der Rat der EKD, der ÖRK sowie die große Mehrheit der protestantischen Kirchen haben vielfach erklärt, dass die T. unvereinbar sei mit einer christlichen Ethik des Verzeihens und Vergebens.
Aus strafjuristischer Perspektive wirft die T. eine Reihe grundsätzlicher Fragen auf. Zweifelhaft ist schon, ob es sich überhaupt um Strafe (i. S. d. Zufügung eines Übels) handelt. Ob der Zustand des Totseins selbst sich in diesem Sinne begreifen lässt, ist notwendig ungewiss. Jedenfalls nicht den Charakter einer Strafe kann die Aussicht auf das Sterbenmüssen als solche haben; diese bildet vielmehr ein unausweichliches Grunddatum menschlichen Seins. Der staatlich verfügten Vernichtung menschlichen Lebens lässt sich allenfalls unter zwei Gesichtspunkten überhaupt Strafcharakter zusprechen, nämlich durch das objektive Moment der Verkürzung der Lebenszeit (wobei offen bleibt, in welchem Umfang das Leben in concreto verkürzt wird) sowie das subjektive Moment der dem Akt der Vollstreckung vorausgehenden Aktivierung der (ebenfalls schwer quantifizierbaren und im Übrigen, wenn auch i. d. R. unbewusst, stets vorhandenen) Angst vor dem Tod.
Auch soweit man der T. Strafcharakter zusprechen möchte, ist sie aus kriminalpolitischer Perspektive nicht geboten. Rache und Sühne sind dem säkularen, rechtsstaatlichen Strafrecht fremde Gesichtspunkte. Ein auf Schuldausgleich zielendes Vergeltungsstrafrecht sieht sich im Blick auf die T. schon mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich ein der Schuld proportionales Strafquantum aus den oben genannten Gründen nicht bestimmen lässt. Im Übrigen wäre es ein Missverständnis, dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zu entnehmen, die Strafart müsse die Tat ihrem Typus nach reflektieren (z. B. T. bei Tötungsdelikt); es ist vielmehr das Strafmaß, das die Tat wiederspiegeln soll.
Auch vom utilitaristischen Standpunkt (Utilitarismus), der die Zweckorientierung der Kriminalsanktion akzeptiert und auf die Verhinderung der Begehung zukünftiger Taten gerichtet ist, ergibt sich nicht, dass die T. geboten wäre. Fehl geht das Argument, die T. sei als Mittel zur Abschreckung notwendig. Empirisch lässt sich eine Zunahme von Straftaten nach der Abschaffung der T. nicht nachweisen. Ferner ist heute unbestritten, dass nicht die Heftigkeit einer Sanktion – ihre „Härte“, Höhe oder Dauer – abschreckend wirkt, sondern die Wahrscheinlichkeit der Sanktionierung der Tat. Auch eine zweckrationale Fundierung der Strafe aus dem Aspekt der Normstabilisierung vermag nichts Durchgreifendes für die T. beizutragen. Die Sicherung der Gemeinschaft vor dem Täter – i. S. einer negativen Spezialprävention – kann auch durch seine (lebenslange) Einsperrung erreicht werden, zumal die Wiederholungsgefahr bei den Tätergruppen, bei denen typischerweise die Vollstreckung der T. in Betracht kommen wird, etwa den Tätern von Tötungsdelikten, ohnehin unterdurchschnittlich ist. Der Umstand, dass nur die T., einmal vollstreckt, absoluten Schutz vor weiteren Taten des Täters bieten kann, ihre Irreversibilität also, bildet zugl. eines der stärksten Argumente gegen sie. Fehlurteile sind nie auszuschließen. So mussten seit 1973 in den USA über 150 Menschen, davon 80 allein in den vergangenen 20 Jahren, wegen Zweifeln an ihrer Schuld aus den Todeszellen entlassen werden. Schließlich spricht auch das weitgehend ungelöste Problem der Vollstreckung der T. gegen sie. Der Nachweis ihrer menschenwürdigen Vollstreckbarkeit steht in der Praxis noch aus, nicht nur im Blick auf das sog.e death row-Syndrom.
Nach allem ist die T. kriminalpolitisch nicht zu rechtfertigen. Auch unter einem theologischen Gesichtspunkt lässt sie sich nicht begründen. Obwohl das Völkerrecht die Verhängung und Vollstreckung der T. unter bestimmten Bedingungen (noch) erlaubt, steht ihrer Wiedereinführung in Deutschland zwingendes Verfassungsrecht entgegen.
Literatur
A. Kreuzer: Die Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland. Mit Vergleichen zur Entwicklung in den USA, in: ZIS 1/8 (2006), 320–326 • C. Beccaria: Von den Verbrechen und von den Strafen (1764), 2005 • A. Koch: Die Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik, in: RuP 41/4 (2005), 230–236 • C. Boulanger/V. Heyes/P. Hanfling (Hg.): Zur Aktualität der Todesstrafe, 1997 • W. A. Schabas: The Abolition of the Death Penalty in International Law, 1993.
Empfohlene Zitierweise
F. Jeßberger: Todesstrafe, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Todesstrafe (abgerufen: 23.11.2024)