Zukunftsforschung: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Category:Politikwissenschaft]]

Version vom 14. November 2022, 06:02 Uhr

Seit einem halben Jahrhundert gibt es in der westlichen Welt eine systematische Z. auf wissenschaftlicher Basis („Zukunftswissenschaft“). Z. hat es wesentlich mit Prognosen zu tun. Der Begriff „Prognose“ stammt aus der allg.en Medizin und bezeichnet die vorausschauende Beurteilung des Verlaufs und Ausgangs einer Krankheit. Die Prognose wird aus der Diagnose abgeleitet. Ist die Diagnose richtig, ist auch die Treffsicherheit der Prognose groß. Prognosen lassen sich definieren als wissenschaftsbasierte Voraussagen – im Unterschied zu allg.en Voraussagen, die jeder jederzeit treffen kann, ohne dass ihre Zuverlässigkeit überprüfbar ist. Nicht jede Voraussage ist eine Prognose, jede Prognose aber eine Voraussage. Wissenschaftliche Prognosen sind relativ präzise – wie Wahlprognosen, die i. d. R. nur um ein bis zwei Prozentpunkte vom amtlichen Endergebnis abweichen. Anders sieht es allerdings mit Voraussagen aus, die lange Zeiträume von mehr als 20 Jahren im Blick haben oder sich auf sehr komplexe, ihrerseits der Kontingenz unterworfene Systeme beziehen.

Zu den Kernthemen einer wissenschaftsbasierten Z. gehören Fragen wie: Wie werden wir in Zukunft arbeiten und leben? Welche Gesellschaft werden wir dann haben? Was hält unsere Gesellschaft in Zukunft zusammen? Und wie „wollen“ wir leben? – und dies unter Berücksichtigung globaler Probleme wie z. B. der Bevölkerungsexplosion, des Nord-Süd-Gefälles und der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Zukunftswissenschaft

a) ermittelt erstens auf der wissenschaftlichen Basis von Zeitvergleichen (sog.en Zeitreihen) statistisch nachweisbare Entwicklungstendenzen der Gesellschaft und geht den Ursachen und möglichen Folgewirkungen (Chancen, Risiken) für die Zukunft nach;

b) versteht sich zweitens als wissenschaftliche Orientierungs- und Entscheidungshilfe für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, was das Vorausdenken („Antizipation“) von Zukunftsalternativen (sog.e Futuriblen, Futures, Zukünfte) notwendig miteinschließt.

Nach Untersuchungen des Zukunftsforschers Reinhold Popp spiegeln sich in der Systematik einer eigenständigen Z. Teildisziplinen wider, wie z. B. Zukunft der Wirtschaft, der Bildung, der Medizin, der Politik u. a. Zur Z. gehört die Interdisziplinarität.

Zur Entwicklung der Z. in Deutschland trugen insb. die Studien des Club of Rome bei, die einerseits frühzeitige Warnungen aussprachen („Grenzen des Wachstums“ [Meadows u. a. 1972]), andererseits auch wünschbare Zukünfte beschrieben („Der Weg ins 21. Jahrhundert“ [Peccei u. a. 1983]). Hinzu kamen Studien von Horst Opaschowski zur Zukunft von Arbeit und Leben. Als eine der Hauptursachen dafür, warum die wissenschaftliche Z. so lange ein weißer Fleck in der Forschungslandschaft blieb, muss wohl das Fehlen „identitätsstiftender Visionen“ (Steinmüller 2000: 51) angesehen werden.

Die zukunftswissenschaftliche Diskussion in Deutschland bewegte sich nach der Jahrtausendwende zwischen Visionsängsten und Innovationsmüdigkeit. Gefragt waren mehr Gegenwartsanalysen und Problemstudien zu Frieden, Umwelt, Dritter Welt u. a. Erst in den letzten Jahren wird erkannt, dass Z. auch ein Frühwarnsystem sein kann.

Z. ist im engeren Sinne auch Verhaltensforschung und im Unterschied zu Konjunkturprognosen mikrofundiert. Sie liefert Daten zur Verhaltenspsychologie. Z. kann keine Kriege, Krisen oder Katastrophen vorhersagen, aber Erkenntnisse liefern, wie Menschen auf kritische Ereignisse reagieren (z. B. als Folge von Naturkatastrophen oder terroristischen Anschlägen). Eine psychologisch orientierte Prognoseforschung fragt danach:

a) Wie haben Menschen bisher in ähnlichen Situationen reagiert?

b) Sind Regelmäßigkeiten in ihren Reaktionsweisen feststellbar?

c) Lassen sich daraus begründbare Grundsätze über das menschliche Verhalten ableiten?

Aus wünschbaren Zukünften leitet die Forschung Handlungsoptionen für die Zukunft ab, zeigt Handlungsstrategien auf und fragt: Wenn wir in Zukunft „so“ leben wollen – welche Wege müssen wir dann heute gehen? Wissenschaftliche Z. kann Wegweiser und Weichensteller zugl. sein.

In der Z. wird die Grundrichtung einer langfristigen Entwicklung „Zukunftstrend“ genannt. Die Berechnung von Zukunftstrends als Megatrends erfolgt auf der Basis statistischer Zeitreihen. Zukunftstrends sind für die gesellschaftliche Entwicklung der nächsten Jahre richtungweisend. Hermann Lübbe zählt zu den Trends der Zukunft v. a. die „temporale Innovationsverdichtung“ (Lübbe 1996: 117). Weil sich die Innovationsrate pro Zeiteinheit immer mehr erhöht, kommt es zu immer schnelleren Innovationsschüben (Innovation); messbar an der Halbwertzeit – an der Zeit also, die vergeht, bis bspw. die Hälfte der Ergebnisse von Forschungsaussagen als überholt und veraltet gilt. Wenn sich die Innovationsverdichtung weiter so exponentiell entwickelt, dann agieren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft immer hektischer, wenn sie sich nicht auf verlässliche Prognosen stützen können. Georg Picht erklärte schon in den 1960er Jahren, es gebe drei Grundformen, in denen sich das menschliche Denken die Zukunft vor Augen zu stellen vermag: „Prognose, Utopie und Planung“ (Picht 1967: 13). Und Robert Jungk sprach ähnlich von „Voraussage, Voraussicht und Entwurf“ (Jungk 1967).

Z. will verhindern, dass die Gesellschaft von Veränderungen überrumpelt wird. Und sie will helfen, dass Menschen selbst zum Motor von Veränderungen werden. Wer Zukunft gestalten will, muss „wissen, was wird“ (Opaschowski 2019) und wohin die Reise geht oder gehen kann. Z. zeichnet sich durch Überprüfbarkeit aus – basierend auf sozialwissenschaftlichen Methoden wie Interview- und Umfragetechniken, Delphi- und Expertenumfragen (Sozialwissenschaften). Dies können Technikfolgenabschätzungen, Aussagen über Umweltbelastungen, Forschungen zur Zukunft von Arbeit, Medien und Konsum oder Hinweise auf Einstellungsänderungen sein. Zukunftstrends müssen mindestens zehn bis 15 Jahre lang richtungweisend sein, was sie von aktuellen Zeitgeistströmungen unterscheidet. Auf der Basis von Zeitreihen zeichnen sich Zukunftstrends durch Stetigkeit aus. Z. ist eine Wissenschaft gegen Zukunftsangst. Über kritische Gegenwartsanalysen hinaus macht sie Zukunftspotenziale sichtbar und leistet verlässliche Zukunftsorientierungen.