Geopolitik: Unterschied zwischen den Versionen

K (Geopolitik)
K (Geopolitik)
 
Zeile 69: Zeile 69:
 
</p>
 
</p>
 
</div>
 
</div>
 +
{{ #staatslexikon_license: }}
 
</div>
 
</div>
 
{{ #staatslexikon_track_view: {{ARTICLEPAGENAME}} }}
 
{{ #staatslexikon_track_view: {{ARTICLEPAGENAME}} }}
 +
[[Category:Politikwissenschaft]]

Aktuelle Version vom 14. November 2022, 05:55 Uhr

1. Begriffsbestimmung

Begriff und Konzept der G. verbinden zwei Disziplinen – die Geographie und die Politik. Darin liegt die Schwierigkeit einer eindeutigen Definition, die ihren jeweiligen Schwerpunkt entweder im Bereich des Geographischen oder des Politischen haben muss. Ein zweites Problem liegt in der Vorentscheidung darüber, ob man G. vorrangig als eine theoretische Wissenschaft, als akademische Disziplin auffassen, oder ob man sie zuerst als praktische politische Lehre begreifen möchte. Im einen Fall wird man G. nur als eine Wissenschaft („Politische Geographie“) bestimmen können, die den Einfluss der von der natürlichen Gestalt der Erde vorgegebenen geographischen Gegebenheiten auf das politische Handeln untersucht, im zweiten Fall wird man G. als Begründung und Vermittlung politischer Praxis auf der Grundlage einer geographischen Faktenanalyse definieren.

Die Entscheidung für theoretische Wissenschaft oder für politische Praxis hängt wiederum damit zusammen, ob es sich bei den Autoren geopolitischer Schriften um Geographen oder um Staats- bzw. Politikwissenschaftler (Staatswissenschaft, Politikwissenschaft) handelt, ob wissenschaftliche Erkenntnisinteressen oder ob das Bedürfnis nach Vermittlung einer bestimmten politischen Praxis im Vordergrund der Bemühungen stehen. Der Begriff G. wurde bereits um 1900 vom schwedischen Staatswissenschaftler Rudolf Kjellén geprägt, der auch die erste, bis heute diskutierte Definition formulierte: „Die Geopolitik ist die Lehre vom Staat als geographischem Organismus oder als Erscheinung im Raume: also der Staat als Land, Territorium, Gebiet oder […] als Reich. Als politische Wissenschaft hat sie ihr Augenmerk stets auf die staatliche Einheit gerichtet und will zum Verständnis des Wesens des Staates beitragen, während die politische Geographie die Erde als Wohnstätte für ihre menschliche Bewohnerschaft in ihren Beziehungen zu den übrigen Eigenschaften der Erde studiert“ (Kjellén 1924: 45). Knapper und präziser gefasst könnte man die frühe G. nach ihrem eigenen Verständnis auch als „Lehre von der Erdgebundenheit der politischen Vorgänge“ (Haushofer u. a. 1928: 27) definieren, während die neuere Wissenschaft der politischen Geographie um eine weniger geodeterministisch erscheinende Selbstbestimmung bemüht ist und das praktische Moment stärker betont: der Staat wird nun eher als raumwirkender Faktor begriffen und analysiert.

Schließlich spielt G. auch und gerade in der Gegenwart im Rahmen regional- und globalpolitischer Lageanalysen immer noch eine wichtige Rolle. Im Rahmen des konflikthaltigen, von Konkurrenzen verschiedenster Art geprägten Verhältnisses der Weltmächte (USA, Russland, China) und der Mächtegruppierungen zueinander nehmen geopolitische Faktenanalysen zunehmend größere Bedeutung ein.

2. Wissenschaftsdisziplin

G. als Wissenschaft (Politische Geographie) entstand in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, nicht zuletzt als Folge der Aufteilung der Welt durch die europäischen Kolonialmächte und die USA. Die hierdurch geprägte räumlich-zeitliche Verdichtung der Erdbetrachtung fand ihren Niederschlag in einer verstärkten Reflexion über die Beziehungen von staatlich-politischer Existenz und geographischer Lage. Bahnbrechend wirkte neben R. Kjéllen der deutsche Geograph Friedrich Ratzel mit seiner Studie über „Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten“ (1896). Auch in den angelsächsischen Ländern entstand früh eine wissenschaftliche Behandlung geopolitischer Grundfragen, die bes. durch den britischen Geographen Halford John Mackinder vorangetrieben wurde. Dessen Abhandlung über den geographischen Angelpunkt der Weltgeschichte („The Geographical Pivot of History“ [1904]) wurde zum Ausgangspunkt einer internationalen Debatte über die Zusammenhänge von geographischer Lage und politischem Handeln.

In Frankreich arbeiteten Paul Vidal de la Blache und Albert Demangeon an der wissenschaftlichen Etablierung der politischen Geographie, während in der Zwischenkriegszeit Karl Haushofer zum führenden deutschen, allerdings auch umstrittensten Vertreter der neuen Disziplin avancierte („Bausteine zur Geopolitk“ [1928]). Er arbeitete daran, G. zu einem zentralen Element moderner Politikberatung zu machen, gelegentlich auch auf Kosten wissenschaftlicher Maßstäbe. Sein Sohn Albrecht Haushofer versuchte sich dagegen an der Grundlegung einer strikt wissenschaftlich fundierten G. Im angelsächsischen Bereich formulierte bereits während des Zweiten Weltkriegs der US-amerikanische Geograph Nicholas John Spykman mit seiner „Geography of Peace“ (1944) die Grundbegriffe einer neuen G., die auch bereits die Grundlinien einer Nachkriegspolitik der westlichen Alliierten zu umreißen versuchte.

Nach 1945 blühte G. bes. im angelsächsischen Kulturbereich, während die Politische Geographie in Deutschland sich erst von den „Irrwegen“ vergangener Zeiten befreien musste; Martin Schwind und Josef Matznetter gehörten hier u. a. zu den Erneuerern der Disziplin. In Frankreich entstand die géohistoire als neue Nebendisziplin der Geschichtswissenschaft. Unter der Fülle der britischen und amerikanischen wissenschaftlichen Geopolitiker sind bes. Saul Bernard Cohen, der das moderne Grundlagenwerk zur neuen weltpolitischen Lage nach der Jahrtausendwende lieferte („Geopolitics of the World System“ [2003]), sowie Robert David Kaplan („The Revenge of Geography“ [2012]) zu nennen. Eine im Zeichen der Globalisierung sich zu Wort meldende „neue Raumwissenschaft“ ist derzeit bestrebt, die traditionelle geopolitische Analyse wechselnder Machtlagen und Konkurrenzverhältnisse zugunsten „asymmetrischer Weltverhältnisse“ und „postkolonialer“ Ansätze (Schröder/Höhler 2005: 16) in den Hintergrund treten zu lassen.

3. Politisches Argument

Seit es geopolitische Reflexionen gibt, dienen sie als politisches Argument. Der britische Historiker John Robert Seeley hatte bereits 1896 in einem Vergleich der geographischen Lage Großbritanniens und Preußens die einflussreiche These formuliert, das Maß der politischen Freiheit innerhalb eines Staates verhalte sich umgekehrt proportional zu dem Druck, der auf seinen Grenzen laste, und dieser Druck sei in einem Kontinentalstaat mit weit auseinandergezogenen Grenzen wesentlich stärker als in einem durch die See geschützten Inselstaat. Der aus der Militärgeographie kommende US-amerikanische Admiral Alfred Thayer Mahan stellte zur gleichen Zeit in seinem breit rezipierten Werk „The Influence of Sea Power upon History“ (1892) die These auf, dass nur die seebeherrschenden Mächte imstande seien, die Welt ökonomisch, militärisch und politisch zu dominieren.

Die noch einflussreichere Gegenthese zu A. T. Mahan formulierte H. J. Mackinder, der den geographischen „pivot“ (Mackinder 1904; „Angelpunkt“) der Weltgeschichte und auch der aktuellen Politik im bes. bevölkerungs- und rohstoffreichen eurasischen „heart-land“ (Mackinder 1904: 434) erkennen zu können meinte und daher die angelsächsischen Politiker zu einem radikalen Umdenken aufforderte: Die Verhinderung eines deutsch-russischen „Kontinentalblocks“ erschien nun als wichtigstes Ziel britischer Weltpolitik. K. Haushofer kehrte einige Jahre später die Kontinentalblock-These um, indem er den Wiederaufstieg Deutschlands zur Weltmacht von der Begründung eines engen deutsch-russisch-japanischen Mächtebündnisses abhängig machte. N. J. Spykman wiederum erweiterte H. J. Mackinders „Herzland“-Theorie um die Auffassung, dem äußeren Randgebiet um das Herzland (rimland) komme künftig die eigentliche geopolitische Bedeutung zu; diese These präformierte bereits die amerikanische Containment-Politik der Nachkriegszeit.

Während der Ära der Ost-West-Spaltung und des Kalten Krieges dienten geopolitische Theorien ebenfalls politischen Zwecken, im Westen v. a. der Abwehr der vom kommunistischen Machtblock (UdSSR, VR China) ausgehenden „Weltrevolution“, die man als Griff nach der Weltherrschaft interpretierte. Die von H. J. Mackinder ausgesprochenen Warnungen vor dem künftigen Machtpotential des „Herzlandes“ wurden in zeitgemäßer Fassung erneuert, u. a. von James Burnham („The Struggle for the World“ [1947]), allerdings auch von anderen Autoren, etwa Hans Weigert („New Compass of the World“ [1949]), als geodeterministisch in Frage gestellt.

Der weltpolitische Umbruch von 1990/91 und der Zerfall des Sowjetimperiums brachte neue Fragestellungen mit sich: Kennzeichnend wurde (neben der Wiederkehr älterer „One World“-Ideologien) die neue These von der zunehmenden Konflikthaltigkeit kulturell-religiöser Grenzen, die Samuel P. Huntington betonte („The Clash of Civilisations“ [1996]); einflussreich war und ist ebenfalls die Reformulierung der „Herzland“-These durch Zbigniew Brzezinski („The Grand Chessboard“ [1997]), der im „großen Schachbrett“ Eurasien den künftig wichtigsten Schauplatz der Weltpolitik erkannte.

4. Wissenschaftliche Kritik und politische Praxis

Die G. war niemals unumstritten, sondern wurde früh wegen ihrer vermeintlich deterministischen Prämissen kritisiert. Seit den 1980er Jahren entwickelte sich eine „kritische G.“, deren Bestreben darauf hinausläuft, geopolitische Theoreme als „essentialistische“ Konstrukte im Rahmen von „Machtdiskursen“ zu entlarven, dafür wiederum „Räume“ als Netze von variablen Relationen und Positionen zu begreifen. So notwendig auch eine kritische Hinterfragung mancher traditioneller Denkweisen einer G. gewesen sein mag, die dazu tendierte, Räume und geographische Gegebenheiten vorschnell als vermeintlich „gesetzmäßig“ determinierende Faktoren von Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie) und Politik zu verabsolutieren, bleibt festzuhalten, dass es der „kritischen G.“ nicht gelungen ist, geopolitisches Denken konsequent in Frage zu stellen oder dessen Kernthesen zu widerlegen. Neuere wissenschaftliche Ansätze tendieren eher zu einer „possibilistische[n] Sichtweise […,] die den Raum nicht verabsolutiert, sondern ihn als variablen Faktor ansieht, der in Verbindung mit subjektiven Handlungsweisen die politische Entwicklung zu beeinflussen vermag“ (Meyer 2014: 335).

Angesichts der vielfältigen Krisenlagen in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jh. kann man kaum noch vom „death of geopolitics“ (Blouet 2001: 159) im Zeitalter der Globalisierung sprechen. Im Gegenteil: Die andauernde Konflikthaltigkeit der internationalen Beziehungen (Internationale Konflikte) wiederlegt auch die neuere These, im Rahmen der unaufhaltsamen Expansion eines globalen, westlich-kapitalistisch dominierten „Imperiums“ vollziehe sich die Euthanasie der traditionellen, an Grenzen aller Art, d. h. an Nationalstaaten, Territorien, Bündnissystemen und Einflusszonen orientierten G. Der Zusammenprall der Kulturen generiert ebenfalls neue internationale Konfliktfelder, vornehmlich im Nahen Osten. Die politische Regeneration Russlands, der wirtschaftliche und politische Aufstieg Chinas, letztlich auch die Neuorientierungsversuche des früheren Westens verändern die machtpolitische Lage in Asien in ungeahntem Ausmaß.

Die vor wenigen Jahren noch einflussreichen universalistischen Utopien einer „Weltgesellschaft“ oder gar einer neuen „weltstaatlich“ strukturierten Ordnung haben inzwischen entschieden an Glaubwürdigkeit verloren, was zu einer „Renaissance der G.“ mit beigetragen hat. Die künftige politische Ordnung der Welt kann derzeit nur mit geopolitischen Begriffen und Theoremen beschrieben werden. Die nahe Zukunft wird zeigen, ob die universale Dominanz einer bestimmten Weltmacht (bzw. einer Mächtegruppierung) bevorsteht oder doch eher eine multipolare Ordnung, die sich aus miteinander konkurrierenden, aber in friedlicher Koexistenz lebenden Großräumen formiert.