Religionswissenschaft: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 14. November 2022, 05:59 Uhr

1. Allgemeines: Grundsätzliche Anliegen des Faches und die Frage der Abgrenzung

Das Fach R. hat sich im Laufe seiner rund 150-jährigen Geschichte zu einer hochdifferenzierten Disziplin entwickelt, die sich ihren eigenständigen Platz innerhalb des Kanons der kulturwissenschaftlichen Fächer (Kulturwissenschaft) erobert hat. Gegenstand der Forschung ist das kulturell bedeutsame Phänomen Religion, das allerdings bislang keiner allg. akzeptierten Definition zugeführt werden konnte, was zu einer Reihe von Unschärfen in der Disziplin geführt hat. Ein zentrales Moment kommt dem komparativen, „vergleichend-systematischen“ Zugang zu, der das eigentliche Wesen des Faches R. und seinen Unterschied zu anderen Fächern markiert. Bis heute spielt der Abgrenzungsdiskurs gegenüber den Theologien (d. h. mehrheitlich der christlichen) eine zentrale Rolle, was vielfach zu einer übermäßigen Fokussierung auf diesen Aspekt und zu einer Definition von R. als Auseinandersetzung mit Religion „ohne“ theologische Fragehaltung (d. h. ohne die Frage nach einer „religiösen Wahrheit“) führte. Umgekehrt bewirkte dies z. T. unscharfe Abgrenzungen gegenüber anderen Disziplinen, wie etwa der Religionssoziologie oder den verschiedenen kulturwissenschaftlichen, historisch orientierten Forschungsbereichen (wie etwa Islamwissenschaft oder Buddhismuskunde), die innerhalb des Faches bis heute nicht zu Ende diskutiert wurden. Gegenwärtig ist wieder eine Besinnung auf Kernbereiche der R. im Sinne einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Religion und Religionen (auch in ihrer historischen Dimension) eingemahnt, um die um sich greifende Selbstbeschränkung des Faches auf einen anschlusslosen Binnendiskurs und die zuweilen sehr dominante Beschäftigung mit Randthemen aufzuheben.

2. Historisches: Geschichte der Religionswissenschaft

Die akademische Begründung des Faches R. wird zumeist mit der Person Friedrich Max Müllers und der Einrichtung seines Oxforder Lehrstuhls im Jahr 1868 verbunden. Dieser war eigentlich dem Fach Comparative Philology gewidmet, und mit dieser Begrifflichkeit lässt sich sehr gut die frühe Phase der sehr stark religionshistorisch und textphilologisch ausgerichteten Auseinandersetzung mit den „großen“ Religionen charakterisieren. Völlig außer Frage steht, dass F. M. Müller wichtige wissenschaftstheoretische Impulse für die von ihm als science of (comparative) religion bezeichnete Disziplin setzte, insb. in seiner „Introduction to the Science of Religion“ (1873) und seinem epochalen Editionsprojekt „Sacred Books of the East“ (ab 1879). Neben F. M. Müller treten die holländischen Theologen Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye und Cornelis Petrus Tiele als bedeutende Gründerväter der Disziplin entgegen, die sich beide um eine systematische Erfassung der verschiedenen Religionen und eine gewisse Emanzipation von den theologischen Wissenschaften bemühten. Für die weitere Geschichte bedeutsam ist die grundsätzliche wissenschaftstheoretische Scheidung zwischen einer Historischen R. (auch oft als Religionsgeschichte bezeichnet) und einer Systematischen R., die maßgeblich von Joachim Wach unter Betonung des empirischen Charakters des Faches ausformuliert wurde.

Als sehr dominierend erwies sich im 20. Jh. die Tradition der sog.en Religionsphänomenologie, die zwar keineswegs als eine geschlossene Schule wahrgenommen werden kann, aber zumindest eine Zeitlang die gemeinsame Klammer der religionswissenschaftlichen Forschung darstellte, weil sie eine verbindende Methodologie propagierte. Deren Zurücktreten hing eng mit der immer stärkeren Emanzipation von den theologischen Disziplinen zusammen, weil man in der Religionsphänomenologie eine verkappte (christliche) theologische Grundierung sah, die es zu überwinden galt. Zudem war mit der Isolierung religiöser „Phänomene“ eine ahistorische und letztendlich schematisierende Sichtweise verbunden, die ohne Rücksicht auf geschichtliche und kulturelle Kontexte arbeitete und bei den diversen Fachwissenschaften starker Kritik ausgesetzt war. Zwar gibt es bis heute bedeutende Neuformulierungen einer Religionsphänomenologie, wie etwa durch Jacques Waardenburg, der mit einer „Neustil-Religionsphänomenologie“ einen Fokus auf die vergleichende Betrachtung der „subjektiven“ Seite der religiösen Erscheinungswelt legt und so dem Vorwurf der Objektifizierung „des Religiösen“ entgehen will. Jedoch fanden auch weitere Versuche einer Neuausrichtung der Religionsphänomenologie wenig Nachfolger in der gegenwärtigen Fachlandschaft, obwohl sich mit der Aufgabe dieser Tradition eine Reihe von zentralen Problemen der aktuellen R. und ihrer gegenwärtigen Auffächerung ergeben.

Der Verlust einer gemeinsamen Mitte führte in der Folgezeit zu einer ausgeprägten Multidisziplinarität innerhalb des Faches R., die bis heute andauert. Folgenreich war zudem die oft zusammenfassend als cultural turn bezeichnete Wende in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die innerhalb der R. eine Ablösung von einer zu textorientierten, primär historisch orientierten Zugangsweise einleitete. Neben den Bereich von Texten, der gegenwärtig als Teil der Medialität von Religionen wahrgenommen wird, treten andere Vermittlungs- und Repräsentationsformen der Religionen, die zumindest gleichwertig, zuweilen sogar höherwertig zu setzen sind. Dazu kommt die hohe Bedeutung der (individuellen und kollektiven) Praxis, wie sie insb. im Zusammenhang mit Ritualen und in der Gemeinschaftsbildung zu beobachten ist. Eine moderne Beschreibung von Religionen versucht, dementsprechend „dicht“ vorzugehen und ein vielschichtiges Porträt zu entwerfen.

Deutlich begegnet in den letzten Jahrzehnten eine inhaltliche und historische Verschiebung. Die R. beschäftigt sich verstärkt mit Phänomenen der Gegenwartsreligiosität, zumal der stark propagierte sozialempirische Zugang seine natürlichen Grenzen hat. Dies geht zuweilen zulasten historischer Breite. Positiv gewendet wurden aber dadurch Bereiche zum Gegenstand der R., die bislang völlig unberührt geblieben waren, bspw. die Auseinandersetzung mit neueren und alternativen Formen von Religionen oder sog.en neureligiösen Bewegungen (Neue Religiöse Bewegungen). Unverkennbar ist aktuell die immer stärkere globale Vereinheitlichung des Faches unter der Themenführerschaft des angloamerikanischen Raumes mit der Gefahr des gleichzeitigen Verlustes länderspezifischer Traditionen religionswissenschaftlicher Forschung.

3. Fachverständnis: Historische und systematische Religionswissenschaft und die verschiedenen Disziplinen der Religionswissenschaft

Noch immer grundlegend für das Fach R. ist die Unterscheidung zwischen erstens einer historischen und zweitens einer (vergleichend-)systematischen R. Während für den ersten Bereich die Auseinandersetzung mit historischen und philologischen Dimensionen der Geschichte der verschiedenen Religionen, zumeist diachron und mit historischer Tiefe, im Vordergrund steht, tritt mit dem zweiten Bereich das eigentliche Proprium des Faches entgegen: das Moment des Vergleichs. Genau dies ist das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der R. und ihre ureigenste Definition: die sich aus dem Vergleich der Religionen und Religiositäten ergebenden systematischen Fragestellungen bis hin zur letztendlichen Kernfrage nach dem Wesen und der Definition von Religion überhaupt, für die es bislang unterschiedliche Lösungsvorschläge gibt. Letztere können im Wesentlichen auf sog.e „essentielle“ bzw. „substantielle“ Zugänge (mit der Frage nach dem „Wesen“ von Religion, z. B. als Bezugnehmen auf eine Gottheit oder eine überirdische Sphäre) und funktionalistische (mit der Frage nach der Funktion von Religion in verschiedenen Gesellschaftsgefügen bzw. für das einzelne Individuum) zurückgeführt werden, die beide völlig unterschiedliche Perspektiven auf das Phänomen implizieren.

Im Kontext der historischen R. ist eine natürliche Nähe zu den verschiedenartigen historisch orientierten Fachbereichen (wie bspw. Buddhismuskunde oder Islamwissenschaft) gegeben. In diesem Zusammenhang tritt in den letzten Jahrzehnten verstärkt das Studium der Querbezüge und inter-, intra- und transreligiösen Interaktionsprozessen in den Vordergrund, was die oftmals einseitige Betrachtung nur einer spezifischen Religionstradition in Frage stellt. Religionen präsentieren sich in der Geschichte als beständig interagierende Einheiten, die zudem einer Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren, wie ökonomischen, politischen oder gesellschaftlichen Prozessen, ausgesetzt waren. Gerade hier kann die R. bedeutende Einsichten liefern. Vornehmliches Ziel ist eine möglichst vollständige Erfassung dieser Faktoren, die auch einer maximalen Isolierung „des“ Religiösen als freischwebende Monade entgegentritt.

Die Multidisziplinarität der R. ist ein wichtiges Kennzeichen, aber auch eine Bürde des Faches, die sich jedoch aus der Genese und der Auseinandersetzung mit der so komplexen Materie fast zwangsläufig ergibt. In Bezug auf die sog.en Teildisziplinen der R. soll im Folgenden zwischen Bereichen unterschieden werden, die traditionell einen sehr hohen Anteil innerhalb der R. haben, gegenüber kleineren Teilbereichen, die z. T. eine sehr kurze Geschichte haben.

Eine wichtige Disziplin, die eng mit der R. verbunden ist, ist die Religionssoziologie. Von ihrem Grundanliegen steht die Frage nach der Beziehung zwischen Religion(en) und den verschiedenen Gesellschaftsformen im Mittelpunkt. Für das Erfassen von Religion ist diese Disziplin deshalb so zentral, weil religiöses Verhalten eng mit zwischenmenschlicher Interaktion und damit automatisch mit der Frage verknüpft ist, wie diese Interaktionen in den unterschiedlichen Gesellschaften ausfallen können. Neben Fragen zu den verschiedenen Formen der Gemeinschaftsbildung und deren Genese steht im Rahmen der religionssoziologischen Forschung zudem die Auseinandersetzung mit verschiedenen „Typen“ religiöser Akteure oder religiöser Spezialisten im Fokus.

Die mit der Religionssoziologie verbundene sozialempirische Forschung dominiert aktuell die R., insb. im deutschsprachigem Raum. Hier liegt der Fokus auf der Erforschung und Erfassung der vielen individuellen Religiositäten, die mit einem hochdifferenzierten Instrumentarium und unter spezifischen methodischen Gesichtspunkten erfasst werden. Gut eignet sich sozialempirische Forschung, um die Aktualität der R. zu unterstreichen, was im Rahmen der gegenwärtigen Anforderungen an die Universitäten ein wichtiges Moment ist. Allerdings bildet sie nur einen äußerst kleinen Teil der Religionsgeschichte ab bzw. hat eine natürliche historische Grenze.

Eng mit der Religionssoziologie ist die Disziplin der Religionsethnologie verbunden, wobei die ursprüngliche Teilung der Zuständigkeiten – soziologische Forschung geschieht in Bezug auf die eigene Gesellschaft, ethnologische auf „fremde“ – nur mehr fachhistorisch von Bedeutung ist. Wichtig waren aber die Erkenntnisse der religionsethnologischen Forschung v. a. deshalb, weil sie urspr.e Grenzen der Beschäftigung mit Religionen sprengte und über die fast exklusiv erforschten „book-religions“ (Müller 1873: 103) auch kulturelle Kontexte in die Betrachtung einbezog, die keine zentralen Textkorpora kannten bzw. innerhalb derer der Fokus auf Schriftlichkeit nicht so ausgeprägt war. Dazu kommt ein wichtiger Impuls der ethnologischen Forschung auf der praktischen Ebene: Im Rahmen dieser Disziplin wurde ein ausgeprägtes und fein ausgearbeitetes Instrumentarium „ethnographischer Forschung“ entwickelt. Der Begriff der „teilnehmenden Beobachtung“ und weitere Methodiken sind zu einem festen Bestandteil der religionswissenschaftlichen Untersuchungsgänge (von gegenwärtigen Religionen) geworden.

Auch dem Fach Religionspsychologie kommt an sich eine hohe Bedeutung innerhalb der R. zu, was sich allerdings in der aktuellen Fachstruktur und der universitären Vertretung nicht so deutlich ablesen lässt. Im Gegensatz zu den Fragestellungen der Religionssoziologie und der Religionsethnologie, die sich mit der Wechselbeziehung zwischen Religion und verschiedenen sozialen Strukturen beschäftigen, widmet sich die Religionspsychologie von ihrem Grundanliegen her dem Bereich der religiösen Erfahrung des Menschen auf der individuellen Ebene. Damit entwickelte sich eine sehr ausgeprägte Fachgeschichte, die eng mit der Entstehung der Psychologie verbunden ist, die wiederum im Laufe ihrer Genese den Bereich Religion sehr unterschiedlich (und z. T. sehr kritisch) bewertete und dementsprechend einordnete. Im Zusammenhang der religionspsychologischen Forschung kann auch auf einen der jüngeren Wissenschaftszweige verwiesen werden, der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelte, die sog.e Kognitive Religionswissenschaft (üblicherweise mit der englischen Fachbezeichung Cognitive Science of Religion eingeführt). Allerdings übersteigt diese zumeist rein religionspsychologische Ansätze, weil sie in Rückgriff auf die um vieles umfassender definierten Kognitionswissenschaften und Aspekte der Evolutionswissenschaften sowie anderer Bereiche die Art und Weise, wie Menschen religiöse Prozesse hervorbringen, verarbeiten oder gegenseitig vermitteln, mit einer sehr stark naturwissenschaftlich orientierten Methodik zu bemessen und zu erfassen sucht. Die Cognitive Science of Religion wird vielfach, zumindest von ihren Vertretern, als eine Art Kerndisziplin präsentiert, weil sie sich um eine Erforschung „des Religiösen“ bemüht, allerdings unter (wiederum tendenziell einschränkenden) naturwissenschaftlichen Vorgaben.

Einen sehr großen Platz innerhalb der R. hat sich in den letzten Jahrzehnten die Disziplin der sog.en Religionsästhetik erobert. Im Vordergrund steht hier die Tatsache, dass Religionen auf unterschiedlichen Ebenen Wahrnehmung erfahren und jede Fokussierung auf nur einen Aspekt (wie etwa eine reine textorientierte Erfassung) zu kurz greift. Damit ist die Berücksichtigung averbaler Quellen und Ausdrucksformen von Religion Gegenstand der Erfassung, d. h. bspw. Musik, Kunst (im weitesten Sinne und einschließlich der bedeutenden ikonographischen Traditionen) bzw. der Vollzug von Ritualen in einer möglichst umfassenden Beschreibung. Insb. um den zuletzt genannten Bereich hat sich der sehr lebendige Forschungszweig Ritual Studies entwickelt, der um große Multidisziplinarität bemüht ist und in Bezug auf viele religiöse Traditionen angewandt wurde. Hier steht neben der empirischen Untersuchung und Erfassung der konkreten Rituale v. a. die Frage nach deren Funktion im Vordergrund der Betrachtung.

Weitere Teildisziplinen in der R., die bislang allerdings keine allzu ausgeprägten Vertretungen entwickelt haben, sind Bereiche wie Religionsgeographie oder Religionsökonomie. Letztere ging aus Kontexten der Religionssoziologie hervor, hat sich aber so weit aus dem Schatten ihres mittelbaren Gründers, Max Weber, verselbständigt, dass von einer eigenständigen Disziplin gesprochen werden kann. Es geht um das enge Wechselverhältnis von Religion und Wirtschaft in Geschichte und Gegenwart, ein Themenbereich, der traditionell in der Religionsforschung eher tabuisiert war. Religionsgeographie wiederum beschäftigt sich primär mit dem Wechselverhältnis von Religion und geographischer Umwelt, womit einerseits die Prägung einer Umwelt durch Religionen gemeint ist (Umweltprägung) und umgekehrt die Prägung der Religion durch die Umwelt (Umweltabhängigkeit). Eng mit dieser Fragestellung verbunden bzw. davon emanzipiert wäre auch die Tradition einer Religionsökologie, in der religiöse Ressourcen in Bezug auf ihr Umweltbewusstsein bzw. auf eine bessere Einbindung des Menschen in die Natur und Umwelt abgefragt werden.

Über den reinen theoretischen Kontext hinaus hat sich in den letzten Jahrzehnten eine sog.e Praktische oder Angewandte R. entwickelt, die möglicherweise neben der historischen und der systematischen R. als separater Bereich zu platzieren wäre. Sie zielt primär auf die Frage der Anwendbarkeit religionswissenschaftlicher Erkenntnisse bzw. intentional auf die Erzielung praktischer, d. h. unmittelbar gesellschaftsrelevanter Ergebnisse. Die Entstehung dieser neuen Disziplin ist auch mit der Tatsache der immer größeren Zahl von Absolventen religionswissenschaftlicher Studiengänge verbunden, die in unterschiedlichsten beruflichen Kontexten ihr Wissen „anwenden“.

Die R. hat sich in den letzten Jahrzehnten einen festen Platz im Gefüge der universitären Landschaft erobert. Die Notwendigkeit, sich mit Religionen und ihren Entwicklungen auseinanderzusetzen, steht angesichts der politischen und zeitgeschichtlichen Entwicklungen außer Frage. Hier ist gerade ein so stark multidisziplinär und übergreifend konzipiertes Fach eine unabdingbare Ressource. Die R. lädt zudem zu einer „neutralen“, „objektiven“ Sichtung von Religionen und ihren Ausdrucksformen ein, was sie somit nicht nur nach dem Guten, Wahren, Schönen fragen, sondern auch die Kehrseiten im Blick behalten lässt (ohne dabei allerdings in eine prinzipiell religionskritische Perspektive zu fallen).