Risikogesellschaft: Unterschied zwischen den Versionen

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Der zweite Teil widmet sich der Enttraditionalisierung industriegesellschaftlicher Lebensformen unter dem Aspekt der <I>Individualisierung</I>, d.&nbsp;h. der Entscheidbarkeit und Fragilität der Lebensführung. Ungleichheiten und deren gewandelte soziale Bedeutung werden als Sozialstruktur „<I>jenseits</I> der Klassengesellschaft“ (Beck 1986: 12: Herv. i.&nbsp;O.) gefasst. Die Metapher des „‚Fahrstuhl-Effektes‘“ (Beck 1986: 122) weist auf die kollektive Verbesserung der Lebensbedingungen in der zweiten Hälfte des 20.&nbsp;Jh. hin, aber auch auf Verschärfungen und neue Schließungstendenzen durch Bewegungen „nach unten“. Die Individualisierungsthese bezieht sich darüber hinaus auf Veränderungen des Geschlechterverhältnisses, der Lebenslagen und Biographiemuster sowie die Entstandardisierung von Erwerbsarbeit. U.&nbsp;Beck schlägt ein analytisches Modell von Individualisierung vor, das drei grundlegende Dimensionen enthält: die Freisetzungsdimension, verstanden als „<I>Herauslösung</I> aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge“; die Entzauberungsdimension, die den „<I>Verlust von traditionalen Sicherheiten</I> im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen“ umfasst; schließlich die Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension, die auf eine <I>„neue Art der sozialen Einbindung“</I> zielt (Beck 1986: 206; Herv. i.&nbsp;O.). In der individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne „bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“ (Beck 1986: 217). Dadurch entstehen neuartige Formen des persönlichen Risikos und der individualisierten Schuldzuweisung.
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Der zweite Teil widmet sich der Enttraditionalisierung industriegesellschaftlicher Lebensformen unter dem Aspekt der [[<I>Individualisierung</I>]], d.&nbsp;h. der Entscheidbarkeit und Fragilität der Lebensführung. Ungleichheiten und deren gewandelte soziale Bedeutung werden als Sozialstruktur „<I>jenseits</I> der Klassengesellschaft“ (Beck 1986: 12: Herv. i.&nbsp;O.) gefasst. Die Metapher des „‚Fahrstuhl-Effektes‘“ (Beck 1986: 122) weist auf die kollektive Verbesserung der Lebensbedingungen in der zweiten Hälfte des 20.&nbsp;Jh. hin, aber auch auf Verschärfungen und neue Schließungstendenzen durch Bewegungen „nach unten“. Die Individualisierungsthese bezieht sich darüber hinaus auf Veränderungen des Geschlechterverhältnisses, der Lebenslagen und Biographiemuster sowie die Entstandardisierung von Erwerbsarbeit. U.&nbsp;Beck schlägt ein analytisches Modell von Individualisierung vor, das drei grundlegende Dimensionen enthält: die Freisetzungsdimension, verstanden als „<I>Herauslösung</I> aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge“; die Entzauberungsdimension, die den „<I>Verlust von traditionalen Sicherheiten</I> im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen“ umfasst; schließlich die Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension, die auf eine <I>„neue Art der sozialen Einbindung“</I> zielt (Beck 1986: 206; Herv. i.&nbsp;O.). In der individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne „bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“ (Beck 1986: 217). Dadurch entstehen neuartige Formen des persönlichen Risikos und der individualisierten Schuldzuweisung.
 
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Version vom 5. Juli 2023, 09:37 Uhr

1. Werkgeschichtliche Einordnung

Mit Erscheinen des Buches über die „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ im Jahr 1986 hat Ulrich Beck sich in die Geschichte der deutschen und internationalen Soziologie eingeschrieben. Der Autor legt darin den Grundstein für eine kritische Theorie der Modernisierung der Moderne, die als Theorie reflexiver Modernisierung – auch: Theorie der Zweiten Moderne – in zahlreichen Publikationen weiter ausgearbeitet worden ist und heute zu den bekanntesten Ansätzen aktueller Gesellschaftsanalyse zählt. Das Konzept der R. spielt hierbei eine wegweisende Rolle. Die zentrale Idee ist, dass die entwickelte Moderne ein kollektiv geteiltes, „‚askriptives‘ Gefährdungsschicksal“ hervorbringt, „aus dem es bei aller Leistung kein Entrinnen gibt“ (Beck 1986: 8). Dieses Schicksal baut auf der Freisetzung der Menschen aus den Lebensformen und Selbstverständlichkeiten der industriegesellschaftlichen Epoche der Moderne auf: Das „Koordinatensystem, in dem das Leben und Denken in der industriellen Moderne befestigt ist – die Achsen von Familie und Beruf, der Glaube an Wissenschaft und Fortschritt –, gerät ins Wanken, und es entsteht ein neues Zwielicht von Chancen und Risiken – eben die Konturen der Risikogesellschaft“ (Beck 1986: 20).

2. Das Konzept der Risikogesellschaft

Das Konzept der R. hat einen gesellschaftsgeschichtlichen, gesellschaftstheoretischen und zeitdiagnostischen Kern. Das gleichnamige Buch folgt dem Anspruch, „gegen die noch vorherrschende Vergangenheit die sich heute schon abzeichnende Zukunft ins Blickfeld zu heben“ (Beck 1986: 12; Herv. i. O.). Im Mittelpunkt der Argumentation steht die Auf- und Ablösung der klassischen Industriegesellschaft des 19. und 20. Jh. sowie die Herausbildung einer anderen gesellschaftlichen Gestalt „in der Kontinuität der Moderne“ (Beck 1986: 13 f.). Dabei sind es nicht Misserfolge, sondern gerade die Erfolge der industriellen Moderne, die zu ihrer Transformation veranlassen.

Der erste Teil des Buches behandelt die Grundlagen der Entwicklung hin zur R. und geht dem Übergang von der industriell dominanten Logik der Reichtumsproduktion zur Logik der Risikoproduktion nach. Entfaltet wird die These, dass der technisch-ökonomische Fortschritt und die mit ihm einhergehenden Wohlstands-, Wohlfahrts- und Sicherheitsversprechen zu irreversiblen Eingriffen und Schädigungen geführt und ihre programmatische „Unschuld“ verloren haben; ökologische Problemlagen und technologische Risiken zeigen die verbleibende Naturabhängigkeit zivilisatorischer Lebensformen auf. Diese Eingriffe und Schädigungen lassen sich zudem nicht lokal und gruppenspezifisch begrenzen. Sie stellen übernationale und klassenunspezifische Globalgefährdungslagen mit sowohl ungleichheitsaufhebenden als auch ungleichheitserzeugenden Wirkungen dar. Treibende Kraft der politischen Dynamik der R. und der aufbrechenden Risikokonflikte sind nicht die „objektiven“ Risiken selbst, sondern das Wissen um Risiken: „Wenn Menschen Risiken als real erleben, sind sie real“ (Beck 1986: 103; Herv. i. O.). Die Wissensabhängigkeit prägt die gesellschaftlichen Definitionsverhältnisse, in denen Kämpfe um Definitionsmacht stattfinden; dies umso mehr im Fall der Nichtwahrnehmbarkeit von Gefahren (z. B. Atomkraft, Gentechnologie), die der Übersetzung in die Sprache der Experten und „Gegenexperten“ bedarf.

Der zweite Teil widmet sich der Enttraditionalisierung industriegesellschaftlicher Lebensformen unter dem Aspekt der [[Individualisierung]], d. h. der Entscheidbarkeit und Fragilität der Lebensführung. Ungleichheiten und deren gewandelte soziale Bedeutung werden als Sozialstruktur „jenseits der Klassengesellschaft“ (Beck 1986: 12: Herv. i. O.) gefasst. Die Metapher des „‚Fahrstuhl-Effektes‘“ (Beck 1986: 122) weist auf die kollektive Verbesserung der Lebensbedingungen in der zweiten Hälfte des 20. Jh. hin, aber auch auf Verschärfungen und neue Schließungstendenzen durch Bewegungen „nach unten“. Die Individualisierungsthese bezieht sich darüber hinaus auf Veränderungen des Geschlechterverhältnisses, der Lebenslagen und Biographiemuster sowie die Entstandardisierung von Erwerbsarbeit. U. Beck schlägt ein analytisches Modell von Individualisierung vor, das drei grundlegende Dimensionen enthält: die Freisetzungsdimension, verstanden als „Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge“; die Entzauberungsdimension, die den „Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen“ umfasst; schließlich die Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension, die auf eine „neue Art der sozialen Einbindung“ zielt (Beck 1986: 206; Herv. i. O.). In der individualisierten Gesellschaft muss der Einzelne „bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in Bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“ (Beck 1986: 217). Dadurch entstehen neuartige Formen des persönlichen Risikos und der individualisierten Schuldzuweisung.

Im dritten Teil werden die Argumentationslinien der Risikoproduktion und der Individualisierung zum Konzept reflexiver Modernisierung zusammengeführt. Kennzeichen dieser Reflexivität ist zum einen die Konfrontation mit spezifischen Beschränkungen des historischen Projekts der Moderne, dessen leitende Prinzipien sich als „institutionell halbiert“ (Beck 1986: 251; Herv. i. O.) erweisen: Sie werden weder der Erosion scheinbar naturgegebener Prämissen der Industriegesellschaft (z. B. geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Vollbeschäftigung, Ausblendung und Ausbeutung der Natur) noch den damit verbundenen Erschütterungen und Verunsicherungen gerecht. Zum anderen lässt der „Siegeszug des Industriesystems“ (Beck 1986: 252) die Grenzen von Natur und Gesellschaft selbst verschwimmen. Naturzerstörungen können nicht länger externalisiert werden, ihre industrielle Universalisierung erzeugt systemimmanente soziale, politische, ökonomische und kulturelle Widersprüche. Von zentraler Bedeutung ist, dass Modernisierungsrisiken ihre Latenz bzw. „Unsichtbarkeit“ eingebüßt haben und die konventionelle Annahme der Spezialisierbarkeit von Problemlösungen in Frage stellen.

3. Von der Risiko-zur Weltrisikogesellschaft

Das Konzept der R. bringt einen Perspektivenwechsel in die sozialwissenschaftliche und öffentliche Debatte um den Wandel moderner Gesellschaften ein. Es hat in unterschiedlichsten Gebieten der zeitgenössischen Gesellschaftsanalyse – national und international – Wirkung entfaltet. Trotz aller Kontroversen um einzelne Begrifflichkeiten steht die zeitdiagnostische Relevanz außer Frage. U. Beck geht dem Thema der R. in späteren Arbeiten unter dem Begriff der „Weltrisikogesellschaft“ (2007) nach, der die globale Dimension (Globalisierung) zivilisatorischer Gefährdungen (z. B. Klimawandel) sowie globale ökonomische Abhängigkeiten und die allgegenwärtige Bedrohung durch einen fundamentalistischen Terrorismus in den Blick nimmt. Die „Suche nach der verlorenen Sicherheit“ (Beck 2007) wird zum Signum einer weltgesellschaftlichen und global entgrenzten Moderne, die nicht mehr in die alten Bahnen und Ordnungen zurückgedrängt werden kann. Sie erzeugt vielmehr ein eigenes „kosmopolitisches Moment“, einen Imperativ, der zur Aufklärung, zur globalen Kooperation und zur „Kommunikation über alle Gräben und Grenzen hinweg“ (Beck 2007: 109) zwingt. Der Autor spitzt dies in seinem letzten, unvollendet gebliebenen Buch auf die These einer „Metamorphose der Welt“ (Beck 2017) zu, die die Globalisierung des Wandels der Moderne und damit die Verwandlung der Welt im Zuge struktureller Transformationsprozesse auf den Begriff bringen will.