Krankheit: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 1. August 2024, 15:53 Uhr

K. ist ein Grundbegriff der Lebenswelt, der Medizin und der Sozialwissenschaften, der als komplementärer Begriff zur Gesundheit verstanden wird. Er bezeichnet bestimmte Arten des Unwohlseins oder der Störung im Ablauf von menschlichen Lebensprozessen. Die Zuschreibung von K. geht mit sozialen Konsequenzen einher wie der Freistellung von bestimmten Pflichten oder Erwartungen der Behandlung und Heilung.

Eine Definition gelingt allerdings nicht leicht. Es fällt auf, dass wir vom Begriff der K. häufig den Plural bilden, von dem der Gesundheit hingegen üblicherweise nicht. Nur wenige sprechen von Gesundheiten (Nietzsche 1973: § 120). Fraglich ist, ob ein Zustand des Menschen entweder als krank oder gesund anzusehen ist oder ob es ein Drittes gibt, einen neutralen Bereich, wie Galen annimmt (Schäfer 2012: 19).

Die Verschiedenheit der als K. erfassten Phänomene hat bei einigen dazu geführt, zwischen diesen Arten von K. nur Familienähnlichkeiten zu sehen (Thiele 2010: 382). Auch verweist die Medizingeschichtsschreibung auf die antike griechische Unterscheidung von νοῦσος und πάθος , also von K. aus innerer Ursache und K. aus äußerer Ursache (Rothschuh 1976: 1185). In der neueren Literatur hat v. a. die englische Differenzierung zwischen disease, illness und sickness (Twaddle 1996: 640) Bedeutung gewonnen. Danach sei unter disease ein medizinisch diagnostizierter pathologischer Zustand zu verstehen, illness bezeichne das subjektive Gefühl nicht gesund zu sein und sickness die gesellschaftliche Zuschreibung einer Rolle. Man müsse daher zwischen einer wissenschaftlichen, einer subjektiven und einer sozialen Auffassung von K. unterscheiden (Moulin 1990: 1530).

Die jüngere philosophische Debatte ist v. a. durch den Dissens zwischen naturalistischen oder objektivistischen Positionen und normativistischen oder konstruktivistischen Positionen geprägt (Murphy 2021, Hofmann 2001). Als naturalistisch oder objektivistisch werden Positionen bezeichnet, die die biologische Funktion der Organe bzw. der Teile des menschlichen Organismus als empirisch zugängliche naturwissenschaftliche Fakten begreifen und K. als objektiv feststellbare Dysfunktion. Als normativistisch oder konstruktivistisch werden Positionen bezeichnet, die das Vorliegen von K. als Resultat eines Urteils verstehen, welches unter Bezug auf Werte oder Normen erfolgt, z.B. in Abgängigkeit von gesellschaftlichen Normen.

1. Naturalismus und Konstruktivismus

Für die erste Position des Naturalismus steht v. a. der Ansatz von Christopher Boorse. Für ihn ist eine K. „ein Typ eines inneren Zustandes, der die Gesundheit beeinträchtigt, das heißt eine oder mehrere Funktionsfähigkeiten so vermindert, dass sie unterhalb der typischen Effizienz liegen“ (Boorse 2012: 84). Eine normale Funktion sei ein statistisch typischer Beitrag zum individuellen Überleben und zur Reproduktion. Als Referenzklasse versteht er eine natürliche Klasse von Organismen mit einem einheitlichen Funktionsdesign, konkret eine Altersgruppe innerhalb eines Geschlechts einer Spezies. Dagegen wäre Gesundheit bei einem Mitglied der Referenzklasse die normale Funktionsfähigkeit, d.h. die Bereitschaft jedes inneren Teils, alle seine normalen Funktionen bei typischen Gelegenheiten mit mindestens typischer Effizienz auszuüben. In seinen späteren Beiträgen hat C. Boorse neben dem theoretischen Begriff „disease“ den praktischen Begriff „illness“ eingeführt. Seine Konzeption bleibt aber naturalistisch, weil der Begriff „disease“ das vorgeordnete Konzept ist (Boorse 1975, 1997, 2012).

Für den Konstruktivismus oder Objektivismus werden unterschiedliche Autorinnen und Autoren genannt, zum Beispiel Joseph Margolis, Tristram H. Engelhardt oder Phil Brown. Konstruktivisten und Konstruktivistinnen führen als Beleg für die soziale Konstruktion der K.en besonders Phänomene an, bei denen ideologische oder rassistische Motive zur Zuschreibung von K.s-Werten führen, etwa wenn durch Mediziner und Medizinerinnen in den amerikanischen Südstaaten des 19. Jh. der Drang von Sklaven und Sklavinnen aus der Sklaverei zu entfliehen als Drapetomania etikettiert und als K. beschrieben wurde. Wenn solche kritischen Analysen indes dazu führen, psychische K.en und nur diese insgesamt als Mythos zu entlarven, wie Thomas Szasz es unternommen hat, ist diese Position nicht als Konstruktivismus einzuordnen. Für T. Szasz sind somatische K.en kein Mythos; sie sind objektiv, mit wissenschaftlich-medizinischen Mitteln feststellbar (Szasz 1972).

In der Debatte spielen wissenschafts- und medizinhistorische Gesichtspunkte eine Rolle. Sie zeigen das Ineinandergreifen von sozialen Zuschreibungen und naturwissenschaftlichen Feststellungen. Eine sorgfältige Rekonstruktion medizinischer K.s-Theorien muss zwischen einer Ebene der Ontologie, der Epistemologie und der Axiologie unterscheiden (Schramme 2012: 17ff.). Es ist zu beachten, dass die Gewichtung von biologischer Analyse und sozialer Einordnung bei verschiedenen K.s-Typen verschieden (Borck 2016: 39) ausfällt. Der Naturalismus muss darlegen, wie es historisch zu den Divergenzen der Zuschreibung kommt; der Konstruktivismus muss erklären, warum und wie eine Gesellschaft einen bestimmten Teil der Unwerturteile mit dem K.s-Prädikat versieht, andere dagegen nicht.

Nicht alle Beiträge lassen sich ohne weiteres den skizzierten zwei Positionen zuordnen. Herausgegriffen seien hier die Ansätze von Georges Canguilhem, Lennart Nordenfelt und Dirk Lanzerath.

2. Krankheit als praktischer Begriff

Eine Verbindung der deskriptiven und normativen Elemente des K.s-Begriffs fordert D. Lanzerath (Lanzerath 1998, 2000, 2022) und sieht den Ausgangspunkt für die Verbindung im einzelnen Menschen, der um Selbstauslegung bemüht sei. Die soziale Dimension wird in diesem hermeneutischen Zugang relevant, weil der Blick des anderen für die Selbstauslegung bemüht wird. Die subjektive Empfindung ist für D. Lanzerath nicht nur Ausgangspunkt, ärztliche Expertise einzuholen, sondern wird im Zuge der Diagnostik zu einem konstitutiven Element, die „kommunikative Komponente des seine Befindlichkeit mitteilenden Menschen“ gehöre wesentlich zur Konstitution von K. (Lanzerath 2015: 89).

3. Vitale Bedürfnisse und Wohlergehen

Bei dem schwedischen Medizinphilosophen L. Nordenfelt steht die Auseinandersetzung mit K. und Gesundheit im Rahmen einer Philosophie des gelingenden Lebens. Gesundheit hat mit den Zielen einer Person zu tun, unterscheidet sich aber vom Glück. Eine Person ist dann gesund, wenn sie in der Lage ist, ihre vitalen Ziele zu erreichen. Eine K. ist ein körperlicher oder geistiger Prozess, welcher diese Fähigkeit reduziert.

4. Krankheit als Norm

G. Canguilhem knüpft in seinen medizinphilosophischen Überlegungen sowohl an antike Konzepte der Harmonie und Balance an als auch an Diskurse des 19. und 20. Jh. zur Wissenschaftstheorie (Wissenschaft) der Physiologie und der Pathologie. Anders als bei Alkmaion von Kroton oder in der Humoralpathologie ist aber für ihn nicht Gesundheit Harmonie und K. Disharmonie: Vielmehr kann K. auch Ausdruck eines Strebens nach einem neuen Gleichgewicht oder einer neuen Norm sein. G. Canguilhem bezeichnet Gesundheit als einen biologischen Luxus. K. dagegen ist der eingeschränkte Toleranzspielraum gegenüber der Unzuverlässigkeit des Milieus. Gerade die K.s-Komplikation ist zu fürchten (Canguilhem 2013: 173; 2017: 209).

Die Beiträge von D. Lanzerath, L. Nordenfelt und G. Canguilhem zeigen, dass eine Nachzeichnung des Widerstreits zwischen Objektivismus und Konstruktivismus die Komplexität des K.s-Begriffs nur unzureichend erkennen lässt. Sie zeigen auch, dass der Begriff für unsere Orientierung in der Welt von bleibender Bedeutung ist. Doch auch wenn erkannt wird, dass K. zum Menschsein dazugehört, bleibt die Frage, ob und in welcher Weise der Begriff auf nichtmenschliche Lebewesen anwendbar ist.