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Version vom 15. August 2021, 11:40 Uhr
1. Allgemeine Bedeutung
B., auch Hoch-B. genannt, bezeichnet die Maßnahmen innerhalb eines Bildungssystems, Menschen mit herausragenden Fähigkeiten im kognitiven, künstlerischen oder sozialen Bereich frühzeitig in ihrer Entwicklung zu unterstützen.
Der zugrunde liegende Begriff der Begabung ist in der Wissenschaft nicht eindeutig definiert. In multidimensionalen Komponentenmodellen (Joseph S. Renzulli, Franz Josef Mönks, Münchner Hochbegabungsmodell) wird zur Erklärung eine Kombination aus Intelligenz, Kreativität und Motivation herangezogen, die gleichwohl auf langjähriges Einüben („Expertise“) nicht verzichten kann. Das Phänomen unterdurchschnittlicher Leistung begabter Kinder und Jugendlicher (Underachievement) zeigt, dass Begabung als Potenzial und Leistung als sichtbares Ergebnis auseinanderfallen können. Von der allg.en Begabung im Sinne von Intelligenz werden spezifische Begabungen (z. B. musikalische oder mathematische) unterschieden. Jahrzehntelang in Deutschland mit dem Vorwurf einer sich selbst reproduzierenden Elite belegt, werden Talentsuche und -förderung heute als Aufgabe der Bildungspolitik sowie privater Initiativen angesehen, entsprechen sie dem Postulat der Bildungsgerechtigkeit und lassen gesellschaftlichen Nutzen erwarten.
2. Diagnostik
Die Identifizierung begabter Kinder und Jugendlicher bedarf eines mehrdimensionalen Diagnoseinstrumentariums, zu dem Intelligenztests ebenso zählen wie Interviews mit Lehrern, Eltern und den Heranwachsenden selbst. Den Maximen einer frühen Förderung entsprechend, wird die Diagnose schon im Vorschulalter für sinnvoll gehalten, auch weil prozessdiagnostische Informationen in die Förderstrategie einfließen und die Diagnose spezifizieren können. Die Erforschung von Begabung und Intelligenz ist seit dem Ende des 19. Jh. (Francis Galton, Alfred Binet/Théodore Simon, Lewis Madison Terman, William Stern) mit der Frage der Diagnostik eng verbunden.
3. Begabtenförderung in der Schule
Fürsten- und Klosterschulen im 16. Jh. können als erste Ansätze einer systematischen B. zur Förderung des klerikalen und Beamten-Nachwuchses gelten. Nach der in der völkischen Ideologie stehenden Auslese des Nationalsozialismus (u. a. Adolf-Hitler-Schulen) war die Förderung von Begabten in der BRD lange verpönt. Erst in den 1970er Jahren erwachte das Interesse an B. in schulischen Modellversuchen und in der Forschung. Die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind machte sich die Aufklärung und Beratung von Eltern, Lehrern und Schulbehörden zum Ziel. Zudem wurden Jugendwettbewerbe auf Landes- wie auf Bundesebene ins Leben gerufen: der seit 1963 vom Deutschen Musikrat getragene Wettbewerb „Jugend musiziert“, der 1965 von Henri Nannen initiierte und seit 1975 von den Bundesministerien für Bildung und Wissenschaft sowie für Forschung und Technologien unterstützte Wettbewerb „Jugend forscht“, der „Bundeswettbewerb Mathematik“ (1970), der „Bundeswettbewerb Fremdsprachen“ (1979) oder der seit 1973 von der Körber-Stiftung ausgerichtete „Geschichtswettbewerb“. Zu nennen sind auch die ab 1988 eingerichteten Deutschen SchülerAkademien – getragen von Bildung und Begabung e. V., gefördert von Bund, Ländern und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft.
In der DDR setzte die systematische staatliche B. bereits in den 1960er Jahren ein. Spezialschulen und -klassen, etwa für Mathematik, Musik oder Sport, wurden begründet und wissenschaftlich begleitet. Bereits 1961/62 fand die erste vom Ministerium für Volksbildung der DDR initiierte „Mathematik-Olympiade“ statt, die systematisch mathematische Begabungen identifizierte und förderte, weswegen sie nach 1990 fortgesetzt wurde.
Die Maßnahmen der B. basieren auf folgenden Förderformen: Ein Curriculum kann schneller durchlaufen (Akzeleration) oder mit zusätzlichen Angeboten angereichert werden (Enrichment). Unter dem Gebot der Inklusion sind differenzierte Unterrichtung mit dem Ziel der individuellen Modellierung des Lernprozesses (Differenzierung) oder spezielle Curricula mögliche Mittel der pädagogischen Arbeit (Pädagogik). Der frühkindlichen Förderung wird in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Hier wie in der schulischen Förderung kommt der Fortbildung von Erziehern, Lehrern (Lehrer) und Eltern ein besonderer Stellenwert zu.
4. Begabtenförderung in Ausbildung, Studium und Wissenschaft
Die Förderung begabter Studierender setzte in Deutschland 1925 aus sozialen Gründen mit der Weltwirtschaftskrise (Weltwirtschaftskrisen) ein. Für die Friedrich-Ebert-Stiftung (Politische Stiftungen) wie für die Studienstiftung des deutschen Volkes (Stiftung) war Bedürftigkeit ein wichtiges Förderkriterium. Von den Nationalsozialisten (Nationalsozialismus) aufgelöst bzw. pervertiert, wurden die beiden B.s-Werke 1947/1948 wieder begründet. Nach der vorauseilenden Gleichschaltung der Universitäten 1933 durch die Professorenschaft selbst war es ein besonderes Anliegen, junge Demokraten zu fördern. Mit Ausnahme der Studienstiftung des deutschen Volkes wurde deshalb die Konstruktion gewählt, dass gesellschaftliche Großgruppen (Religionsgemeinschaften, Parteien und Tarifpartner) mit öffentlichen Geldern – heute des Bundesministeriums für Bildung und Forschung – ihren besonders begabten Nachwuchs selbst und nach eigenen Kriterien auswählen und unterstützen. Dementsprechend wurden folgende weitere Werke begründet: das Evangelische Studienwerk Villigst (1948), die den Gewerkschaften nahestehende Hans-Böckler-Stiftung (1953), die Bischöfliche Studienförderung Cusanuswerk (1956), die Konrad-Adenauer-Stiftung (1965), die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (1973), die Hanns-Seidel-Stiftung (1981), die Heinrich-Böll-Stiftung (1990), die Stiftung der Deutschen Wirtschaft (1994), die Rosa-Luxemburg-Stiftung (1999), das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (2009) und das Avicenna Studienwerk (2013). Im Laufe der Zeit erweiterte sich der Kreis der Geförderten. Seit 1991 werden auch junge Menschen, die ihre berufliche Ausbildung exzellent abgeschlossen haben, für Maßnahmen der akademischen oder beruflichen Weiterbildung gefördert, von 1997 an ist hierfür die Stiftung B. Berufliche Bildung verantwortlich. Die besten Studierenden an einer Hochschule mit einem Stipendium zu unterstützen, ist das Ziel des Deutschlandstipendiums (seit 2011), das je zur Hälfte aus staatlichen und privaten Mitteln finanziert wird.
Ergänzend zum BAföG erhalten derzeit insgesamt ca. 2 % der Studierenden ein Begabtenstipendium. Der wissenschaftliche Nachwuchs wird insb. durch Promotionsstipendien der B.s-Werke oder durch Stellen an den Graduiertenkollegs bzw. -schulen der Universitäten wie auch an den außeruniversitären Forschungseinrichtungen gefördert. Herausragende Leistungen werden durch Preise gewürdigt, deren bekanntester der „Heinz Maier-Leibnitz-Preis“ der DFG ist.
Literatur
C. Fischer u. a. (Hg.): Giftedness Across the Lifespan – Begabungsförderung von der frühen Kindheit bis ins Alter, in: Begabungsforschung, Bd. 19, 2015 • S. Bergold: Historische Entwicklung der Begabtenforschung und Begabtenförderung in Deutschland, in: Pädagogische Rundschau 67 (2013), 517–533 • A. Ziegler: Hochbegabte und Begabtenförderung, in: R. Tippelt (Hg.): Handbuch der Bildungsforschung, 32010, 937–951 • K. A. Heller: Von der Aktivierung der Begabungsreserven zur Hochbegabtenförderung. Forschungsergebnisse aus vier Dekaden, 2008 • K. A. Heller u. a. (Hg.): International Handbook of Giftedness and Talent, 22000 • R.-U. Kunze: 75 Jahre Studienstiftung des deutschen Volkes, 2000 • W. Engel: Förderung mathematisch begabter Schüler außerhalb des Unterrichts und durch Spezialschulen in der DDR bis 1990, in: H. Wagner (Hg.): Begabungsforschung und Begabtenförderung in Deutschland 1980–1990–2000, 1990, 211–226
Empfohlene Zitierweise
S. Schmidt: Begabtenförderung, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Begabtenf%C3%B6rderung (abgerufen: 14.11.2024)