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[[Category:Philosophie]]

Version vom 14. November 2022, 05:56 Uhr

1. Varianten des Glücksstrebens

G. galt seit je als ein entscheidender Faktor menschlicher Lebensqualität. Sigmund Freuds Diktum „Die Menschen streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben“ (Freud 1999: 433) zieht sich seit Platon und Aristoteles bis in die heutige Zeit durch die Lehrbücher der Ethik und Humanwissenschaften. Eine Ausnahme war Friedrich Nietzsche. Unter ironischer Anspielung auf den utilitaristischen Slogan vom größten G. der größten Zahl hielt er fest: „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das“ (Nietzsche 1980: 61).

Umstritten war die Definition des G.s. Vier G.s-Arten lassen sich unterscheiden:

a) Das G. des Kopfes – das intellektuelle G. –, das als höchstes Gut am Ideal eines sittlichen Lebens festgemacht wird und die Tugend als Mittel zur Erreichung des G.s bestimmt. Nach Aristoteles ist glücklich, wer „gemäß vollkommener Tugend handelt und mit äußeren Gütern hinreichend versehen ist“ (NE 1101 a). Baruch de Spinoza spitzt zu: „Das Glück ist nicht der Lohn der Tugend, sondern selbst Tugend“ (Spinoza 1976: 295). Für Immanuel Kant ist G. zwar gegenüber der Tugend nachrangig, aber doch eine Art Belohnung für den, der das Moralgesetz befolgt, sich dadurch um das G. verdient macht und deshalb als des G.s würdig erweist.

b) Das G. des Herzens – das emotionale G. –, das in der gläubigen Hinwendung zu einem göttlichen Wesen erlebt wird und die Grundlage für die zwischenmenschlichen Beziehungen abgibt. V. a. christliche Denker haben auf das im Glauben an Gott empfundene emotionale G. gesetzt. So bekundet Blaise Pascal: „Wir erkennen die Wahrheit nicht nur mit der Vernunft, sondern auch mit dem Herzen. […] Und damit sind jene, denen Gott die Religion durch das Gefühl des Herzens gegeben hat, glückselig“ (Pascal 1988: Nr. 282). Søren Kierkegaard macht das G. an der ethischen Selbstbestimmung als religiösen Akt fest, in dem das Ich sich an ein Absolutes bindet. Diese Selbstwahl „ist meines Herzens wie meines Gedankens Wahl, meiner Seele Lust und meine Seligkeit“ (Kierkegaard 1985: 227).

c) Das G. des Bauches – das Konsum-G. –, das den Genuss und die Lust zu höchst bewertet. Die Hedonisten und die Utilitaristen haben das Streben nach G. mit dem natürlichen Begehren von Lust identifiziert. Lust, so Epikur, ist „Anfang und Ende des glückseligen Lebens“ (Epikur 1967: 283). Doch fordert er nicht dazu auf, möglichst viel Lust zu genießen, sondern ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Körper und Geist herzustellen. Wahres G. bestehe im „Freisein von körperlichem Schmerz und von Störung der Seelenruhe“ (Epikur 1967: 284). Jeremy Bentham und John Stuart Mill hingegen messen das G. in Lust- bzw. Nutzenquanten. Je mehr G. eine Handlung für ein Individuum oder eine Gruppe erzeugt – maximal das größte G. der größten Zahl –, desto besser ist sie. Lust und Unlust – pleasure and pain – sind die Messlatten in einem Nutzenkalkül, mit dem jeweils der Zuwachs an G. ermittelt wird. G.s-Güter, die die Eigenschaft haben, „Gewinn, Vorteil, Freude, Gutes oder Glück hervorzubringen“ (Bentham 1975: 38) bzw. Unglück zu vermeiden, sind erstrebenswert. Anders als J. Bentham gewichtet J. S. Mill die kultivierten Freuden höher als die fleischlichen. Es sei besser, „ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedengestelltes Schwein“ (Mill 1976: 18). Kritiker des Utilitarismus haben darauf hingewiesen, dass ein Gerechtigkeitsproblem (Gerechtigkeit) entsteht, wenn es um die Ermittlung des kollektiven G.s und die Güterverteilung geht. So hat John Rawls gegen das Nutzenmaximierungsprinzip eingewendet, dass es nur den Durchschnittsnutzen berücksichtige, der „geringeres Wohl und geringere Freiheit bei einigen um des größeren Glücks anderer willen zulässt, denen es vorher schon besser ging“ (Rawls 1975: 621).

d) Das G. der Hand – das praktische G. –, das sich technischer Erfindungsgabe (Innovation) und handwerklich-künstlerischer Geschicklichkeit verdankt. Davon weiß Archimedes, der mit dem Jubelschrei „heureka“ sein G. über die Entdeckung des hydrostatischen Gesetzes verkündete, ebenso wie Francis Bacon, wenn er von den technischen Errungenschaften in Nova Atlantis, dem „glücklichsten aller Länder“ (Bacon 1971: 184) berichtet.

Das Zusammenspiel der Kompetenzen von Kopf, Herz, Bauch und Hand nach Maßgabe des jeweils Erforderlichen ermöglicht vollkommenes G. Es verhindert Trägheit und Verweichlichung, die ein Überschuss an Lust mit sich bringt, ebenso wie den Verlust an Bodenhaftung infolge anhaltender geistiger Verzückung. „Glücklich ist also ein Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Natur“ (Seneca 1998: 13). Auf dem Weg zum G. „schreite die Tugend voran, die Lust begleite sie und bewege sich wie ein Schatten um den Körper“ (Seneca 1998: 39).

2. Die Glücksspender

Im Deutschen enthält das Wort G. mehrere Nuancen, die in anderen Sprachen durch verschiedene Ausdrücke bezeichnet werden, so im Englischen durch luck, happiness, felicity, im Französischen durch fortune, bonheur, félicité. Im Lateinischen finden sich vier wesentliche Ausdrücke für G., die zugl. auf dessen Urheber verweisen:

a) Mit fortuna ist das Zufalls-G. gemeint, das jemandem unverdient und ohne eigenes Zutun zuteil wird, sei es durch günstige Umstände, sei es durch überirdischen Beistand – etwa in Gestalt der launischen Göttin Fortuna, die ihr Füllhorn nicht nach Verdienst oder Bedürftigkeit, sondern nach Belieben ausschüttet.

b) Mit felicitas ist das durch eigene Anstrengungen erworbene G., das Erfolgs-G. benannt: Als Schmied des eigenen G.s gilt es, sein Kräftepotential so zu mobilisieren, dass die gesetzten Ziele tatsächlich erreicht werden. So konnte Sisyphos gemäß der Deutung Albert Camus’ das mit der Plackerei des sinnlosen Steinewälzens verbundene Unglück überwinden, indem er die Götter austrickste. Er ignorierte deren Zielvorgabe, den Stein endgültig auf dem Gipfel des Berges zu platzieren und bestimmte den jeweils nächsten Schritt als sein Ziel – ein Ziel, das er aus eigener Kraft erreichen konnte. „Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ (Camus 2000: 160).

c) Mit beatitudo wird jenes G. charakterisiert, das einen Menschen in der Beziehung zu Gott durchdringt, wenn er dessen unüberbietbare Sinnfülle als ewige Seligkeit erlebt. Thomas von Aquin spricht von einem geistigen Genuss Gottes, der den nach G. Strebenden unendlich entzückt.

d) Mit prosperitas wird ein G. angesprochen, das die Politiker in die Pflicht nimmt. Der Staat muss optimale Bedingungen bereitstellen, die es den Bürgern ermöglichen, ihr G.s-Bedürfnis angemessen zu befriedigen. So wurde in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ausdrücklich festgehalten, dass das Streben nach G. (the pursuit of happiness) ein Menschenrecht ist.

Allerdings kann das G.s-Streben zu Interessenkonflikten und damit zur Verletzung der Freiheitsrechte anderer führen. Deshalb wird in den meisten politischen Utopien für die Eliminierung der Freiheit zugunsten des G.s plädiert und das Ich durch das Wir vollständig vereinnahmt. Ein allmächtiger Staatsapparat kontrolliert das Privatleben seiner Bürger bis in die Intimsphäre und belohnt regelkonformes Verhalten mit der Teilnahme am Allgemein-G. In den klassischen Utopien von Thomas Morus, Tommaso Campanella und F. Bacon wird der Entzug persönlicher Freiheit und die Abrichtung zur Tugend mit dem Hinweis auf das Prinzip unterschiedsloser Gleichheit legitimiert, das allein ein friedliches Miteinander und damit ein dauerhaftes G. ermögliche. In den Anti-Utopien des 20. Jh. wird Gleichheit im Zuge einer perfekten Konditionierung durch physische Eingriffe und Psychoterror erzeugt. In Aldous Huxleys Zukunftsroman sind alle Menschen „chemisch-physikalisch gleich“ (Huxley 1980: 75). Nach Bedarf in der Retorte hergestellt, mit 60 Jahren euthanasiert, verbringen sie ihr Leben wie vorgestanzte Puzzleteilchen passgenau eingefügt in die für sie vorgesehene Lücke des Staatsmodells. Sie müssen keine Entscheidungen mehr treffen und kennen keine Existenzprobleme. „Jeder ist heutzutage glücklich“ (Huxley 1980: 76), heißt es. Dabei handle es sich um „ein Glück, das alle Tage anhält“ (Huxley 1980: 119).

Empirische G.s-Forschung betreiben heute v. a. Ökonomen und Neurowissenschaftler. Mittels weltweit erhobener Daten wird der Einfluss von Geld, Lebensstandard, sozialen Beziehungen, politischen Verhältnissen, Umweltfaktoren etc. auf das G.s-Empfinden erfragt und bzgl. seiner Intensität in G.s-Statistiken dargestellt. Von Neuro-Enhancement verspricht man sich eine Gehirnoptimierung, die zu einem glücklicheren Leben beiträgt. Doch auch körpereigene Endorphine wie Serotinin und Dopamin gelten als G.s-Hormone, deren Wirkung durch Schokolade, Sport, Sex u. a. verstärkt werden könne.