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Aktuelle Version vom 14. November 2022, 06:01 Uhr
Der Begriff „U.“ hat weitverzweigte theologische Hintergründe, ist aber, nicht zuletzt bei Carl Schmitt, in unserer Zeit zu einer genuin politischen Kategorie geworden. Seine Substanz ist jedoch eindeutig philosophisch und muss sowohl auf der ethischen als auch der anthropologischen Ebene expliziert werden.
1. Ethische Bedeutung
Die universalistische Auffassung ist die grundsätzliche Antithese zum Relativismus. Während letzterer die Quelle normativer Wahrheits- und Verpflichtungsansprüche (Wahrheit) in geschichtlichen (Nation, Fortschritt, Zivilisation, Globalisierung), kulturellen (Stamm, Volk, Gemeinschaft, Religion, Weltanschauung) oder sozialen (Klasse, Elite, Kosmopolitismus) Faktoren erblickt, geht der U. von einer alle Menschen ausnahmslos miteinander verbindenden und einander gegenseitig rechenschaftspflichtig machenden normativen Gegebenheit aus, die man traditionell als die Natur des Menschen, heute aber überwiegend als seine Würde bezeichnet und rechtlich kodifiziert hat. Wenn man an dem Begriff der Natur in seiner traditionellen, in der Neuzeit jedoch (mit diskutablen Gründen) fundamental konterkarierten Bedeutung festhält, dann kann man in der Lehre vom „Naturrecht“ immer noch die rechtlich und politisch gültige Form des ethischen U. erblicken und als solche verteidigen. Man darf dann aber Natur nicht als biologische Kategorie, sondern muss sie als die Kennzeichnung dessen begreifen, was sich (so der Grundsinn des griechischen physis- oder auch des chinesischen ziran-Begriffs) von sich selbst her zeigt, also als den Gegen- und Komplementärbegriff zum Künstlichen. Im 20. Jh. hat die Funktion der Geltendmachung einer für alle Menschen gültigen Sollensgrundlage jedoch der Verweis auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde übernommen. Die philosophische Rekonstruktion dieses Terminus hat eine entscheidende Bezugsgröße im Ringen um ein universalistisches Verständnis der menschlichen Personalität.
2. Anthropologische Grundlage
Wie produktiv es ist, am Begriff der Natur als dessen, was jede natürliche Art von jeder anderen unterscheidet und gerade als solches alle Arten einschließlich der menschlichen zum Gesamtgeflecht „der“ Natur fügt, festzuhalten, hat sich in der strukturalistischen Kulturanthropologie (Strukturalismus) gezeigt. Deren entscheidende Einsicht lautet: Die menschliche Natur ist kulturell codiert. So wie sich, dass der Mensch von Natur aus ein sprechendes Wesen ist, nicht in der Existenz einer „natürlichen Sprache“, sondern darin zeigt, dass alle menschlichen Sprachen zwar eindeutig kulturell konstituiert, jedoch ineinander übersetzbar und im Prinzip für jeden Angehörigen der Menschheitsfamilie verstehbar sind, kann man generell sagen, dass das Universale exakt dasjenige ist, was kulturelle Diversität zu natürlicher Zusammengehörigkeit fügt. „Überall dort“, so Claude Lévi-Strauss, „wo eine Regel auftaucht, wissen wir mit Bestimmtheit, daß wir uns auf der Ebene der Kultur befinden. Symmetrisch dazu bereitet es keine Schwierigkeit, in der Universalität das Kriterium der Natur zu erkennen. Denn das, was bei allen Menschen konstant ist, entzieht sich zwangsläufig dem Bereich der Bräuche, Techniken und Institutionen, durch die ihre Gruppen sich unterscheiden und einander entgegentreten […]. Halten wir also fest, daß alles, was beim Menschen universal ist, zur Ordnung der Natur gehört und sich durch Spontaneität auszeichnet, und daß alles, was einer Norm unterliegt, zur Kultur gehört und die Eigenschaft des Relativen und des Besonderen aufweist“ (Lévi-Strauss 1994: 52). So gesehen ist der U. das Gegenprinzip zu jeder Relativierung der kulturellen Differenzen innerhalb der Menschheitsfamilie. Was allen Menschen von Natur aus gemeinsam ist, kann sich nur in der Pflege, nicht etwa der Einebnung der sie voneinander unterscheidenden kulturellen Eigenheiten (Kultur) zeigen.
3. Politische Problematik
Das universalistische Prinzip der unantastbaren Würde der menschlichen Person konkretisiert sich heute weltweit in der Anerkennung der Menschenrechte als Legitimationsgrundlage (Legitimation) des staatlichen Zusammenlebens. Es mag über unterschiedliche religiöse und kulturelle Ausgangsbedingungen der Menschenrechtsidee und über die Gewichtung der sie konkretisierenden Inhalte gestritten werden, aber das Prinzip, dass der Staat sich durch die Gewährleistung der seiner Ordnung normativ voraufliegenden Rechte seiner Bürger legitimiert, ist im Kern universal anerkannt. Gerade der U. konstituiert damit jedoch eine für die gesamte weitere Entwicklung der Menschheitsfamilie kruziale Paradoxie. Die legitimatorische Verselbständigung des Staates als eine durch sein Gebiet (Staatsgebiet), seine Gewalt und das ihn tragende Volk (Staatsvolk) konstituierte Entität, die an die Stelle aller vorherigen Vorstellungen von imperialer, dynastischer oder religiöser Fundierung der politischen Ordnung getreten ist, ist die faktische Grundbedingung der Herrschaft des Rechts, ohne welche die Menschenrechte nicht gewährleistet werden können. Das bedeutet: Der Staat hat die Rechte seiner Bürger zu gewährleisten, weil sie Menschenrechte sind. Es bedeutet nicht: Der Staat hat die Rechte aller Menschen auf dem Erdball zu gewährleisten. Das könnte er faktisch nicht, es sei denn, er verschwände zugunsten eines monströsen „Weltstaates“, den niemand wünschen kann. Und doch gibt es im Zeichen des U. eine Verantwortung des von einem geschichtlich konstituierten Volk getragenen Staates gegenüber der Menschheitsfamilie. Alexis de Tocqueville sprach von der Nation als einer „Jury“ (de Tocqueville 1976: 289), die gegenüber Staat und Volk die Menschheit zur Geltung zu bringen habe. Im katholischen Verständnis (Katholische Kirche) bildete bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil die Denkfigur der societas perfecta eine Lösung: Die Kirche repräsentiert im partikulären Staat die universale Gemeinschaft aller Menschen. Dieser Anspruch ist im Zeichen der Anerkennung von Religionsfreiheit und Menschenrechten als Legitimationsbasis des Staates aufgegeben worden. In das so geschaffene Vakuum drängen weder demokratisch noch republikanisch legitimierte Potenzen („NGO“, „Zivilgesellschaft“, weltumspannende Unternehmen und Kommunikationssysteme) als selbsternannte Repräsentanten einer „Weltgemeinschaft“. Damit steht der U. vor der weltgeschichtlich dimensionierten Aufgabe, sich und die ihn tragende republikanische und demokratische Ordnung vor der Ideologisierung seiner selbst zu schützen.
Literatur
W. Schweidler: Über Menschenwürde, 2012 • Q. Wang: „It-self-so-ing“ and „Other-ing“ in Laozi’s Concept of Zi Ran, in: B. Mou (Hg.): Comparative Approaches to Chinese Philosophy, 2003, 225–244 • T. Borsche u. a.: Universalismus, in: HWPh, Bd. 11, 2001, 204–207 • W. Schweidler: Die Frage nach dem Weltstaat, in: ders.: Das Unantastbare, 2001, 247–259 • R. Spaemann: Personen, 1996 • C. Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 1994 • E. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, 1990 • Aristoteles: Physik, 1987 • A. de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, 1976 • M. Heidegger: Wegmarken, in: ders.: GA, Bd. 9, 1975 • C. Schmitt: Der Nomos der Erde, 21974.
Empfohlene Zitierweise
W. Schweidler: Universalismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Universalismus (abgerufen: 23.11.2024)