Caritas/Diakonie
1. Begriff
C. und D. bezeichnen allg. das organisierte Helfen für Notleidende aus christlicher Motivation. Im technischen Sinn bezeichnen C. und D. die Einrichtungen, Tätigkeiten und Dienstleistungen, die durch die großen konfessionellen Wohlfahrtsverbände im Auftrag der Kirchen (Katholische Kirche; EKD) in Deutschland getragen und ausgeführt werden (Deutscher Caritasverband, Diakonisches Werk). Diese Organisationen sind im Laufe des 19. Jh. als Reaktion auf die Verarmung und Proletarisierung großer Teile der Bevölkerung (Soziale Frage) aus freien Initiativen und Einrichtungen der Wohltätigkeit im Raum der Kirchen entstanden. Sie wollten mit Hilfe neuer Rechtsformen (Verband; Verbände), professionell geschultem Personal (Krankenschwestern, Pfleger, Fürsorgerinnen, Sozialarbeiter), modernen Organisationsmethoden (fachspezifische Hilfe, überörtliche Zusammenschlüsse) sowie begleitender wissenschaftlicher Reflexion (Caritaswissenschaft, kirchlicher Sozialarbeitstheorie) jene Hilfe gegenüber den Armen, Kranken, sozial Schwachen und Deklassierten effizient weiterführen, die seit den Anfängen gemeindlicher Organisation als unverzichtbarer Bestandteil des gelebten Glaubens und als genuine Form der Nachfolge Christi empfohlen und eingefordert wurde. Ihre zentrale Bedeutung leiteten diese Organisationen u. a. von den Motiven der Nächstenliebe (lateinisch: caritas) bzw. des Dienens (griechisch: diakoneo) her. Neuere Forschungen belegen, dass die Bedeutung des Wortfelds D. in Übereinstimmung mit seiner profangriechischen Verwendung bei Auftrag, Botendienst und Vermittlung zu suchen ist und im Zusammenhang mit gemeinsamem Essen und Gastmahl das „Aufwarten“ und „den Tischdienst leisten“ meint (Theobald 2012: 17–21).
2. Ideelle Grundlagen
Gründe, motivierende Vorbilder und Inspiration schöpft das organisierte Hilfehandeln aus dem biblischen Zeugnis. Schon das AT lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf die unfreiwillig Armen, Schwachen und Rechtlosen und erklärt sie zum besonderen Schutzgut Gottes und zu Adressaten besonderer, verpflichtender Fürsorge (Dtn 15,7 f. 11 u. a.). Entsprechend wird in Jesu Gleichnis vom reichen Prasser (Lk 16,19–31) vor dem Übersehen der Leiden der Armen (Armut) eindringlich gewarnt. Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe gehört zum Kern der Botschaft Jesu. Auch wenn es sich „lediglich“ um eine Zitation und Bekräftigung zweier alttestamentlicher Gebote (Dtn 6,5 und Lev 19,18) handelt, schafft deren Verknüpfung und ausdrückliche Gleichstellung (Mt 22,39; Mk 12, 31) eine innere Zusammengehörigkeit und stellt zugl. eine markante Zusammenfassung von „Gesetz und Propheten“ dar: Über aller Moral steht der Anspruch der Liebe (Mk 12,28–34; vgl. 1 Kor 13,13). Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) wird die überlieferte Gleichsetzung des Nächsten mit den Volksgenossen und den im Land wohnenden Fremden aufgebrochen: Allein das Erbarmen mit dem, der in Not ist, und die tatkräftige Hilfe zählen. Wer mein Nächster ist, lässt sich nicht ein für alle Mal auf einen bestimmten Personenkreis hin definieren, sondern richtet sich danach, wer jeweils meine Hilfe braucht. Diese Entgrenzung steht in einer gewissen Spannung zur Aufforderung zur besonderen Liebe gegenüber den Glaubensbrüdern in den johanneischen Schriften, wo der Blick auf die Verhältnisse innerhalb der Gemeinde gerichtet ist, die von außen und von innen bedroht ist.
Die Aufforderung zur Liebe als zentrales Anliegen und durchgehender Impuls des NT wird besonders eindrucksvoll sichtbar in der Parabel vom Weltgericht (Mt 25, 31–46): Die praktizierte Liebe gegenüber den namenlosen Notleidenden bildet das alles entscheidende Kriterium über Wert und Unwert des gelebten Lebens (Mt 25,40). Die Identifizierung des erhöhten Christus mit den Notleidenden und die Bedeutung des Hilfehandelns für die eschatologisch gültige Lebensbilanz wurden in der Kirchen- und Christentumsgeschichte (Christentum) zu einem der wirksamsten Motive für die Wohltätigkeit überhaupt. Auch in der theologischen Reflexion bildete diese Szene den Ausgangs- und Kristallisationspunkt für eine Systematisierung des Helfens, die in den sog.en Werken der leiblichen Barmherzigkeit ein festes, durch die Hinzufügung des für die Antike und für das Erleben von Epidemien außerordentlich wichtigen Totenbegräbnisses aus Tob 1,17 zur Siebenzahl komplettiertes Schema gewann, dem bald eine komplementäre Siebenzahl von geistigen Werken der Barmherzigkeit an die Seite gestellt wurde (erstmals bei Laktanz, später u. a. bei Thomas von Aquin, STh II-II, 32,2 ff.).
Mit dem Stichwort Barmherzigkeit ist ein weiterer theologischer Grundgedanke genannt: „Barmherzigkeit“ (lateinisch misericordia) qualifiziert die Einstellung und das Handeln dessen, der ein Herz für den Armen hat, mit ihm empfindet und ihm aus diesem Mitempfinden heraus tatkräftig hilft. Es ist das sprachliche Äquivalent für den biblischen Begriff für Gnade, Treue, Güte, der sowohl von Gott ausgesagt wird als auch als Bestandteil des bundesgerechten Verhaltens gilt. Die Barmherzigkeit Gottes ist Vorbild und Maßstab menschlichen Handelns (Lk 6, 36 bzw. erzählerisch ausgestaltet Mt 18,23–35). In Mt 5,44 f. dient dieser Gedanke als Begründung für die Liebe zum Feind. Die grundsätzliche Bedeutung dieses Motivs erfuhr im Laufe der Kirchen- und Theologiegeschichte allerdings manche Abschwächung, u. a. infolge Spiritualisierung des Bettelns, infolge der Ineffizienz der Almosenpraxis im Vergleich zu anderen Formen der Hilfeleistung und infolge der Polarisierung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der theoretischen Reflexion.
3. Der ekklesiologische Ort der Liebestätigkeit
Liebe im Sinn der Wahrnehmung von Notlagen und des tatkräftigen Helfens erscheint im Zusammenhang der dargestellten Ideen nicht nur als Auftrag an die einzelnen Glaubenden, sondern auch als Aufgabe der glaubenden Gemeinschaft. Das entsprechende Bewusstsein gehörte von Anfang an zum Selbstverständnis der christlichen Gemeinden (Gemeinde) und ihrer Verbundenheit untereinander. Sie sahen sich insofern als kontrastierendes Modell gelingender und aneinander anteilnehmender Gemeinschaften im Gegensatz zur ungebrochen konfliktären Gesellschaft. Das bringt die (im Sinne einer normativen Selbstverpflichtung idealisierte) Selbstbeschreibung in Apg 2,44 f. ebenso zum Ausdruck wie das Selbstverständnis als Gemeinschaft (griechisch: koinonia), die nicht nur durch Verkündigung, Brotbrechen und Gebet konstituiert wird, sondern auch durch gemeinsamen Besitz und den Ausgleich zwischen Armen und Reichen. Im Jakobusbrief wird die proaktive Hilfe für die bedürftigen Gemeindemitglieder sogar zum Kriterium des richtigen Gottesdienstfeierns (Jak 1,26 f. und 2,2–13).
Die Versorgung mit gespendeten Gaben gehörte zu den genuinen Aufgaben der Gemeindeleitung. Apg 6 berichtet von der Einsetzung von sieben Männern in der Jerusalemer Gemeinde, die den Tischdienst bei den täglichen Gemeindeversammlungen verrichten und gewährleisten sollten, dass auch die Witwen und Armen unter den griechisch sprechenden zugewanderten Judenchristen, die (vermutlich aus sprachlichen Gründen) ihren eigenen Gottesdienst abhielten, gegenüber den ortsansässigen, hebräisch sprechenden nicht unberücksichtigt blieben.
Ein sicherer Indikator für den ekklesiologischen Rang der organisierten Liebestätigkeit in den frühen Gemeinden ist die in den paulinischen Briefen dokumentierte Sorge, dass das mit der Feier des Herrenmahls verbundene Sättigungsmahl für alle Gemeindemitglieder nicht zur Karikatur der Eucharistie wird, indem es wie im heidnischen Umfeld zur Demonstration sozialer Statusüberlegenheit benutzt wird und damit Spaltungen provoziert (1 Kor 11,17.34). Auf der Linie der integrierenden Mahlpraxis Jesu erwartet Paulus von den Mitgliedern seiner Gemeinde vielmehr die gegenseitige Annahme trotz der sozial-ökonomischen, kulturellen, herkunfts- und begabungsmäßigen Andersartigkeit als Konsequenz aus der eucharistischen Gemeinschaft (Gal 3,28; 4,6 f.).
Das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde als Gemeinschaft realisiert sich auch in der Kollekte für eine andere Gemeinde, in der Not herrscht, und in der Gastfreundschaft. Über den naheliegenden Zweck der Abhilfe von Not hinaus wird beides theologisch gedeutet als Zeichen der Verbundenheit und Einheit (2 Kor 9,15), ja sogar als eine Art von „Gegenleistung“ für den erhaltenen Glauben (2 Kor 8, 14 und Röm 15,26 f.) bzw. als Realisierung der Geschwisterlichkeit in Christus (Röm 12,13; 16,1 f.).
In den geschilderten Zusammenhängen erweist sich das organisierte Liebeshandeln als integraler Bestandteil und genuine Ausdrucksform der Evangelisierung, auch wenn die institutionelle Ausgestaltung und die Art, Not wahrzunehmen und Hilfe zu geben, im Laufe der Kirchen-, Kultur- und Sozialgeschichte (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) sehr unterschiedlich war. Dem intendierten Ausdrucks- und Zeugnischarakter der Glaubenden entspricht in der Außenwahrnehmung, dass die Liebestätigkeit als signifikant und anziehend wahrgenommen wurde. Für die rasche Ausbreitung des frühen Christentums scheint die organisierte Wohltätigkeit ein wichtiger Faktor gewesen zu sein.
In der gegenwärtigen Ekklesiologie wird D. als eine Grundfunktion von Kirche neben Martyria, Leiturgia und Koinonia unbestritten anerkannt. Das Zweite Vatikanische Konzil hat Wesen und Sendung der Kirche (Katholische Kirche) als „Kirche der Liebe“, „dienende Kirche“ und „Kirche der Armen“, verbunden mit den „Bedrängten aller Art“, bestimmt (LG 8,9,23; GS 1; 42). Die Rede von einer Grundfunktion bringt zum Ausdruck, dass D. eine Dimension von Kirche darstellt, die die anderen drei Vollzüge durchdringt und ihnen existentiellen Ernst, Leibhaftigkeit und Glaubwürdigkeit verschafft. Trotzdem sind im populären Verständnis wie auch in kirchlicher Routine und in der Frömmigkeit die früheren Vorstellungen von der Nachrangigkeit gegenüber Bekenntnis, gottesdienstlicher Feier und sakramental-ritueller Heilsvermittlung noch immer wirksam.
4. Caritas und Diakonie im Prozess des gesellschaftlichen Wandels
Gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse wie die europäische Integration (Europäischer Integrationsprozess) und die deutsche Wiedervereinigung (Deutsche Einheit) haben auch Auswirkungen auf die Aufgabenfelder, Rahmenbedingungen und Anforderungen der verbandlich organisierten C. und D. Symptomatisch sichtbar werden sie im Auftreten neuer Aufgaben (insb. fragile Beziehungen, Erziehungsprobleme, neue Formen von Sucht, Verschuldung, Pflegebedürftigkeit, Integration von Flüchtlingen und Migranten; Migration), im Erreichen der Grenzen finanzieller und personeller Leistungsfähigkeit und in massiven demographischen Verschiebungen (Demographie). Da sich der Staat nicht in der Lage sieht, für die steigenden Bedarfe aufzukommen und die Erhöhung des Eigenanteils der Bürger und Bürgerinnen rasch an Zumutbarkeits- und Akzeptanzgrenzen stößt, versucht die Politik die Regelgrundlagen dahingehend zu verändern, dass sie soziale Dienstleistungen dem Markt aussetzt. Dies nötigt C. und D. mit anderen, teils kommerziellen Anbietern in einen doppelten Wettbewerb – um die „Kunden“ und um den „Zuschlag“ des Kostenträgers – einzutreten und sich als Dienstleistungsunternehmen zu verstehen bzw. zu reorganisieren. Damit im Zuge dieser Rollentransformation zum professioneller Anbieter auf dem Markt sozialer Dienstleistungen die genuin christliche Anwaltschaft für Benachteiligte, Schwache und Notleidende in der Gesellschaft nicht erodiert, wollen Positionspapiere, Richtlinien und Leitbilder das spezifische Profil und die Identität („Philosophie“) der zugehörigen „Unternehmen“ sichern. Ihre Relevanz hängt allerdings ganz davon ab, dass sie in der Praxis mit entsprechendem Leben gefüllt werden.
Wichtige Chancen eröffnen sich C. und D. auch in dem seit geraumer Zeit wieder entdeckten wertgeschätzten und aktivierten „3. Sektor“ zwischen Staat und Markt. Als Agenturen und Distributionsplattformen für freiwillige soziale Arbeit, als Sensoren für soziale Nöte im gemeindlichen Nahraum wie auch in der Gesellschaft, ferner als Interessenvertreter für die öffentliche Unterstützung, Anerkennung und Aufwertung des Freiwilligenarbeits wachsen ihnen wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu. Zugl. können sie dadurch in der säkularer werdenden Gesellschaft eine Brückenfunktion ausüben, wenn es ihnen gelingt, die Verknüpfung sozialen Engagements mit motivierenden religiösen bzw. christlichen Ideen, Symbolen, Erzählungen und Vorbildern und den darin gespeicherten Sinnressourcen zu erhalten und den Geist des Evangeliums in der gesellschaftlichen Realität zeichenhaft zu konkretisieren.
Durch die Globalisierung von Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, durch Migrationsbewegungen (Migration) und durch die mediale Kommunikation rücken schließlich Nöte anderswo auf der Welt in den Wahrnehmungshorizont der Menschen. Die Kirche als Realsymbol der Menschheitsfamilie hat eine besondere Verpflichtung und auch spezifische Möglichkeiten, die ferne menschliche Not in den Blick zu nehmen und Aktionen der Solidarität als Beiträge zum Aufbau eines gerechteren und anteilnehmenden Zusammenlebens zu initiieren, auch wenn diese vielfach nur exemplarisch, fragmentarisch und symbolisch sein können. Insofern sind die internationalen Hilfswerke (Katholische Hilfswerke, Evangelische Hilfswerke) genauso wie lokale Partnerschaften und die Hilfsaktionen von Einzelnen oder von Gruppen Engagierter Weiterentwicklungen des organisierten Hilfehandelns der christlichen Kirchen unter den Bedingungen der globalisierten Welt.
Literatur
C. Stiegemann (Hg.): Caritas – Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart, 2015 • R. Kany: Nächstenliebe u. Gottesliebe, in: RAC, Bd. 25, 2013, 651–720 • H.-J. Höhn: Fremde Heimat Kirche, 2012 • W. Kasper: Barmherzigkeit, 2012 • M. Theobald: Eucharistie als Quelle sozialen Handelns, 2012 • Benedikt XVI.: Enzyklika Caritas in veritate, 2009 • Die deutschen Bischöfe: Berufen zur caritas, 2009 • H. Haslinger: Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, 2009 • K. Gabriel (Hg.): Caritas und Sozialstaat unter Veränderungsdruck, 2007 • Benedikt XVI.: Enzyklika Deus caritas est, 2005 • C. Frerk: Caritas und Diakonie in Deutschland, 2005 • K. Gabriel: Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände, 2001 • K. Hilpert: Prinzip Anwaltschaftlichkeit, in: M. Lehner/M. Manderscheid (Hg.): Anwaltschaft und Dienstleistung. Organisierte Caritas im Spannungsfeld, 2001, 77–94 • I. Baumgartner: Diakonie, in: H. Haslinger (Hg.): Handbuch Praktische Theologie, 2000, Bd. 2, 396–421 • L. Karrer: Grundvollzüge christlicher Praxis, in: H. Haslinger (Hg.): Handbuch Praktische Theologie, Bd. 2, 2000, 379–395 • K. Bopp: Barmherzigkeit im pastoralen Handeln der Kirche, 1998 • E. Gatz (Hg.): Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 5: Caritas und soziale Dienste, 1997 • K. Hilpert: Caritas und Sozialethik, 1997 • Wort des Rates der EKD und der DBK: Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, 1997 • H. Haslinger: Diakonie zwischen Mensch, Kirche und Gesellschaft, 1996 • R. Völkl: Nächstenliebe – die Summe der christlichen Religion?, 1987 • G. Theißen: Soziologie der Jesusbewegung, 1977.
Empfohlene Zitierweise
K. Hilpert: Caritas/Diakonie, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Caritas/Diakonie (abgerufen: 24.11.2024)