Guerilla
I. Geschichtliche Aspekte
Abschnitt drucken1. Definition
G. (spanisch: guerrilla, kleiner Krieg) bezeichnet den militärisch oder paramilitärisch (Militär) organisierten irregulären bewaffneten Kampf und gilt oft auch als Synonym für Freiheitsbewegungen. Der Begriff des Guerillero wurde weitgehend synonym mit „Partisan“ oder „Freischärler“ gebraucht; seit der Jahrtausendwende ergeben sich zudem Überlappungen zum Begriff „Terrorist“. Dabei differierten je Perspektive (militärisch, politisch, rechtlich) unterschiedliche Konnotationen, die sich im Zeitverlauf stark wandelten. Stets blieb umstritten, welchen Grad an Regularität/Irregularität den G.-Kämpfern zukam. Bedingt durch den irregulären Charakter der Kampfhandlungen und den Mobilisierungsmodus stellt die Trennung zwischen Kämpfern und unbeteiligter Zivilbevölkerung ein bes. Problem dar. Der von Protagonisten der G. propagierte „Volkskrieg“ verfolgt das Ziel politischer und militärischer Mobilisierung. Dies verbindet sich mit rechtlichen Legitimationsstrategien und medialer Inszenierung.
Kennzeichnend für die G. sind taktische Gefechtshandlungen in kleinem Maßstab. Diese richten sich zumeist gegen reguläre Armeen. Volkskriegskonzeptionen von Carl von Clausewitz oder Mao Zedong zielten darauf ab, diese taktische Ebene auf eine strategische zu heben. Zudem führt der in G.-Konflikten meist beiderseits aberkannte Status als rechtmäßige Konfliktpartei zur Entgrenzung der Gewaltintensität (Gewalt) und Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Unbeteiligten. Gleichwohl können sich im Konfliktverlauf auch Tendenzen einer Symmetrisierung ergeben.
2. Historische Entwicklung
Die heutige Bedeutung des Begriffs G. knüpft sich an den Spanischen Unabhängigkeitskrieg (guerra de la Independencia, englisch: Peninsular War, 1808–14). Das Wort G. wurde jedoch bereits Anfang des 17. Jh. verwendet. Im 18. Jh. war der militärische Begriff G. identisch mit demjenigen des kleinen Krieges (französisch: petite guerre). Hiermit eng verbunden war der Einsatz von Partisanen (französisch/englisch: partisan, deutsch: Parteigänger). Als solche wurden Führer von im kleinen Maßstab agierenden Truppenkörpern (französisch: parti) bezeichnet. Typisch war hier in der Frühen Neuzeit der Einsatz sog.er leichter Truppen, wozu bes. Husaren oder Freitruppen (organisiert in Form von regulären Truppen wie irregulären Milizen) zählten. Zum kleinen Krieg zählten Handstreiche, Hinterhalte, die Lager- und Marschsicherung, das Beschaffen von Pferdefutter oder das Eintreiben von Beute.
Im Gefolge der Atlantischen Revolutionen in Nordamerika (1776) und Frankreich (1789; Französische Revolution) wurde das Recht zur Kriegführung dem „Volk“ zugesprochen. Damit erlangten vormals rein militärisch geprägte Begriffe (kleiner Krieg/G., Partisan, aber auch Söldner/Soldat) politische Konnotationen. Mit dem spanischen Kampf gegen die napoleonische Besatzungsherrschaft wurde G. ab 1808/09 gleichbedeutend mit „Volkskrieg“ gebraucht. Diese Entlehnung aus der Militärsprache diente legitimierenden Absichten und wurde als Unabhängigkeitskrieg (Krieg) oft auch verklärt. Erst ab Mitte des 19. Jh. setzte sich das Wort G. als Bezeichnung für irreguläre Kämpfer vollends durch. Gleichzeitig wurden aufständische Zivilpersonen aus konservativer Perspektive meist als „Briganten“ oder „Insurgenten“ bezeichnet. Der auf die taktischen Aspekte fokussierte Begriff „kleiner Krieg“ bestand in der Militärsprache bis ins frühe 20. Jh. fort.
Während im 19. Jh. das Konzept vom Volkskrieg in der Deutung des politischen Liberalismus und später des Sozialismus mit der Forderung nach der allg.en Wehrpflicht und gleichen politischen Teilhaberechten aller Staatsbürger verbunden wurde, galt eine Beteiligung der Bevölkerung am Kampf aus konservativ-legitimistischer Sicht als Gewaltverbrechen. Dies führte etwa seitens preußisch-deutscher Truppen im Jahr 1871 zu massiven Vergeltungsmaßnahmen gegen französische Franctireurs und vermeintlich beteiligte Zivilpersonen. Ähnliche Gewalteskalationen traten zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Belgien sowie im Zweiten Weltkrieg massiv an der Ostfront, auf dem Balkan, in Italien und z. T. in Frankreich auf. Obwohl Repressalien gegen kämpfende Zivilpersonen dem geltenden Kriegsbrauch entsprachen, blieb die Grenze zu Kriegsverbrechen stets unscharf. Im Zeitalter der Weltkriege vermengte sich der Kampf gegen irreguläre Kräfte mit Kriegsverbrechen (z. B. im rassenideologischen Vernichtungskrieg des Nationalsozialismus).
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden irreguläre Konzepte zur Landesverteidigung v. a. in blockfreien und neutralen Staaten konzipiert, insb. in Jugoslawien, wo unter Josip Broz Tito der Mythos des Partisanen zur Herrschaftslegitimierung diente. Dagegen hielt die Gründungsgeneration der westdeutschen Bundeswehr irreguläre Verteidigungskonzeptionen für militärisch abwegig. Trotz zeitweiser Unterstützung sozialistischer Befreiungsbewegungen der Dritten Welt galt dieser Primat konventioneller Kriegführung auch für die bewaffneten Organe der DDR.
Verstärkt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs traten antikoloniale Befreiungsbewegungen hervor, nun explizit unter der Bezeichnung G. und in gewisser Kontinuität irregulärer Konflikte seit Beginn der europäischen Expansion. Beeinflusst von europäischer Militärterminologie, v. a. aber in Anlehnung an die Oktoberrevolution in Russland (1917) und inspiriert durch den Erfolg der chinesischen Volksbefreiungsarmee unter Mao (1949) firmierten diese Aktivitäten oft als „revolutionärer Krieg“ (Revolution). Die dagegen seitens der europäischen Kolonialmächte ergriffenen militärischen Maßnahmen wurden als „antisubversiver Kampf“, low intensity warfare oder Counterinsurgency bezeichnet. Die v. a. auch mediale Inszenierung Ernesto „Che“ Guevaras als Held der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt strahlte auch nach Europa und in die USA aus. Die von E. Guevara und Régis Debray propagierte Fokus-Theorie beeinflusste zusammen mit dem Konzept der Stadt-G. (Carlos Marighella) auch terroristische Gruppierungen in Westeuropa, die sich selbst teils als G. bezeichneten und phasenweise im Austausch mit den Konfliktherden im Nahen Osten standen. Seit der britischen Mandatsherrschaft 1918/19 und der Gründung des Staates Israel 1948 entwickelte sich hier eine Art Laboratorium für fortwährende Umformungsprozesse irregulärer Gewalt und Maßnahmen zu ihrer Niederschlagung.
3. Definitionsschwierigkeiten und rechtliche Aspekte
G. ist als trennscharfer Gattungsbegriff nur begrenzt geeignet. Vielmehr unterliegt er einem steten Wandel. In seiner Kritik an einer zu weit gefassten Begrifflichkeit markierte Carl Schmitt folgende Kennzeichen des Partisanen, die auch für die G. Anwendung finden können: Irregularität, Mobilität, politisches Engagement und die Verteidigung der eigenen Heimat (tellurischer Charakter). Diese Definition erlaubt zwar juridisch eindeutige Zuordnungen, ist aber für eine historisch adäquate Beschreibung der Phänomene problematisch.
Die bereits im republikanischen bzw. spätantiken Rom (Cicero, Augustinus) sowie im Mittelalter (Thomas von Aquin) und der Frühen Neuzeit (Francisco de Vitoria) fortentwickelte Theorie vom Gerechten Krieg (bellum iustum) enthält verschiedene Konzepte zur rechtlichen Würdigung irregulärer Kämpfer, die auch auf die G. übertragbar sind. Demnach gilt das Recht zum Krieg (ius ad bellum) nur für reguläre militärische Kräfte und daher nicht für G.-Kämpfer. Entspr. sind die Kriterien für die Befolgung von Regeln der Konfliktaustragung (ius in bello) von ihrer Anerkennung als rechtmäßige Kombattanten abhängig.
Zur kriegsrechtlichen Unterscheidung dieser Kräfte entstand im Jahr 1863 der Lieber-Code, der die völkerrechtlichen Diskussionen (Völkerrecht) in der Folgezeit beeinflusste. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 knüpft den rechtmäßigen Kombattantenstatus insb. an das Vorhandensein einer einheitlichen Führung, an das offene Führen der Waffen sowie an sichtbare Erkennungszeichen. Die Genfer Konvention von 1949 zur Behandlung von Kriegsgefangenen erkennt einen Kombattantenstatus auch jenen Widerstandsbewegungen zu, die unter den genannten Kriterien im besetzten Gebiet kämpfen. Das Erste Zusatzabkommen erlaubt zudem einen bewaffneten Kampf gegen Kolonialherrschaft (Kolonialismus) und fremde Besatzung. Voraussetzung für die völkerrechtlichen Schutzbestimmungen ist die Einhaltung der völkerrechtlichen Vorgaben durch beide Konfliktparteien. Im konkreten Fall bleibt freilich die Abgrenzung zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Konfliktteilnehmern schwierig, und auch die Bezeichnungen der unrechtmäßigen Kombattanten haben sich im Zeitverlauf derart verändert, dass G. als Quellenbegriff jeweils historisch präzise eingeordnet werden sollte.
Wiederholt haben sich sowohl die taktisch-strategischen als auch die semantischen Grenzen zwischen militantem Widerstand, Terrorismus, G.-Kriegführung und regulären militärischen Operationen verschoben. Dies gilt letztlich auch für Aktivitäten des transnational operierenden Terrorismus und die gegen ihn ins Feld geführten militärischen Maßnahmen, ohne dass dabei die Definitions- und Bewertungsschwierigkeiten in befriedigender Weise gelöst worden wären.
Literatur
M. Rink: Spaniens edles Beispiel. Eine preußische Guerilla?, in: B. Aschmann/T. Stamm-Kuhlmann (Hg.): 1813 im europäischen Kontext, 2015, 99–122 • S. Scheipers: Unlawful Combatants. A Genealogy of the Irregular Fighter, 2015 • D. Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges, 2014 • R. Carrasco Àlvarez: La guerra interminable. Claves de la guerra de guerrillas en España, 2013 • B. Heuser: Rebellen – Partisanen – Guerilleros. Asymmetrische Kriege von der Antike bis heute, 2013 • H.-H. Kortüm: Kriegstypus und Kriegstypologie, in: D. Beyrau/M. Hochgeschwender/D. Langewiesche (Hg.): Formen des Krieges, 2013, 71–98 • D. Porch: Counterinsurgency. Esposing the Myths of a New Way of War, 2013 • H. Münkler: Die neuen Kriege, 2002 • C. Marighella: Hdb. des Stadtguerillero, 1971 • Mao Zedong: Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt, 1966 • E. Guevara: Der Partisanenkrieg, 1962.
Empfohlene Zitierweise
M. Rink: Guerilla, I. Geschichtliche Aspekte, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Guerilla (abgerufen: 24.11.2024)
II. Theoretische Positionen
Abschnitt druckenDie Entwicklung der Theorie des Partisanen von Carl von Clausewitz über Wladimir Iljitsch Lenin zu Mao Zedong wurde durch die Dialektik von Regulär und Irregulär, von Berufsoffizier und Berufsrevolutionär vorangetrieben. Die Partisanen des spanischen G.-Krieges von 1808 waren die ersten bewaffneten Gruppen, die es wagten, irregulär gegen die ersten modernen regulären Armeen zu kämpfen. Partisanen kämpften auf ihrem engeren Heimatboden. C. von Clausewitz’ Formel vom Krieg als der Fortsetzung der Politik enthält bereits in nuce eine Theorie des Partisanen, deren Logik durch W. I. Lenin und Mao zu Ende geführt worden ist. Die G. ist dadurch nicht mehr eine bloße begrenzte militärische Taktik; sie birgt in sich politische und strategische Konsequenzen, die in Revolutionen münden sollen.
1. Carl von Clausewitz’ „Kleiner Krieg“
Seit C. von Clausewitz herrschte Konsens darüber, dass unter kleinem Krieg der Gebrauch kleiner Truppenabteilungen im Feld zu verstehen ist. Gefechte von 20, 50, 100 oder 3 000–4 000 Mann gehören, wenn sie nicht Teil eines größeren Gefechts sind, dazu. Diese Definition – so C. von Clausewitz – möge zwar mechanisch oder unphilosophisch wirken, sei aber die zutreffendste. Alle kriegerischen Handlungen, die mit kleinen Truppenabteilungen geschehen, sind Gegenstände des kleinen Krieges. In seinen Vorlesungen darüber unterstreicht er dessen „sonderbaren Charakter“ (Clausewitz 1966: 238), da in ihm neben der höchsten Kühnheit eine viel größere Scheu vor Gefahr als im großen Krieg besteht. Diesen Charakter nehmen auch die Truppen an, welche ihn führen. Für C. von Clausewitz gilt es, eine Gesamtansicht des Phänomens „kleiner Krieg“ zu bieten. Dies geschieht mittels der „philosophisch-dialektischen Denkweise“ (Hahlweg 1973: 19) und unter Berücksichtigung der Tiefe des historischen Erfahrungsraumes. Insofern können die „Vorlesungen über den Kleinen Krieg“ als der erste Hauptteil des Werkes „Vom Kriege“ angesehen werden. Er will eine Ortsbestimmung des Kleinen Krieges vornehmen, die verwirrende Vielfalt der Erscheinungsformen im Bereich der neuen Kriegskunst überschauen und deuten. Seine Überlegungen können als Hauptquelle für die Ideengeschichte des G.-Kriegs aufgefasst werden. Er macht dabei plausibel: Den Volkskrieg hat man als eine Erweiterung und Verstärkung von Krieg überhaupt anzusehen.
2. Die Theorie der Guerilla im 20. Jh.
Carl Schmitt nennt in seiner „Theorie des Partisanen“ (1963) wesentliche Kriterien des G.-Kampfes wie Irregularität, politische Intensität, gesteigerte Mobilität sowie den tellurischer Charakter. Der Partisan ist für ihn ein irregulärer Kämpfer. Er kämpft an einer politischen Front; der politische Charakter seines Tuns bringt den urspr.en Sinn des Wortes „Partisan“ (ganz im parteiischen Sinn des Begriffs) wieder zur Geltung. Er verfügt über Beweglichkeit, Schnelligkeit und beherrscht den überraschenden Wechsel von Angriff und Rückzug. Trotz aller taktischen Beweglichkeit ist die Situation des Partisanen grundsätzlich defensiv. Allerdings verändert der G.-Kampf sein Wesen, wenn er sich mit der absoluten Aggressivität einer weltrevolutionären oder einer technizistischen Ideologie identifiziert.
Bei W. I. Lenin ging die Theorie des Partisanen in die Praxis des politischen Kampfes über. Seit dem Dezemberaufstand von 1905 ist es fast nirgends in Russland zur völligen Einstellung der Kampfhandlungen gekommen, die von Seiten des „revolutionären Volkes“ (LW 10: 146) in einzelnen Partisanenüberfällen zum Ausdruck kommen. Wie W. I. Lenin unterstreicht, dienen derartige Partisanenaktionen zugl. der Desorganisierung des Feindes und der Vorbereitung bewaffneter Massenaktionen. Derartige Aktionen sind auch für die Kampferziehung und militärische Ausbildung der Kampfgruppen notwendig. Die Partisanenkampfaktionen müssen so geartet sein, dass sie der Aufgabe Rechnung tragen, Kader von Führern der Arbeitermassen während des Aufstands zu erziehen und Erfahrung in überraschenden Angriffshandlungen zu vermitteln.
Mao „verortet“ zunächst den eigenen Krieg als einen revolutionären Krieg, der in einem halbkolonialen und halbfeudalen Land geführt wird. Deshalb müssen nicht nur die allg.en Gesetze des Krieges, sondern auch die spezifischen Gesetze des revolutionären Krieges in China studiert werden. Für Mao bilden Kriege die höchste Kampfform. Gestützt auf seine Widerspruchslehre werden Kriege zur Lösung der Widersprüche angewendet, sobald diese Widersprüche eine bestimmte Entwicklungsstufe erreicht haben. Wenn man die näheren Umstände des Krieges nicht begriffen hat, ist man nicht imstande, ihn zu gewinnen. Die Überlegungen vom W. I. Lenin und Mao werden von v. a. von linken Theoretikern und Praktikern der G. aufgegriffen.
So stützt sich Frantz Fanon v. a. auf die algerische Revolution, wenn er behauptet, dass sich die kolonialen Völker nur mit Gewaltmethoden befreien könnten. Kolonialismus ist Gewalt im Naturzustand und kann sich nur einer noch größeren Gewalt beugen. Daher werde die Gewalt diesen Völkern aufgezwungen und nur der allg.e bewaffnete Aufstand führe zur politischen Befreiung. Gewalt wirkt in diesem Befreiungskampf totalisierend und nationalisierend. F. Fanon rückte dabei alle nicht gewalttätigen Formen des politischen Kampfes in den Hintergrund und vertrat die Meinung, dass gerade die bewaffnete Gewalt immer die Hauptrolle spielen müsse.
Nach der Focus-Theorie von Régis Debray – einem Kampfgenossen von Ernesto „Che“ Guevara – müssen sich die Handlungen der Revolutionäre in allen Ländern Lateinamerikas – zumindest in der ersten Etappe – auf den Partisanenkrieg auf dem Land beschränken. R. Debray negiert somit die Rolle der Arbeiterklasse, indem er erklärt, dass die soziale Basis der revolutionären Bewegung in der Stadt eingeengter sei als in ländlichen Gebieten. Hauptziel der Partisanen-Handlungen müsse die Vernichtung des Gegners und die Erbeutung seiner Waffen sein. R. Debray rückt die Aufgaben der politischen Organisierung an die zweite Stelle und kommt zu der Schlussfolgerung, dass die Partisanenbewegung nicht von einer politischen Partei organisiert werden müsse, sondern umgekehrt, dass die Partisanenarmee die Basis bilde, aus der eine wirklich revolutionäre Partei entstehen könne. Er folgert daraus, dass unverzüglich mit dem Partisanenkrieg begonnen werden müsse.
Die revolutionäre Strategie des nordvietnamesischen Generals Vo Nguyen Giap ging von einem auf lange Sicht geführten Kampf aus, der sich auf eine Abfolge von Phasen erstreckte:
a) eine defensive Phase,
b) die Phase des Gleichgewichts und
c) die Phase der allg.en Gegenoffensive.
Die Kampfformen mussten den konkreten Verhältnissen angepasst werden. V. a. zu Anfang war die eigentliche Kampftechnik die G. Die G. konnte in den Bergen und im Mekongdelta operieren. Sie konnte sich nicht zuletzt auf Kosten des Feindes ausrüsten. Im Zusammenspiel mit der regulären Armee gelang es, die gegnerischen Truppen zu schwächen oder aufzureiben. Der G.-Krieg ging bald in einen Bewegungskrieg über, der noch stark von der G.-Technik beeinflusst war, doch bald an der Hauptfront im Norden zur vorrangigen Kampfform aufstieg. Diese Entwicklung vom G.-Kampf zum Bewegungskrieg verlief parallel zu einer ständigen Vergrößerung der Volksarmee. Am Ende könne dann auch eine moderne Armee von einer aus der G. aufwachsenden und zunächst unterlegenen Truppe besiegt werden, falls auf deren Seite überlegene moralische Faktoren samt kriegerischem Können ins Gewicht fielen.
Der Movimiento de Liberación Nacional hat erstmals – als Tupamaros – die Kampfform der Stadt-G. entwickelt. Ihr zentraler Theoretiker war Carlos Marighella. Die Stadt-G. kämpft gegen die Militärdiktatur und wendet dabei unkonventionelle Mittel an. Ihr Ziel ist die weitere Entwicklung der revolutionären Strategie, v. a. die Bildung einer Land-G., die zur Gründung eines Volksheeres führt, um das bestehende System (hier: Brasiliens) zu „entlarven“ und zu zerstören. Nach C. Marighella wird der Stadtguerillero weniger durch die Art der Aktionen charakterisiert als vielmehr durch das Bewusstsein, das ihn zu diesen Aktionen führt. C. Marighella begreift durchweg den G.-Krieg als eine revolutionäre Kampfform. Zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt – so sehen es die Vertreter der Stadt-G. – besitzt eine bewaffnete Gruppe (oder Fraktion) größere Möglichkeiten, sich in eine „große Armee des Volkes“ zu verwandeln. Das Konzept der Stadt-G. hatte großen Einfluss auf linksextremistische Terrorgruppen (Terrorismus) in Westeuropa.
3. Fortdauernde Erscheinung der „Guerilla“
Im Grunde gewinnt von F. Fanon über R. Debray bis zu C. Marighella (trotz Einbettung ihrer Konzepte in eine materialistische Gesellschaftstheorie) eine idealistische Denkweise mit Lust an der Ausübung von Gewalt die Überhand über die Wertschätzung militärischer Organisationskraft, wie sie von C. von Clausewitz über W. I. Lenin und Mao bis hin zu V. N. Giap als selbstverständlich erachtet wurde. In der einen Theorielinie stehen denn auch erfolgreiche Widerstandsbewegungen (Widerstand) und Revolutionen, während die andere sich in politisch-gewalttätige Romantik (Politische Romantik) verzweigte und wenig Konstruktives hinterließ. Gleichwohl finden sich strategisch-taktische Überlegungen des G.-Krieges im Begriff des „asymmetrischen“ Krieges wieder, bei dem sich die Dialektik von regulären Streitkräften und irregulärer G. fortsetzt.
Literatur
F. Wassermann: Asymmetrische Kriege, 2015 • T. Rid/M. Hecker (Hg.): War 2.0. Irregular Warfare in the Information Age, 2009 • D. Schössler: Carl von Clausewitz, 2005 • H. Münkler: Die neuen Kriege, 2002 • H. Münkler (Hg.): Der Partisan, 1990 • C. von Clausewitz: Vom Kriege, 181973 • W. Hahlweg: Das Clausewitz-Bild einst und jetzt, in: ebd. • A. Schubert: Die Stadtguerilla als revolutionäre Kampfform, 1972 • J. Schickel (Hg.): Guerrilleros, Partisanen. Theorie und Parxis, 21970 • V. Giap: Volkskrieg, Volksarmee, 1968 • E. Guevara: Guerilla. Theorie und Methode, 1968 • R. Debray: Revolution in der Revolution? Bewaffneter Kampf und politischer Kampf in Lateinamerika, 1967 • C. von Clausewitz: Schriften – Aufsätze – Studien – Briefe, Bd. 1, 1966 • Mao Zedong: Ausgewählte Werke, Bd. 1, 1966 • C. Schmitt: Theorie des Partisanen, 1963 • W. I. Lenin: Über Krieg, Armee und Militärwissenschaft, 1961.
Empfohlene Zitierweise
D. Schössler: Guerilla, II. Theoretische Positionen, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Guerilla (abgerufen: 24.11.2024)