Scharia
1. Begriff
Der Begriff S. ist vielschichtig und wird häufig missverstanden. Im Koran taucht er nur einmal und in unspezifischer Bedeutung auf (Sure 45:18: der Weg zur Tränke, der von Gott gebahnte Weg). Als Fachbegriff bezeichnet er nach einem seit der Frühzeit des Islam geläufigen Verständnis die islamische Normenlehre, bisweilen auch die Normenlehre anderer Religionen bzw. der Vorläuferreligionen des Islam (z. B. „S. des Moses, S. des Jesus, S. der Zoroastrier“). Sie umfasst die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen des Islam. Dazu zählen Vorschriften über Ritualgebete, die Almosensteuer, das Fasten im Fastenmonat Ramadan, die Pilgerfahrt nach Mekka, das Verbot bestimmter Speisen und Getränke wie Schweinefleisch und Alkoholisches ebenso wie Rechtsvorschriften. Auch der korrespondierende Begriff der Regelung (ḥukm, pl. aḥkām) bezeichnet gleichermaßen rechtliche Regelung und religiöse Verpflichtung.
Die Bewertung menschlichen Verhaltens wird nach der S. in fünf Beurteilungskategorien untergliedert, die sich in ihrem Sanktionensystem voneinander unterscheiden: Menschliches Handeln ist nach diesseitsbezogenen Bewertungskategorien „geboten“ (wāğib) bzw. „Pflicht“ (farḍ), „erlaubt“ (mubāḥ) und „verboten“ (ḥarām); eindeutigen Jenseitsbezug weisen die Bewertungen „empfohlen“ (mandūb, mustaḥabb, manchmal auch sunna genannt) und „missbilligt“ (makrūh) auf. Für letzteres muss sich der Mensch also primär vor Gott verantworten; diesseitige Sanktionen werden von der Rechtsordnung nur in einzelnen Fällen zusätzlich angeordnet, z. B. die Anfechtbarkeit missbilligter Rechtsakte. Nach alledem ist die häufig anzutreffende Übersetzung von „S.“ mit „islamisches Recht“ stark verkürzt, ja geradezu falsch. Gleichwohl sind die religiösen und rechtlichen Normen in einem Gesamtverständnis vielfach aufeinander bezogen. Der Muslim darf die Ehe auflösen, ein guter Muslim meidet dies aber, weil die Scheidung (in der Form der Verstoßung der Ehefrau) als missbilligt gilt. Es bleibt jedoch bei den unterschiedlichen Sanktionensystemen.
Zur Normenlehre zählen nicht nur einzelne Normen, wie sie von den sich seit dem 8./9. Jh. entwickelnden Schulen erfasst und diskutiert werden (die sog.en Verzweigungen, arab. furūʿ), sondern auch die Quellen der Normen und die Methoden ihrer Interpretation (die sog.en Wurzeln arab. usūl). Häufig findet sich eine Unterscheidung zwischen den unveränderlichen Grundlagen der S. und der Jurisprudenz (fiqh), die sich mit der Interpretation religionspraktischer und rechtlicher Normen befasst. Das islamische Recht ist demnach nur ein vergleichsweise kleiner Teil der S. Während die S. als ewiggültig apostrophiert wird, besteht Einigkeit unter den Gelehrten, dass die Regeln für zwischenmenschliche Beziehungen (hier also Rechtsregeln) den Umständen von Ort und Zeit unterworfen sind und dementsprechend interpretiert werden müssen. Dafür gibt es prominente Beispiele aus der islamischen Tradition, z. B. die unterschiedlichen Haltungen des berühmten Gelehrten Muhammad ibn Idrīs Al-Schafiʿi in irakischer und später in ägyptischer Lebensumgebung. Der fiqh ist nach solchem Verständnis im Gegensatz zur S. nicht gottgegeben, sondern ein Produkt und Instrument menschlichen Wirkens.
2. Entwicklung
Die Anfänge der islamischen Normenlehre liegen mangels überlieferter Quellen weitgehend im Dunkeln. Vieles wurde von den Vorläuferreligionen des Islam und deren Kulturen im vorderasiatischen und nordafrikanischen Raum übernommen, teils schon im Koran selbst, wie z. B. das jüdische Gebot der Beschneidung von Knaben. Ab dem 8. Jh. bis ins 10. Jh. wird dann von den sunnitischen, zeitlich verzögert auch von den schiitischen Schulen ein zusehends kohärentes System des Rechts und der Methodik seiner Interpretation und Anwendung entwickelt. Dennoch besteht ein großes Maß an Pluralität sowohl zwischen den Schulen, die sich indes gegenseitig anerkennen, als auch innerhalb dieser Schulen. Gegenstände sind neben religionspraktischen Vorschriften wie solchen über die rituelle Reinigung vor dem Gebet oder das Fasten auch Rechtsnormen in sehr unterschiedlicher Regelungsdichte.
Die höchstrangigen Quellen – Koran und überlieferte Tradition des Propheten Muhammad sowie das Beispiel seiner Zeitgenossen und der ersten muslimischen Generationen – enthalten teilweise detailreiche Regelungen v. a. des Familien- und Erbrechts, ferner einige Bestimmungen des Vertrags- und Wirtschaftsrechts, des Strafrechts, des Steuerrechts, des Sklavenrechts und des Verfahrensrechts. Das Vertrags- und Wirtschaftsrecht ist grundsätzlich wirtschaftsfreundlich gestaltet; jedoch werden Zinsnahme und Spekulationsgeschäfte verboten. Im Strafrecht finden sich einige im Koran genannte Delikte mit drakonischen Körperstrafen, deren Anwendung allerdings durch restriktive Auslegung meist vermieden werden sollte. Daneben existieren vom Herrscher annähernd beliebig festgelegte Strafnormen. Für das Staats- und Verwaltungsrecht finden sich fast keine Regelungen. Traditionell wird ein Kalifat gefordert, dessen Aufgabe in der Wahrung der Staatsinteressen (innere Ordnung und Verteidigung nach außen sowie nach Möglichkeit Erweiterung des islamisch beherrschten Terriroriums im Dschihad) besteht und dem die Kompetenz zur Verwaltung weltlicher Dinge (siysāsa šarʿīya) zugebilligt wird. In Außenbeziehungen können Waffenstillstandsverträge geschlossen werden, was häufig auch über die engen Voraussetzungen hinaus tatsächlich geschah. Daneben war und ist das Leben in vielen islamischen Ländern von kulturell grundiertem Gewohnheitsrecht geprägt, das nicht selten massiv von der Gelehrtenjurisprudenz abweicht.
Die Flexibilität der Rechtsanteile der S. wurde v. a. im sunnitischen Islam ab dem 10./11. Jh. durch Doktrinen eingeschränkt, welche die Übernahme einmal getroffener Konsensentscheidungen verbindlich machten (sog. taqlīd). Bei den Schiiten hingegen erlangte der Konsens mehrheitlich nicht diese Bedeutung, sondern beschränkte sich auf die jeweilige Generation. V. a. seit dem 19. Jh. wandten sich auch bei den Sunniten zusehends Reformer gegen diese Doktrin und propagierten die weithin eingetroffene „Wiederöffnung des Tors zum eigenständigen Raisonnement (Idschtihad)“.
Seither wurden auf dieser Basis eine Fülle von Reformen durchgesetzt. Das Rechtswesen wurde zentralisiert durch Kodifikationen und die Herausbildung einer festen staatlichen Verwaltung und Justiz und eines ebenso staatlich-säkularen Ausbildungssystems. In vielen Staaten wurden S.-Gerichte abgeschafft oder in ihren Kompetenzen auf die heutigen Kernbereiche des islamischen Rechts (Familien- und Erbrecht) beschränkt. Das Körperstrafrecht wurde weitgehend abgeschafft. Lücken, v. a. im Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht sowie im Strafrecht wurden durch die Übernahme und Anpassung westlicher Kodizes geschlossen.
Inhaltlich zielten Reformen v. a. auf die Verbesserung der Rechtsstellung von Frauen, Familien- und Sozialschutz, bessere Verwaltungsorganisation sowie stabilere Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Tätigkeit ab, bisweilen auch auf die Erweiterung staatsbürgerlicher Freiheiten und die Zurückdrängung staatlicher Willkür. Der früher auch expansiv verstandene Dschihad wird außerhalb extremistischer Kreise nur noch als zulässige Selbstverteidigung gegen Angriffe von außen interpretiert, darüberhinaus von manchen als Kampf gegen eigene Schlechtigkeit und für soziale Anliegen („Bildungs-Dschihad“, „Gender-Dschihad“).
3. Scharia heute
In vielen Staaten der islamischen Welt genießen die (sehr interpreationsbedürftigen) Prinzipien (mabādī) der S. Verfassungsrang, in traditionalistisch-repressiven Staaten wie Saudi-Arabien oder Iran auch viele herkömmliche Ausformungen; in anderen Staaten (Türkei, auf dem Balkan, in Zentralasien) wurde sie im Rechtsbereich abgeschafft. In vielen Staaten ist die Geltung ihrer Rechtsnormen auf das Familien-, Erb- und Stiftungsrecht beschränkt. Allerdings zeigt sich seit den 1970er Jahren eine politisierte Instrumentalisierung der S. im öffentlichen Raum, maßgeblich gefördert durch den intoleranten und menschenrechtsfeindlichen Wahhabismus, wie er v. a. in Saudi-Arabien bis heute propagiert und mit erheblichem Ressourceneinsatz weltweit gefördert wird; jüngster Extremfall ist der mit derartigem Vorverständnis begründete Terror des IS (Islamismus). Auch in vielen anderen Staaten wird der öffentliche Raum seit einigen Jahrzehnten wieder von traditionalistischen, oft repressiven Formen der islamischen Normenlehre usurpiert.
Andererseits finden sich weltweit, v. a. aber auch in Europa, Amerika und in Südostasien (dort unter zunehmendem Druck) Muslime, welche die S. als nur noch ethische Richtlinie interpretieren und eine rechtsförmige Durchsetzung ablehnen. Eine große Mehrheit in Deutschland verbindet die Akzeptanz des säkularen Rechtsstaats mit einem auf ethisch-religiöse Fragen beschränkten Verständnis der S. in dessen Rahmen. In traditionellen Kreisen wird darüber hinaus auf Familienrecht Wert gelegt, großenteils im Rahmen des geltenden Rechts, teils aber auch jenseits dessen („Paralleljustiz“). Die islamische Theologie in deutschen Universitäten widmet sich einer rechtsstaatskompatiblen und gemeinschaftsfreundlichen Interpretation, die auch in die islamische Welt ausstrahlen könnte.
Literatur
M. Rohe: Der Islam in Deutschland, 22018 • Ders.: Das islamische Recht, 32011 • W. B. Hallaq: Sharīʿa, 2009 • A. A. An-Naʿim: Islam and the Secular State. Negotiating the Future of Shariʿa, 2008 • M. H. Kamali: Principles of Islamic Jurisprudence, 1999 • M. B. Hooker: Sharīʿa, in: C. E. Bosworth u. a. (Hg.): Encyclopaedia of Islam, Bd. 9, 21997, 321–328 • N. J. Coulson: A History of Islamic Law, 1964.
Empfohlene Zitierweise
M. Rohe: Scharia, Version 14.08.2021, 13:00 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Scharia (abgerufen: 23.11.2024)