Staatsschuldenkrise
Eine S. tritt ein, wenn ein Staat unwillig und unfähig ist, seine Verbindlichkeiten in Form von Zinszahlungen bzw. Tilgung zu bedienen. Die Zahlungsunfähigkeit wird öffentlich erklärt oder die Zahlungen werden faktisch eingestellt. Darüber hinaus kann der Versuch, die Staatsschulden über Inflation abzubauen, zu wirtschaftlicher und politischer Instabilität führen. S.n gehen oft mit Finanz-, Zahlungsbilanz-, Wirtschafts- und politischen Krisen einher. Die Krisen verschärfen sich gegenseitig.
1. Ursachen
S.n geht ein kontinuierlicher Anstieg der Staatsverschuldung voraus, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg die Staatsausgaben höher als die Staatseinnahmen sind. Machterhalt und Krieg sowie zügellose Ausgaben herrschender Eliten waren in der Vergangenheit wichtige Ursachen zu hoher Staatsausgaben (z. B. absolutistisches Frankreich). In vielen demokratischen Industrieländern hat politischer Machterhalt zu einem kontinuierlichen Ausbau der Wohlfahrtsstaaten geführt, die in vielen Fällen nur noch mit Hilfe der Notenbanken finanzierbar sind. Sinkende Staatseinnahmen sind meist auf Krisen zurückzuführen (z. B. Japan seit 1990).
Zu niedrige Zinsen und eine übermäßige Kreditvergabe (Kredit) von Banken können zu Spekulationsblasen führen, die zunächst aufgrund steigender Steuereinnahmen zu höheren Staatsausgaben verleiten. Platzen die Blasen, sind die Ausgabenerhöhungen nur schwer rückgängig zu machen. Zudem ist die Stabilisierung des Finanzsektors kostspielig (z. B. Griechenland, Irland, Island nach 2008). In aufstrebenden Volkswirtschaften gehen S.n oft große Kapitalzuflüsse voraus, die zu Investitionen mit geringen Renditen, Spekulation und öffentlichen Ausgabensteigerungen verführen (z. B. Lateinamerika in den 1970er Jahren, Südostasien vor der Asienkrise 1993–97, Türkei zwischen 2003 und 2017). Mit der Auslandsverschuldung steigt das Währungs- und Fristentransformationsrisiko, weil aufgrund unterentwickelter Finanzmärkte Instrumente zur Absicherung dieser Risiken fehlen.
2. Auslöser
Auslöser der S. ist der Verlust des Vertrauens in den verlässlichen Schuldendienst. Für den Zeitpunkt des Ausbruchs spielen Erwartungen eine große Rolle, die selbst erfüllend sein können. Denn um die Rückzahlung der Außenstände sicherzustellen, müssen diese vor anderen Gläubigern eingefordert werden. Mit einem wachsenden Misstrauen steigen die Zinsen für neu emittierte bzw. zu revolvierende Anleihen, was die Zinslasten für die Staaten erhöht und die Ratings verschlechtert. Eine klare Schwelle der Staatsverschuldung als Anteil am BIP, bei der eine Krise eintritt, gibt es nicht. Diese dürfte jedoch bei Industrieländern höher als bei aufstrebenden Volkswirtschaften liegen.
In aufstrebenden Volkswirtschaften mit hoher Auslandsverschuldung wird die S. häufig durch das Abebben der internationalen Kapitalzuflüsse ausgelöst. Bei hohen Kapitalzuflüssen erodieren Inflation und wachsende Leistungsbilanzdefizite das Vertrauen in das Wachstum und die Tragfähigkeit der Auslandsverschuldung. Regierungen bzw. Banken werden bei Ausbleiben der Kapitalzuflüsse illiquide. Wenn Banken große Mengen an Staatsanleihen halten, ist bei einer S. auch die Finanzmarktstabilität gefährdet. Bei einer starken Abwertung der Währung (Währungskrise) steigen die fremdwährungsdenominierten Verbindlichkeiten gerechnet in Inlandswährung. Der daraus folgende Zusammenbruch von Banken (Finanzkrise) und Unternehmen (Wirtschaftskrise) treibt die Staatsverschuldung nach oben. Die Steuereinnahmen fallen.
In Ländern mit überwiegend im Inland finanzierter Staatsverschuldung kann die Zentralbank durch den Ankauf von Staatsanleihen die S. hinauszögern (z. B. Japan seit 1999). Die Folge ist meist Inflation, die das Wachstum bremst und die Reallöhne senkt (z. B. Venezuela seit 2017). In den mittel- und osteuropäischen Planwirtschaften (Zentralverwaltungswirtschaft), wo nach dem Zweiten Weltkrieg die Inflation durch Preiskontrollen unterdrückt wurde, entwickelte sich die S. schleichend. Die weitgehend bedingungslose Finanzierung von Unternehmen und Banken unabhängig von der Rentabilität nahm die Leistungsanreize, sodass das Wachstum gering oder negativ war. Niedrige Löhne und Mangel in der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen bewirkten politische Unzufriedenheit, Kapitalflucht und Auswanderung. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit und der internationalen Kapitalmobilität wirkten zusätzlich negativ auf die wirtschaftliche Stabilität.
3. Geschichte
In der Geschichte kam es immer wieder zu Finanzierungsengpässen von Souveränen und Staaten. Nach Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff soll es seit dem Jahr 1800 320 S.n gegeben haben. Im 16. Jh. deckte die katholische Kirche unter Papst Leo X. hohe Ausgabendefizite (Petersdom, dekadenter Lebensstil des Klerus, Kreuzzug) mit Ablassbriefen, die das verfügbare Einkommen der Ablasskäufer reduzierten. Martin Luther und andere Reformatoren zogen die Rückzahlung der Ablassbriefe in Form von Sündenerlass im Jenseits in Zweifel und bewirkten so nicht nur Unruhen (Bauernkriege), sondern erzwangen auch drastische Ausgabenkürzungen der Kirche unter Papst Hadrian VI.
Im 18. Jh. hatte das absolutistische Frankreich (Absolutismus) durch Kriege (Siebenjähriger Krieg, amerikanischer Unabhängigkeitskrieg) hohe Schulden akkumuliert. Der prunkvolle Lebensstil des Königs und des Klerus sowie Transferleistungen an den Adel zur Sicherung der Macht des Königs waren teuer. Die Situation eskalierte, als Ludwig XVI. die Zuwendungen für den Adel reduzierte und die Bürger wegen hoher Steuern und Brotpreise (Missernten) aufbegehrten. In der Französischen Revolution 1789 vertiefte die inflationäre Verbriefung von Kirchenbesitz (Assignanten) die wirtschaftliche und politische Krise, was schließlich in die Machtübernahme des Militärs (Napoleon) und in europaweite Kriege mündete.
Zu Beginn des 20. Jh. hatten im Ersten Weltkrieg Deutschland und Österreich-Ungarn durch die Kriegsfinanzierung eine hohe Staatsverschuldung angehäuft. Nach dem verlorenen Krieg erhöhten hohe Reparationsforderungen die Lasten, während die wirtschaftliche Entwicklung schwach blieb. Zur Finanzierung von Reparationen und Wiederaufbau druckten die deutsche Reichsbank und die österreichische Nationalbank im großen Umfang Geld, was in Hyperinflation und einschneidende Wirtschaftskrisen mündete. Die Weimarer Republik war aufgrund der zunehmenden politischen Fragmentierung und Polarisierung schwach.
Das Platzen der japanischen Blasenökonomie (1985–89) führte zu einem Einbruch der Steuereinnahmen und einem Anstieg der Staatsausgaben durch Konjunkturprogramme und wachsende Sozialausgaben. Japans Staatsverschuldung stieg von ca. 6 % als Anteil am BIP (1990) auf 240 % (2018). Die hohe Staatsverschuldung blieb tragbar, weil die Bank von Japan die Leitzinsen auf null senkte und seit 1999 in großem Umfang Staatsanleihen kauft. Nebenwirkungen der makroökonomischen Stabilisierungspolitik sind eine zunehmende Konzentration im Banken- und Unternehmenssektor, ein sinkendes Lohnniveau, wachsende Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie eine zunehmende Konzentration der wirtschaftlichen Aktivität in der Region Tokio. Während die Konsumentenpreisinflation gering blieb, zeigten sich die inflationären Effekte der lockeren Geldpolitik v. a. auf den Vermögensmärkten im In- und Ausland.
Die europäische Finanz- und Schuldenkrise (Finanzmarktkrise) entstand aus Zinssenkungen der EZB in Reaktion auf das Platzen der Dotcom-Blase ab dem Jahr 2001. Da Deutschland in dieser Zeit ein strenges Reformprogramm auf den Weg gebracht hatte, floss viel Kapital zu niedrigen Zinsen in den Süden der EWWU, wo es kreditgetriebene Immobilienblasen und schnell wachsende Staatsausgaben nährte. Das Platzen der Blasen ließ die Staatsverschuldung sprunghaft ansteigen, weil die Steuereinnahmen wegbrachen, hohe Ausgabenverpflichtungen bestehen blieben und die Rettung der Finanzsektoren kostspielig war. Umfangreiche europäische Hilfsprogramme, anhaltend niedrige Zinsen und immense Anleihekäufe der EZB halten seitdem die Krise am Schwelen.
4. Lösungsansätze
Die Strategien zur Bewältigung von S.n sind vielfältig. Ein Schuldenabbau durch Kürzung der Staatsausgaben und der Löhne im öffentlichen Sektor ist nachhaltig, insb. dann, wenn er mit Lohnzurückhaltung im privaten Sektor einhergeht. Die Produktivität und die internationale Wettbewerbsfähigkeit steigen, was das Wirtschaftswachstum belebt und längerfristig wieder reale Lohnerhöhungen ermöglicht. I. d. R. sind solche Reformen politisch schwer durchsetzbar. Die über viele Dekaden schwelenden S.n der mittel- und osteuropäischen Planwirtschaften endeten mit dem wirtschaftlichen Kollaps, der schließlich den Weg für grundlegende marktwirtschaftliche Reformen ebnete.
Ein Schuldenschnitt reduziert die Schuldenlast des Staates, destabilisiert aber die Gläubiger. Eine Währungsreform reduziert den monetären Überhang, der sich bei der Finanzierung der Staatsverschuldung mit der Notenpresse kombiniert mit Preiskontrollen ergibt. Preisliberalisierungen erhöhen die Effizienz (z. B. Wirtschafts- und Währungsreform in Westdeutschland 1948). Um die Staatsfinanzen auf Dauer nachhaltig zu halten, müssen die Staatsausgaben den -einnahmen angepasst werden. In aufstrebenden Volkswirtschaften wird dies oft über IWF-Restrukturierungsprogramme erreicht (z. B. Südostasien nach der Asienkrise). Im Gegenzug für Reformen vergibt der IWF Kredite (Konditionalität), die den Finanzsektor und das Wachstum stabilisieren.
Der Staatsschuldenabbau durch Inflation wirkt politisch destabilisierend, weil Inflation negative Wachstums- und Verteilungswirkungen hat. Die deutsche Hyperinflation der 1920er Jahre vertiefte die Wirtschaftskrise und verarmte die deutsche Mittelschicht, was extreme politische Parteien begünstigte. Schlagen sich die inflationären Effekte der Staatsanleihekäufe der Zentralbank in steil steigenden Vermögenspreisen nieder, dann wird das Wachstum durch Finanzkrisen gestört. Wenn die Zentralbanken auf die Krisen mit Zinssenkungen und Anleihekaufprogrammen reagieren, gewinnen die Besitzer von realen Vermögenswerten. Hingegen geraten die Renditen aus Nominaleinkommen und die Löhne breiter Bevölkerungsschichten in Zuge von Krisen unter Druck. Wachsende Ungleichheit bewirkt politische Unzufriedenheit.
Scheuen die Souveräne großer Länder vor Reformen und Ausgabensenkungen zurück, dann können sie Kriege führen, um die Ausgabenlücke auf Kosten von Drittstaaten zu schließen (siehe Hitler-Deutschland, Napoleon). Die Einschnitte für die Bevölkerung aller in den Krieg verwickelten Länder sind i. d. R. hoch.
Die USA reduzierten nach dem Zweiten Weltkrieg die Schuldenlasten des Krieges durch finanzielle Repression. Die Zentralbank hielt die Zinsen auf Staatsanleihen tief, während eine strenge Regulierung Kapitalabflüsse und Finanzmarktspekulation verhinderte. Das hohe Wachstum der Nachkriegszeit (Wiederaufbau) und moderate Inflation trieben den Schuldenabbau (als Anteil am BIP) voran. Heute bleibt die Staatsverschuldung trotz finanzieller Repression hoch, weil das Wachstum durch die finanzielle Repression weiter gestört wird.
Die USA konnten bisher trotz hoher Staatsausgaben und eines hohen Konsumniveaus eine S. vermeiden. Aufgrund der Rolle des Dollar als internationaler Leitwährung werden die inflationären Effekte einer hohen Staatsverschuldung über alle Länder verteilt, die ihre Währung an den Dollar gebunden haben. Ronald McKinnon spricht von einer quasi-unbegrenzten Kreditlinie für die USA.
Literatur
A. Hoffmann/G. Schnabl: Warum der frühe Ausstieg aus der finanziellen Repression lohnt, in: WD 98/7 (2018), 498–503 • G. Schnabl: Die japanischen Lehren für die europäische Krise, in: ZfW 62/1 (2015), 1–22 • R. McKinnon: The Unloved Dollar Standard. From Bretton Woods to the Rise of China, 2013 • C. Reinhart/K. Rogoff: This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, 2011a • Dies.: Growth in a Time of Debt, in: NBER Working Paper 15639, 2011b • E. S. Brezis/F. H. Crouzet: The Role of Assignats During the French Revolution. An Evil or a Rescuer?, in: JEEH 24/1 (1995), 7–40.
Empfohlene Zitierweise
G. Schnabl: Staatsschuldenkrise, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Staatsschuldenkrise (abgerufen: 23.11.2024)