Steuermoral
I. Wirtschaftswissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Definition und Vorgehensweise
In Anlehnung an häufig vertretene Moralverständnisse wird hier S. als Regelungssystem für Steuerpflichtige definiert, das festlegt, welche ihrer Handlungen als richtig und welche als falsch gelten. So verstanden wirft S. nicht zuletzt die im Folgenden diskutierten Fragen auf: a) Welches S.-Verständnis wird in einer Gesellschaft (hier bezogen auf Deutschland) vertreten? b) Lassen sich für eine Handlungsregel „S.“ Gründe anführen? c) Wie kann eine solche Handlungsregel in einer Gesellschaft umgesetzt werden?
2. Steuermoralverständnis in Deutschland
Empirische Studien stellen heraus, dass in Deutschland mit großer Mehrheit Steuerhinterziehung (Steuerstrafrecht) als unmoralisch abgelehnt und nicht nur als Kavaliersdelikt wahrgenommen wird. Karsten Witt vertritt die These, der Common Sense verstehe auch aggressive Steuergestaltung, also das gezielte Ausnutzen gesetzlicher Regelungslücken insb. im grenzüberschreitenden Kontext, als unmoralisch. In den Wirtschaftswissenschaften wird jedoch teilweise die These vertreten, aggressive Steuergestaltung sei nicht nur legal, sondern legitim. Vereinzelt wird sogar vorgetragen, Steuerhinterziehung sei zwar nicht legal, aber auch nicht unmoralisch.
3. Begründung einer Handlungsregel „Steuermoral“
Für eine Pflicht zur Steuerzahlung spricht, dass diese als Teil eines (fiktiven) Gesellschaftsvertrages verstanden werden kann, in dem die Gesellschaftsmitglieder vereinbart haben, öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen und diese durch Steuern zu finanzieren. So interpretiert ist die Verpflichtung zur Steuerzahlung eine Verpflichtung der Gesellschaftsmitglieder untereinander und eine Konkretisierung der Handlungsregel pacta sunt servanda. Gleichzeitig besteht eine Anfälligkeit zur Steuerhinterziehung oder aggressiven Steuergestaltung, weil Steuerpflichtige öffentliche Güter unabhängig von ihrer eigenen Steuerzahlung als Trittbrettfahrer nutzen können. Wenn in größerem Umfang Gesellschaftsmitglieder ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, hat dies Auswirkungen auf das Steueraufkommen und damit auf das Angebot öffentlicher Güter. Dem soll § 370 AO entgegenwirken, der Steuerhinterziehung als Straftat sanktioniert. Allerdings sind gesetzliche Regelungen immer unvollständig. Außerdem wird unter Unsicherheit und ungleich verteiltem Wissen nicht jede Steuerhinterziehung aufgedeckt. Für eine Handlungsregel „Steuerhinterziehung ist unmoralisch“ spricht, dass sie Steuerhinterziehung verringert, wenn moralisch handelnde Personen vor dem damit verbundenen Unrechtsurteil und nicht moralisch handelnde Personen vor möglichen Reputationsverlusten zurückschrecken. S. auch auf die moralische Ablehnung aggressiver Steuergestaltung zu beziehen, lässt sich damit stützen, dass nach dem u. a. im deutschen Steuerrecht enthaltenen Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung Gleiches gleich und Ungleiches ungleich besteuert werden soll. Steuerrechtsordnungen, die dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung folgen, also den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz auf das Steuerrecht anwenden, müssten aggressive Steuergestaltung verhindern. Weil jedoch aggressive Steuergestaltung durch gesetzliche Handlungsregeln allein nicht vermieden werden kann, spricht dies für eine außergesetzliche Handlungsregel „aggressive Steuergestaltung ist unmoralisch“.
4. Realisierbarkeit einer Handlungsregel „Steuermoral“
Hält man eine Handlungsregel „S.“ für begründet, stellt sich die Frage, wie erreicht werden kann, dass Individuen und Unternehmen steuermoralisch handeln. Nach hier zugrunde gelegter Handlungshypothese haben Individuen beschränktes Wissen. Sie handeln subjektiv rational, d. h. sie versuchen, aus ihrer Sicht sinnvolle Ziele mit aus ihrer Sicht sinnvollen Mitteln zu erreichen. Welche Ziele und Mittel Individuen als begründet ansehen, wird durch gesellschaftlich vermittelte Erfahrungen beeinflusst. Anders als die Hypothese, dass Individuen die unmoralische Steuernichtzahlung allein von dem zu erzielenden Vorteil hieraus und der zu erwartenden Sanktion abhängig machen, kann diese Handlungshypothese die Resultate empirischer Studien erklären, denen zufolge soziale Normen, Moral oder Fairness das Handeln von Individuen im Hinblick auf Steuern beeinflussen. Die S.-Forschung stellt heraus, dass dieses Handeln auch dadurch beeinflusst wird, ob Steuerpflichtige das Steuersystem als gerecht wahrnehmen oder ob sie den Eindruck einer sinnvollen Verwendung von Steuergeldern haben. Steuermoralisches Handeln könnte demzufolge durch entspr.es gesetzgeberisches und exekutives Handeln (z. B. durch ein als fair wahrgenommenes Steuerrecht) realisiert werden. Allerdings reichen diese Maßnahmen nicht aus, wenn man bedenkt, dass teilweise auch Angehörige von Berufsgruppen mit hoher gesellschaftlicher Akzeptanz (z. B. Steuerberater, Wirtschaftsprüfer) zu Steuervermeidung beitragen. Gesichert wird diese gesellschaftliche Akzeptanz durch finanzielle Macht, Kooperationen mit mächtigen Personen und Legitimation durch Berufsethik.
Im Hinblick auf das Handeln von Unternehmen legt dieser Beitrag die Hypothese zugrunde, dass Manager die Interessen ressourcenmächtiger Stakeholder berücksichtigen, die Ressourcen (Reputation, physische Ressourcen etc.) besitzen, die das betrachtete Unternehmen benötigt und gegenüber dem sich das betrachtete Unternehmen als ressourcenabhängig wahrnimmt. Ob Unternehmen steuermoralisch oder steuerunmoralisch handeln, hängt davon ab, was ressourcenmächtige Stakeholder fordern.
S. lässt sich also nur etablieren oder aufrechterhalten, wenn sie durch Institutionen abgesichert wird, die (auch) solche Mechanismen der Macht berücksichtigen und versuchen, asymmetrischer Machtverteilung entgegenzuwirken.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
U. Schmiel: Steuermoral, I. Wirtschaftswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Steuermoral (abgerufen: 25.11.2024)
II. Sozialethisch
Abschnitt druckenS. verlangt ein verantwortliches Setzen und Durchsetzen von Steuerrecht und eine Rechtstreue des Steuerpflichtigen gegenüber dem Steuergesetz, enthält aber auch einen bes.n Appell persönlicher Verantwortlichkeit gegenüber dem Steuerstaat. Dieser außerrechtliche Impuls ist notwendig, weil das Steuerrecht nicht – wie üblicherweise eine Norm – auf die Normalität der Lebensgestaltung trifft, sondern den bewusst organisierten, um Steuervermeidung bemühten Grenzfall zu bewältigen hat. Die Steuerbürger wehren sich nicht mehr gegen eine übermäßige oder ungleichmäßige Steuerlast durch den Gesetzgeber, sondern suchen sich durch geschickte Präsentation des steuererheblichen Sachverhalts im Reichtum als arm darzustellen, dadurch Steuern zu vermeiden und so eine individuell akzeptable Steuerlast zu erreichen.
Die S. fordert vom Steuergesetzgeber eine disziplinierte Bemessung des Besteuerungsbedarfs, die Entwicklung einsichtiger, vernünftiger Belastungsgründe für die einzelnen Steuern (auf das Einkommen [ Einkommensteuer ], die umgesetzte Kaufkraft [ Umsatzsteuer ], die empfangene Erbschaft [ Erbschaftsteuer ]), eine maßvolle und gleichmäßige Steuerlast, die folgerichtige Verwirklichung des so begründeten Leitgedankens einer Steuer in Steuergegenstand und Bemessungsgrundlage, Steuerschuldner und Steuerträger. Die S. streitet für einen Steuerstaat, der seine Aufgaben freiheitsbewusst definiert, die ihm anvertrauten Steuergelder ordnungsgemäß und sparsam verwaltet. Einfachheit, Verständlichkeit und Planbarkeit der Steuergesetze schaffen ein allg.es Rechtsbewusstsein und stärken die S.
Genügt der Steuerstaat diesen Anforderungen der Verfassungsgemäßheit und Mindestmoral, wird die S. für den Steuerpflichtigen zu einem kategorischen Imperativ. Selbstverständlich darf jeder Steuerpflichtige seinen Sachverhalt mit Blick auf das Steuergesetz so darstellen, dass er möglichst wenig Steuern schuldet. Doch wenn er in der rechtlichen Gestaltung eines steuerbegründenden Sachverhalts sein Einkommen, seinen Umsatz, seine Erbschaft so unkenntlich macht, dass seine Leistungsfähigkeit geringer erscheint als tatsächlich erreicht, wendet sich die S. gegen die formale Gestaltung und Bemäntelung des Sachverhalts, auch wenn der Text des Gesetzes an Schwächen, das System an Widersprüchen leidet.
Die Gestaltungsmöglichkeiten sind vielfältig. Für die Steuerlast ist erheblich, ob ein Wirtschaftsgut für den Beruf oder für das Privatleben eingesetzt wird, ob eine betriebliche Anschaffung eigen- oder fremdfinanziert ist, ob Steuersubjekt der Mensch, eine Personengesellschaft oder eine Kapitalgesellschaft ist. Die Bewertung von Wirtschaftsgütern muss in ihrer Höhe und in ihrem Abnutzungswert dargestellt und geschätzt werden. Steuererhebliche Entscheidungen kann der Steuerpflichtige auch treffen, wenn er den Leistungsaustausch zwischen Unternehmen und seinen Gesellschaftern, Art und Umfang des dem Unternehmen gewidmeten Vermögens, Ausschüttung und Thesaurierung von Gewinnen regelt. Oft wird der Steuerpflichtige die Steuerlast in die Zukunft verschieben wollen. Lenkungssteuern bieten bewusst Steuervorteile bei staatlich erwünschtem Wohlverhalten. Geläufig sind Formalakte, die wirtschaftliche Erfolge in ein Niedrigsteuerland verlagern. Auch demokratische Rechtsstaaten – innerhalb und außerhalb der EU – laden durch Steueranreize zu derartigen Gestaltungen ein.
Der Steuergesetzgeber versucht, gleichheitswidrigen Gestaltungen durch detaillierte Gegenregeln zu begegnen, lädt damit aber zu neuen Gestaltungen ein. Das auf Transparenz und Debatte angelegte Gesetzgebungsverfahren ist langsamer als die kurzfristig mögliche Vertragsgestaltung. Zudem haben die Vertragsgestalter Einfluss auf den Gesetzgeber.
Die „Steueroptimierung“ verfremdet Recht, sucht Steuerungleichheit als „Einzelfallgerechtigkeit“ darzustellen, macht so Erforderlichkeit und Inhalt einer dem Steuerwesen gewidmeten Moral ersichtlich. Vernunft wird in der Gemeinschaft der Menschen ausgeübt. Einsicht weckt Verständnis für den Finanzbedarf des Staates. Selbstreflexion stärkt die Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten und seine Wirkungen auf Gerechtigkeit und Reputation. Früher bekundete der Steuerpflichtige, seine Erklärung „nach bestem Wissen und Gewissen“ abgegeben zu haben.
S. trägt Sachlichkeit und eine Kultur des Maßes in die Steuerpolitik, gibt Finanzbeamten und Steuerberatern den Gleichheitsmaßstab einer unausweichlichen Steuer, prägt das allg.e Rechtsbewusstsein und den Bürgerstolz, die Ehrbarkeit im Steuerwesen.
Literatur
M. Droege/C. Seiler (Hg.): Eigenständigkeit des Steuerrechts, 2019 • O. Höffe: Steuer-Moral?, in: ebd., 1–18 • P. Kirchhof: Das Verfassungsrecht – Auftrag und Grenze staatlicher Besteuerungsgewalt, in: ebd., 79–94 • S. Mühlbacher/M. Zieser: Die Psychologie des Steuerzahlens, 2018 • D. Birk: Steuermoral, Steuerkultur und Rückwirkung von Steuergesetzen, in: R. Mellinghoff/W. Schön/H.-U. Viskorf (Hg.): Steuerrecht im Rechtsstaat, 2011, 13–28 • K. Tipke: Besteuerungsmoral und Steuermoral, 2000, 7–107 • D. Schmidtchen: Vom nichtmarginalen Charakter der Steuermoral, in: C. Smekal/E. Theurl (Hg.): Stand und Entwicklung der Finanzpsychologie, 1994, 185–211 • G. Schmölders: Das Irrationale in der öffentlichen Finanzwirtschaft, 1960.
Empfohlene Zitierweise
P. Kirchhof: Steuermoral, II. Sozialethisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Steuermoral (abgerufen: 25.11.2024)