Theologie der Befreiung

Version vom 14. November 2022, 06:00 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Theologie der Befreiung)
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1. Aufbrüche: Begriff und Geschichte

Das Jahr 1968 steht in Lateinamerika (Lateinamerika und Karibik) für einen Neuaufbruch in Kirche und Theologie: für die Entstehung eines neuen ortskirchlichen Bewusstseins, das in dem Abschlussdokument der 2. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín seinen Ausdruck findet, und für die Ausbildung einer Gestalt kontextueller Theologie in Lateinamerika, die in einem Vortrag des peruanischen katholischen Theologen Gustavo Gutiérrez in Chimbote als „Theologie der Befreiung“ (Silva 2009: 38 f.) bezeichnet wird. Das Documento Medellín war die erste ortskirchliche Übersetzung des Kirche-Welt-Verhältnisses der Pastoralkonstitution GS des Zweiten Vatikanischen Konzils und Gründungsdokument für eine Kirche an der Seite der Armen; es steht im Dienst ihrer Subjektwerdung und einer Theologie, deren Ausgangspunkt „die Realität (Gesellschaftsanalyse)“ ist, „um diese dann im Licht des Glaubens zu betrachten (hermeneutische Analyse) und daraus Schlüsse für die Praxis zu ziehen (Vermittlung in die Praxis hinein; Clodovis Boff)“ (Codina 2017: 18). Vom Primat der Praxis und der geschichtlichen Realisierung des Reiches Gottes „von der Rückseite der Geschichte“ (Gutiérrez 1977) ausgehend, im Dienst der „Befreiung“ der Armen, erarbeiteten die Befreiungstheologen der ersten und zweiten Generation (G. Gutiérrez, Hugo Assmann, Enrique Domingo Dussel, Juan Luis Segundo, Frei Betto, Pablo Richard, João Batista Libânio, José Comblin, Ignacio Ellacuría, Jon Sobrino) einen neuen Zugang zum Heilsereignis in Jesus Christus, das diesen – in der Folge des Exodusgeschehens im AT und der Gerechtigkeit einfordernden Prophetentexte – als „Befreier“ sieht und in dessen Nachfolge Menschen als „Auferstandene“ in der Geschichte leben können (Sobrino 2008: 39). Die T. d. B. wurde in den 1960er und 1970er Jahren zunächst von Priestern entwickelt, die an progressiven europäischen theologischen Fakultäten oder Universitäten eine neue theologische Methodik auf dem Hintergrund des in der katholischen Arbeiterjugend praktizierten Dreischritts von Sehen – Urteilen – Handeln erarbeiteten. Sie war verbunden mit dem Aufbruch einer Philosophie der Befreiung (Raúl Fornet-Betancourt und E. D. Dussel) und einer Pädagogik der Befreiung (Paulo Freire). Den verschiedenen kirchlichen, sozialen, politischen und kulturellen Kontexten entsprechend, entwickelte sich die T. d. B. in einer pluralen Weise; neben einer Theologie, die auf sozialwissenschaftliche Vermittlungen zurückgreift (Clodovis Boff, H. Assmann, Fernando Castillo), entstand im argentinischen Kontext (Lucio Gera, Rafael Adolfo Tello, Juan Carlos Scannone, Jorge Seibold) eine auf kulturphilosophische Vermittlungen zurückgreifende und in Praktiken der Volksreligiosität eingebettete T. d. B. und in Brasilien, Chile und Peru eine der Praxis der Basisgemeinden verbundene T. d. B. (Leonardo Boff, Rolando Muñoz, G. Gutiérrez). Die T. d. B. steht auch für eine Befreiung der Theologie als eines prioritär universitären und akademischen wissenschaftlichen Vollzugs. Sie wertet „Volkstheologien“ („teología popular“) (Scannone 1986: 416–420) auf, die an pastoralen Bildungszentren entwickelt werden, und trägt zur theologischen Qualifizierung von Laien bei. T. d. B. (spanisch: „teología de la liberación“) ist darum ein Sammelbegriff für eine zunächst in Lateinamerika entstehende kontextuelle Theologie, die von Anfang an ökumenisch ausgerichtet ist und deren Fokus die „Option für die Armen“ ist, als „hermeneutischer Ort, das ‚Wovonher‘, das die Profilierung eines neuen, befreienden Christusbildes ermöglicht“ (Lois 1995: 216), sowie die Verankerung in der „Kirche der Armen“, einer Kirche, die sich als „Sakrament der Befreiung in der Geschichte“ (Sobrino 1998: 51–54) versteht, in steter Umkehr zu den Armen begriffen. 1976 wurde die Ecumenical Association of Third World Theologians (EATWOT) gegründet; die Methodik der in Lateinamerika entstandenen T. d. B. ist weltweit aufgegriffen worden und hat – wie in Südafrika, Korea, auf den Philippinen – zu einer spezifisch afrikanischen oder asiatischen T. d. B. geführt.

2. Abbrüche: Lehramtliche Kritik und innerkirchliche Debatten

Bereits in den 1970er Jahren kam es zu innerkirchlichen Debatten um die T. d. B., die sich in Lateinamerika um den Erzbischof von Medellín, Alfonso López Trujillo, formierten (von 1979 bis 1983 Vorsitzender des CELAM). Sie führten durch dessen enge Kooperation mit der deutschen Ortskirche zur Gründung des Studienkreises „Kirche und Befreiung“. 1984 richtete Joseph Kardinal Ratzinger eine kritische Anfrage an L. Boffs Studie „Kirche: Charisma und Macht“ und veröffentlichte die Instruktion „Libertatis nuntius. Über einige Aspekte der Theologie der Befreiung“. Der T. d. B. wird darin eine „radikale Politisierung der Glaubensaussagen und der theologischen Urteile“ vorgeworfen, was dazu führe, durch Orientierung an der marxistischen Gesellschaftsanalyse christliches Heil zu immanentisieren und das „Reich Gottes und sein Werden mit der menschlichen Befreiungsbewegung zu identifizieren“ (Ratzinger 1984: 23). Die Internationale Theologische Kommission veröffentlichte das Dokument „Menschliches Wohl und christliches Heil“, und angesichts einer auf hohem Niveau geführten theologischen Auseinandersetzung würdigte die 1986 veröffentlichte Instruktion „Libertatis conscientia. Über die christliche Freiheit und die Befreiung“ die theologischen Anliegen der T. d. B. und baute eine Brücke zwischen katholischer Soziallehre und T. d. B. Die lateinamerikanische Kirche blieb gespalten, befreiungstheologisch orientierte Zentren wurden geschlossen, die T. d. B. hatte keinen Ort an theologischen Fakultäten und so keinen Einfluss in der Priesterausbildung. Der Konflikt erreichte 2007 mit der Notifikation der Glaubenskongregation zur Christologie von J. Sobrino einen weiteren Höhepunkt. Übersehen wurde aus westlicher und lehramtlicher Perspektive die Einbettung der Befreiungstheologie in spirituelle und soziale Vollzüge einer Christusnachfolge in Situationen extremer Gewalt und einer Kirche der Märtyrer, die mit dem Zeugnis von Erzbischof Oscar Arnulfo Romero (San Salvador), Bischof Juan José Gerardi Conedera (Verapaz/Guatemala) oder des Jesuiten Ignacio Ellacuría (und vieler anderer Märtyrerinnen und Märtyrer) im Dienst eines gewaltfreien Widerstands stand und die T. d. B. zu einer kontextuellen Friedenstheologie weiter ausgestaltet hat.

3. Umbrüche: Weiterentwicklungen in Lateinamerika und in globaler Perspektive

Die nach 1989 diskutierte Frage, ob die T. d. B. nicht von der politischen Entwicklung eingeholt sei, hat sich rasch als „westliche“ Frage herausgestellt. Zwar wurde mit dem Konflikt um die T. d. B. eine Verortung dieser Theologie im akademischen universitären Kontext ausgebremst, aber die T. d. B. verband sich seit den 1990er Jahren mit neuen sozialen Bewegungen, der indigenen und postkolonialen Bewegung (Postkolonialismus) auf der einen und der feministischen Bewegung (Feminismus) auf der anderen Seite. Das führte zu einer Weiterentwicklung der Methodik durch Rezeption von Kulturtheorien, Ethnologie, Geschichtswissenschaften und Gendertheorien (Gender). Der Praxis-Primat und die Option für die Armen bleiben verbindende Momente dieser sich plural ausfächernden und auch die geographischen Grenzen Lateinamerikas weit überschreitenden Theologie. Bereits im Vorfeld der 3. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Santo Domingo (1992) wurde seitens der indigenen Kulturen und der Afro-Lateinamerikaner die Rezeption der (nordatlantischen) Sozialwissenschaften in der T. d. B. kritisch angefragt und in postkolonialer Perspektive die Erinnerung an die 500-jährige Präsenz des Christentums in Lateinamerika mit einem kritischen Blick auf die Geschichte und die soziale, politische, kulturelle und religiöse Exklusion der indigenen und afroamerikanischen Völker verbunden. Über die Rezeption der Kosmovisionen und Spiritualitäten der eingeborenen Völker und der Nachfahren der Sklaven bilden sich indigene und afroamerikanische Theologien aus, die an das Grundanliegen der T. d. B., den Primat der Praxis und der Option für die Armen, anknüpfen und der T. d. B. neue Themenfelder erschließen: Schöpfungsspiritualität, Nachhaltigkeit, Ökologie und interreligiöse Perspektiven.

Seit den 1980er Jahren melden sich Stimmen von Frauen, die – orientiert an nordatlantischen feministischen Diskursen – den Patriarchalismus der Befreiungstheologie anfragen und den Protagonismus von Frauen in Kirche und Gesellschaft einfordern (Elsa Támez, Costa Rica; María Pilar Aquino, Mexiko/USA). Die brasilianische feministische Befreiungstheologin Ivone Gebara versteht die „Option für die Armen als Option für die arme Frau“ (Gebara 2002: 31) als Bewusstseinsbildungs- und Befreiungsprozess der Frauen. In den Blick kommt die Gewalt gegen den Körper der Frau und damit verbunden gegenüber der Erde; feministische Befreiungstheologie verbindet sich mit ökofeministischen und indigenen Ansätzen.

4. Herausforderungen und Perspektiven

In einer globalisierten Welt (Globalisierung) vertreten Befreiungstheologien heute weltweit in ökumenischer, interkultureller und interreligiöser Ausrichtung die Perspektive der Armen und eingeborenen Völker im Dienst von Gerechtigkeit, Frieden, der Würde des Menschen und der Rechte der ganzen Schöpfung (Schöpfungsverantwortung). Sie sind sozialen Bewegungen wie der Landlosenbewegung und Kampagnen zur Redemokratisierung verbunden und setzen sich für partizipative kirchliche Strukturen (Partizipation) ein. Mit dem Pontifikat von Papst Franziskus werden die Grundlagen für eine neue – die Stimmen des Südens und der T. d. B. – einbeziehende Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils gelegt. Eine jüngere Generation befreiungstheologisch ausgerichteter Theologinnen und Theologen wird der T. d. B. im akademischen universitären Kontext neue Orte erschließen können und über die Anbindung an soziale Bewegungen in einem säkularisierten, religiös pluralen und von fundamentalistischen (Fundamentalismus) Stimmen geprägten Weltkontext im Dienst von Frieden, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit stehen.