Diktatur des Proletariats
Der Begriff der D.d.P. wurde von Karl Marx und Friedrich Engels geprägt, doch eine entsprechende „Lehre“ begründeten sie nicht. Dies blieb den osteuropäischen Legitimationswissenschaften vorbehalten, die – mehr auf Wladimir Iljitsch Lenin fußend – eine solche „Lehre“ als „Kernstück der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie“ (o. V. 1983: 237) definierten. Die von der UdSSR geführten Staaten des Ostblocks beriefen sich fast bis zuletzt auf diese Legitimationsressource; sie kennzeichneten sich selbst als Formen der D.d.P. Die Hinweise im Werk von K. Marx und F. Engels blieben hingegen disparat, widersprüchlich und damit ausdeutbar. Die ersten Äußerungen der „Klassiker“ finden sich im zeitlichen Kontext der fehlgeschlagenen französischen Revolutionen von 1848 und 1871 sowie noch einmal explizit (durch F. Engels) Anfang der 1890er Jahre. Bereits 1852 rechnete es sich K. Marx als Verdienst an, den Nachweis geführt zu haben, dass der „Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats“ führe und diese selbst nur „Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft“ sei (MEW 28: 508). 1875 äußerte sich K. Marx noch einmal präziser: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ (MEW 19: 28). K. Marx und F. Engels zufolge stellte sich dem scheinbar stetig wachsenden Proletariat die historische Aufgabe, sich nach erfolgreicher Machteroberung als herrschende Klasse zu etablieren, um die im Kapitalismus entstandene Entfremdung zu überwinden und letztlich alle Klassenherrschaft samt dem Staat, soweit er Unterdrückungsinstrument ist, abzuschaffen. Eine solche D.d.P. sei im Gegensatz zur verhüllten D. der Bourgeoisie die voll entfaltete, wahre Demokratie.
K. Marx und F. Engels scheinen den Begriff der D.d.P. kein einziges Mal dazu verwendet zu haben, um eine „bestimmte institutionelle Form der Regierungsgewalt zu beschreiben“; ihnen ging es vielmehr um eine Kennzeichnung des „Inhalts der Herrschaft einer Gruppe oder Klasse“ (Hobsbawm 2011: 72). Dessen ungeachtet machte es die gestellte Aufgabe, die proletarische Staatsmacht gegen die abzulösende Klasse der Bourgeoisie zu behaupten, „gleichwohl wahrscheinlich, dass eine solche Herrschaft dazu neigen würde, offen diktatorisch aufzutreten“ (Hobsbawm 2011: 72). Für diese Annahme sprachen bereits Äußerungen im „Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848), wonach das Proletariat seine „politische Herrschaft“ dazu benutzen werde, der „Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen“ und alle „Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren“. Dies sollte „gewaltsam“ und „vermittels despotischer Eingriffe“ geschehen (MEW 4: 481 f.). Da die von K. Marx und F. Engels beschriebenen Aufgaben (u. a. Verstaatlichung der Unternehmen, Erarbeitung eines „gemeinschaftlichen Plans“, staatliche Kreditinstitute) die Staatstätigkeit noch wesentlich vermehren statt reduzieren mussten, erschien ein „Absterben“ des Staates (MEW 19: 224) selbst nur als utopische Verheißung (Utopie). Überdies blieb unklar, ob das Proletariat als Ganzes oder einzelne Gruppen und Parteien die Staatsgeschäfte leiten, die Wirtschaft kontrollieren und die Klassengegner niederhalten sollten. Während das eine Mal wohl den Kommunisten (Kommunismus) aufgrund von deren „Einsicht“ in den Gang der Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie) eine solche Vorhutrolle zugedacht schien (MEW 4: 474), war ein anderes Mal von der Klasse als ganzer die Rede (MEW 18: 529).
Der Weg zur D.d.P. gestaltete sich freilich ebenso widersprüchlich wie deren politische Institutionen. In Abhängigkeit von den zeitlichen Umständen und den staatlichen Gegebenheiten rechneten K. Marx und F. Engels mit revolutionär-gewaltsamen (Revolution) oder parlamentarisch-demokratischen Abläufen. Im Gegensatz zu K. Marx, der – im Anschluss an Jean-Jacques Rousseaus direktdemokratische Überlegungen – 1871 die Räte-Herrschaft der Pariser Kommune als Beispiel für die staatliche Gestaltung der D.d.P. betrachtete, definierte F. Engels in seinem Spätwerk die „demokratische Republik“ sogar als „spezifische Form“ der D.d.P. (MEW 22: 235). Auch wenn F. Engels in dieser Phase seines Schaffens auf das allgemeine Wahlrecht als das „Werkzeug der Befreiung“ (MEW 22: 519) verwies und somit für den parlamentarischen Weg optierte, war dies letztlich kein (eindeutiges) Votum für ein Staatswesen nach dem Gewaltenteilungs- und Rechtsstaatsprinzip (Gewaltenteilung, Rechtsstaat). Minderheitenrechte (Minderheiten) blieben auch hier ungeklärt. Dennoch ließen sich F. Engels Äußerungen – einschließlich seiner deutlichen Forderungen nach Presse- und Meinungsfreiheit innerhalb der Sozialdemokratie – in der späteren Auseinandersetzung mit den Bolschewiki von Seiten der SPD-Führung und deren führenden Theoretikern (Karl Kautsky, Rudolf Hilferding) legitimatorisch verwenden; dies traf auch auf Rosa Luxemburgs Parlamentarismuskritik zu.
Während K. Kautsky und R. Hilferding am Begriff der D.d.P. festhielten und ihn im Anschluss an den späten F. Engels jedoch eindeutig parlamentarisch-demokratisch deuteten (Eduard Bernstein verzichtete aufgrund seiner revisionistischen Bestrebungen folgerichtig ganz auf diesen Begriff), ging der russische sozialdemokratische Parteiführer W. I. Lenin einen anderen Weg. Vor dem Hintergrund der besonderen russisch-autokratischen Verhältnisse und seines eigenen Machtkalküls entfaltete er seit ca. 1900 eine spezifische Machtergreifungsstrategie, die im Wesentlichen auf der Partei als Machtinstrument beruhte. Entscheidend dafür war die Durchsetzung des „demokratischen Zentralismus“ als Organisationsprinzip: Mehr zentralistisch als demokratisch geprägt (sogar gewählte Kandidaten bedurften noch der Bestätigung durch die übergeordneten Parteiinstanzen), entwickelte sich der von W. I. Lenin und seinen Anhängern geführte Flügel der russischen Sozialdemokratie (Bolschewiki) zur streng hierarchisch und zentralistisch geführten Avantgarde-Organisation. Ihr angestrebtes Etappen-Ziel war die – auch seit 1903 im Parteiprogramm fixierte – D.d.P., die bes. von W. I. Lenin verabsolutiert und vornehmlich repressiv gedeutet wurde – nämlich als einer „mit niemand geteilten und sich unmittelbar auf die Gewalt der Massen stützenden Macht“ (LW 25: 416).
Im Zuge der Oktoberrevolution von 1917 begann der Führer der Bolschewiki (der späteren KPdSU) das Organisationsprinzip des „demokratischen Zentralismus“ auf den Staat zu übertragen. Die nun entstehende D.d.P. stützte sich bereits seit 1918 vornehmlich auf die KPdSU als neuer und bald schon alleiniger Staatspartei sowie auf den von der Partei beherrschten Staatsapparat, als deren neuer Spitze der „Rat der Volkskommissare“ entstand, der wiederum eng mit der Parteispitze verwoben war. Die Bedeutung der bereits in der Revolution von 1905 existierenden Arbeiter- und Bauern-Räte (Sowjets) ging infolgedessen rapide zurück; gleichwohl ließ W. I. Lenin diese – im Anschluss an K. Marx’ Räte-Überlegungen – idealisierte Institution sogar als höchstes Machtorgan verfassungsrechtlich legitimieren. Die vom gesamten Volk gewählte Konstituante war dagegen schon Anfang 1918 von Sicherheitskräften der Bolschewiki auf W. I. Lenins Weisung hin aufgelöst worden, da dessen Partei dort keine Mehrheit erhalten hatte. Zu tatsächlichen – und von der Staatspartei abhängigen – Machtorganen avancierten stattdessen die Rote Armee, die berüchtigten Sonderkommissionen (Tscheka) und die Revolutionstribunale, die den „Roten Terror“ sowohl gegen die Gegner im Bürgerkrieg als auch bei der Umwälzung der Gesellschaft einsetzten. W. I. Lenin selbst brachte diese Entwicklung bereits Ende 1918 mit der Definition der D.d.P. als eine „sich unmittelbar auf Gewalt stützende […] an keine Gesetze gebunden[e] Macht“ hinreichend deutlich zum Ausdruck (LW: Bd. 28, 234).
Gegen die Selbstlegitimierung dieses neuen Staates als Form der D.d.P. (so in der Verfassung vom 10.7.1918) erhob als einer der ersten anerkannten marxistischen Theoretiker K. Kautsky massive Kritik. Noch 1918 wies er öffentlich nach, dass es sich bei diesem neu geschaffenen Staat um eine Parteidiktatur, nicht aber um eine Klassendiktatur handelte, die aufgrund der agrarischen Struktur des Landes überdies nur eine proletarische Minderheit der Gesellschaft repräsentiere. Da die D.d.P. im Marx’schen Sinne die Entfaltung des Proletariats als zahlenmäßig größte soziale Gruppe sowie eine Großindustrie voraussetze, müsse ein derartiges Überspringen von Epochen – gepaart mit einer Liquidierung des Parlamentarismus und einem Wahlrechtsentzug für maßgebliche Teile der Bevölkerung bei den Sowjetwahlen – in einer Katastrophe münden. K. Kautsky, der die D.d.P. selbst als einen „Zustand“ und nicht als Regierungsform interpretierte, wollte nunmehr auch den „Schutz der Minoritäten“ gesichert wissen. Mit dieser Deutung versuchte er nun seinerseits, die D.d.P. mit der „modernen Demokratie“ in Einklang zu bringen (Kautsky 1918: 15, 21). Damit aber marginalisierte er die ursprünglich tendenziell repressive Seite der D.d.P. Die Kritik R. Luxemburgs an der sowjetischen Form der D.d.P. bezog sich wiederum allein auf deren parteidiktatorische Ausformung durch die Bolschewiki, nicht aber auf deren grundsätzliche Etablierung.
In der Folge gelang es W. I. Lenin und Josef Stalin, ihr Parteimodell und ihre spezifische Form der D.d.P., d. h. deren „demokratisch-zentralistische“ Organisation sowie die Stellung der Partei als „grundlegende führende Kraft im System der Diktatur des Proletariats“ (Stalin 1951: 150), anderen linkssozialistischen bzw. kommunistischen Parteien gegenüber als verbindlich durchzusetzen. Dies wurde maßgeblich mit Hilfe der in Moskau gegründeten „Kommunistischen Internationale“ (1919) und der 1920 formulierten 21 Aufnahmebedingungen bewerkstelligt. Anderweitige Vorstellungen (so von R. Luxemburg, Max Adler, Karl Korsch, Otto Bauer oder Antonio Gramsci) blieben dadurch (jahrzehntelang) eher randständig. Aufgrund des Fraktionsverbotes innerhalb der KPdSU (ab 1921) und des frühen Todes W. I. Lenins (1924) erhielt J. Stalin letztlich gar die Möglichkeit, die von der Parteiführung realisierte Parteidiktatur in eine persönliche Diktatur mit despotischen Zügen zu verwandeln. Die nutzte er dazu, im Land die zweite (nunmehr industrielle) Revolution voranzutreiben, Terrorwellen selbst gegen den eigenen Parteikörper zu initiieren und die UdSSR im Gefolge des Zweiten Weltkrieges als Weltmacht zu etablieren. Die von der UdSSR in Ostmitteleuropa formierten Satellitenregime etablierten und legitimierten sich zuerst als „Volksdemokratien“, später dann als leninistisch geprägte Formen der D.d.P. Erst im Zuge der Entstalinisierung konnten sich revisionistische Tendenzen innerhalb des kommunistischen Lagers artikulieren – so z. B. mit der Entfaltung des „Eurokommunismus“ in den großen kommunistischen Parteien Westeuropas in den 1970er Jahren, die seitdem auf die leninistische Zielvorstellung einer D.d.P. verzichteten. In den späten 1980er Jahren blieben nur wenige Ostblock-Staaten (wie die DDR) dem leninistischen Prinzip der D.d.P. verhaftet; selbst in der UdSSR begann unter Michail Gorbatschow das hier zugrunde liegende Organisationsprinzip des „demokratischen Zentralismus“ zu erodieren.
Literatur
E. Hobsbawm: Wie man die Welt verändert. Über Marx und Marxismus, 2012 • S. Salzborn (Hg.): „… ins Museum der Altertümer“. Staatstheorie und Staatskritik bei Friedrich Engels, 2012 • B. Häupel: Karl Kautsky – Seine Auffassungen zur politischen Demokratie, 1993 • J. Ehrenberg: The Dictatorship of the Proletariat. Marxism’s Theory of socialist Democracy, 1992 • U. Schöler: „Despotischer Sozialismus“ oder „Staatssklaverei“? Die theoretische Verarbeitung der sowjetrussischen Entwicklung in der Sozialdemokratie Deutschlands und Österreichs (1919 bis 1929), 1991 • U. J. Heuer: Marxismus und Demokratie, 1989 • H. Draper: The „Dictatorship of the Proletariat“ from Marx to Lenin, 1987 • O. V.: Wörterbuch der Geschichte, Bd. 1, 1983 • A. Gurland: Marxismus und Diktatur, 1981 • J. Stalin: Fragen des Leninismus, 41951 • K. Kautsky: Die Diktatur des Proletariats, 1918.
Empfohlene Zitierweise
M. Schmeitzner: Diktatur des Proletariats, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Diktatur_des_Proletariats (abgerufen: 22.11.2024)