Integrationslehre

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1. Konzeption

Die I. von Rudolf Smend begreift Verfassungen als Integrationsprozesse. Dieser verfassungstheoretische Ansatz abstrahiert von der Geltung einzelner Verfassungen, relativiert diese und stellt deren positivistische Auslegung radikal in Frage. Zentral für die I. ist die Verfassungsakzeptanz als nicht nur vor- oder außerrechtliche Frage.

Nach R. Smend macht erst die Verfassung den Staat aus. Der Staat liegt in diesem Modell nicht der Verfassung als Prämisse voraus, sondern wird selbst zum weichen Gegenstand, zumal die Verfassung als ihrerseits dynamisch verstanden wird. Das wirkt bis heute umso provozierender, als R. Smend damit nicht nur dem Etatismus, sondern auch dem Positivismus den Boden entzieht: Nicht nur der Staat, sondern auch die positive, geschriebene Verfassung wird von ihm als absoluter Bezugspunkt radikal in Frage gestellt, während die Verfassungsrechtswissenschaft seit jeher in nicht hinterfragbaren Größen (Verfassunggebung, Textwortlaut, Ewigkeitsgarantie, Staat, Souveränität, Identität) ihren Halt sucht – auch (aber nicht nur) im Ringen um den bes.n Beständigkeitsanspruch von Verfassungen. Letzteren relativiert R. Smend stark, indem er die Wandelbarkeit der Verfassungen nicht nur als Pendant zur Beständigkeit erwähnt, sondern in den Mittelpunkt rückt. Wegweisend erscheint die I. für heutige Relativierungen staatlicher Souveränität und für ein Verständnis der Grundordnung der nicht als Staat konzipierten EU als Verfassung.

Methodisch fordert R. Smend die „Erarbeitung der materialen Gehalte, die Voraussetzung und Gegenstand seiner Normen sind“ (Smend 1928: 124). Er unterscheidet zwar zwischen Norm und Wirklichkeit, betrachtet aber beide nicht wie Hans Kelsen als zwei verschiedene Gegenstände, sondern als zwei Seiten eines Gegenstandes. Deshalb müsse die Rechtswissenschaft die Wirklichkeit einbeziehen. R. Smend sieht die Reduktion der Rechtswissenschaft auf das Normative nicht als Chance der Verklarung, sondern als „Fiktion, Illusion, Verschleierung und Betrug“ (Smend 1928: 204).

Damit fordert R. Smend, Fragen der Soziologie und der heutigen Politikwissenschaft innerhalb der Verfassungsrechtswissenschaft aufzuwerfen. Die I. ist aber weniger Theorie als Anstoß. Denn R. Smend als großer „Anreger“ (Häberle 1975: 686) und „Aufreger“ hat selbst daraus nur torsohaft Konsequenzen gezogen, ist den Ansätzen einer Geisteswissenschaft treu geblieben, statt sie wie Hermann Heller als Wirklichkeitswissenschaft auszuführen. R. Smend selbst nennt sein Hauptwerk „nur eine Skizze, ein Arbeitsprogramm“ (Smend 1928: 120). Offenheit nicht nur der Verfassung, sondern auch der theoretischen und methodischen Zugriffe zu deren Erschließung, wird bei R. Smend zum Programm. Schließlich griffe ein rein verfassungstheoretischer Zugriff zur I. zu kurz, wollte doch R. Smend mit ihr auch einen Beitrag zur Verfassungsinterpretation und zur Dogmatik liefern. R. Smend offeriert für die Lösung praktischer Fragen eine echte Alternative zum Positivismus.

Damit ist die I. der Sache nach – ohne dass R. Smend dies als weiteren Integrationsaspekt so benannt hätte – auch eine Integration faktischer Phänomene in die juristische Betrachtung, methodisch gesehen also eine „interdisziplinäre Integration“.

2. Kritik

Der Begriff Integration weckt in der Alltagssprache verschiedenste Assoziationen. Daran anzuknüpfen ist für die ihrerseits schillernde I. programmatisch. So sehr ihre Offenheit und Anschlussfähigkeit als Vorzug angesehen wird, werfen ihr Kritiker dies als Unbestimmtheit vor. Insb. H. Kelsen hielt ihr entgegen, die „Methode des Oszillierens“ übe „eine starke Anziehungskraft auf Denker“ aus, „denen Eindeutigkeit, Klarheit und begriffliche Schärfe dem Geist ihres Gegenstandes nicht zu entsprechen scheinen“ (Kelsen 1930: 23).

3. Entwicklung als kontinuierliches Programm

Für R. Smend entspr. der Beitrag des Einzelnen zur Integration einer protestantischen Ethik. Der Ausgangspunkt seiner Lehre liegt aber in Erwägungen zur Integration der monarchischen Staaten zu einem Bundesstaat. Die I. ist eine der Positionen der Weimarer Grundsatzdebatte (neben denen von Carl Schmitt, H. Kelsen und H. Heller). Seinerzeit wurde sie als Systemkritik gegenüber der WRV aufgefasst. Immerhin bescheinigt R. Smend dem (italienischen) Faschismus, die „Notwendigkeit allseitiger Integration mit großer Klarheit gesehen“ zu haben (Smend 1928: 175). „Im Rückblick“ wollte R. Smend, der zum Nationalsozialismus auf Distanz ging, seine Lehre als „ein Modell streng demokratischen Denkens“ (Smend 1975: 1358) gedeutet wissen.

R. Smend entwickelte seine Lehre im Kaiserreich und postulierte sie bruchlos als I. unter der WRV ebenso wie unter dem GG. Ihre urspr.e Intention ist nicht primär eine Verteidigung der Monarchie und schon gar nicht eine Kritik an der WRV oder eine Stärkung des BVerfG. Der gemeinsame Nenner ihrer jetzt 100-jährigen Wirkungsgeschichte ist in der Relativierung einer rein parlamentarischen und gesetzestextlichen Konzeption der Demokratie zu sehen. Es ist bemerkenswert, „daß durch sein Werk in dieser ganzen Zeit die stetige Linie einer ungebrochenen Kontinuität hindurchgeht“ (Scheuner 1952: 434). Diese Kontinuität ist der Schlüssel für die nachhaltige Wirkung der I. in einer nach Pfaden suchenden deutschen Staatsrechtslehre, die in einer schrittweisen Anknüpfung an die wissenschaftlichen Höhenflüge der 1920er Jahre ihre Identität fand. In einem weiteren Sinne ließe sich die Rezeption der I. als eine Geschichte wissenschaftlicher (intertemporärer) Integration erzählen. Viele Entscheidungen des BVerfG werden als Bestätigung der I. gedeutet. Greifbar nahe liegt das bei der Rechtsprechung zur Bundestreue als einem Element ungeschriebenen Verfassungsrechts (anknüpfend an Smend [1916], gleichwohl die Prämissen dieses Ansatzes im monarchischen Bundesstaat übergehend), bei der Entfaltung objektiv-rechtlicher Gehalte der Grundrechte und bei den Beispielen eines dynamischen Verfassungswandels. R. Smend konstatierte bei seinem Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des BVerfG dessen prägende Bedeutung für die Verfassungsinterpretation. Die methodische Ambivalenz der I. zeigt sich heute darin, dass sie einerseits den Verfassungstextpositivismus ablehnt und damit unter den Vorzeichen einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit ein Phänomen begünstigt, das als Rechtsprechungspositivismus kritisiert wird. Umso notwendiger ist es, die I. wie etwa durch Peter Häberle kulturwissenschaftlich auszubauen und den verfassungstheoretischen sowie positivrechtlichen Rahmen des Verfassungswandels sowie dessen Grenzen zu benennen.