Lex mercatoria

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1. Begriff

Der Begriff lex mercatoria (L.) bezeichnet die Konzeption eines internationalen Einheitsrechts des Handels, das in erster Linie auf Bräuchen, Usancen, Klauseln, Prinzipien und Rechtsgrundsätzen basiert, die von der Wirtschaft unabhängig von staatlicher Rechtsetzung entwickelt worden sind. Eine präzise und allg. akzeptierte Definition der L. gibt es nicht. Die frühesten Quellennachweise betreffen das law merchant in England am Ende des 13. Jh. An die – bisher wenig erforschte – mittelalterliche L. knüpfen die Lehren von einer neuen L. an, die Ende der 50er Jahre des 20. Jh. v. a. von Clive Maximilian Schmitthoff in England und Berthold Goldman in Frankreich begründet wurden.

2. Die mittelalterliche lex mercatoria

Die für das Mittelalter charakteristische partikulare Rechtsvielfalt und das kanonische Recht behinderten mit ihren juristischen Spitzfindigkeiten einen überregionalen Handel. Zwischen den Kaufleuten entwickelten sich daher allmählich allg. akzeptierte Gewohnheiten und Gebräuche. Diese Rechtsbildung vollzog sich an den Orten, an denen dieser Handel stattfand, also auf Märkten, Messen und in Häfen. Der Ausdruck law merchant findet sich in mehreren englischen Rechtsquellen („Fleta“, um 1290; „Carta Mercatorum“ König Edwards I., 1303; „The Little Red Book of Bristol“, 1344). Es wurden spezielle Gerichte für handelsrechtliche Streitigkeiten geschaffen, in denen teilweise auch auswärtige Kaufleute mitwirkten und die bes. zügig ihre Urteile sprachen. Für typische Sachverhalte des Handels, gerade auch im Bereich des Seerechts, bildeten sich bestimmte Usancen heraus, die in Entscheidungssammlungen dokumentiert wurden, z. B. in den „Rôles d’Oléron“ für die Atlantikküste. Während Franz Wieacker „das internationale Verkehrsrecht des Hoch- und Spätmittelalters“ als „das Goldene Zeitalter einer die örtlichen und regionalen Rechtsgemeinschaften weit übergreifenden lex mercatoria“ (Wieacker 1981: 585) bezeichnet hat, sehen andere Rechtshistoriker in einer L. im Sinne einer gesamteuropäischen autonomen Rechtsordnung der Kaufleute im Mittelalter lediglich einen „Mythos“ (Cordes 2014: 384).

Erst im 16. und 17. Jh. schärfte sich mit dem Aufkommen erster Ansätze einer Handelsrechtswissenschaft in Italien (Benvenuto Stracca, Sigismondo Scaccia) und in England (Gerard Malynes) das Bewusstsein für die Existenz einer L. Im 18. und 19. Jh. fanden viele Gewohnheiten und Prinzipien, die der L. zugeordnet wurden, Eingang in die Kodifikationen des Handelsrechts in den einzelnen Staaten, und sie wurden so in die nationalen Rechte inkorporiert.

3. Die moderne lex mercatoria

Mit dem Erstarken des internationalen Handels nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs das Bedürfnis nach einem nicht in nationalen Strukturen verhafteten Recht. C. M. Schmitthoff und B. Goldman versuchten, den historischen Begriff der L. für diese Situation fruchtbar zu machen. C. M. Schmitthoff, der 1933 aus Deutschland emigrieren musste, sützte sich dabei auf die Werke von Levin Goldschmidt und G. Malynes und schuf so eine Synthese zwischen dem kontinentaleuropäischen und dem englischen Verständnis der Handelsrechtsgeschichte. B. Goldman berief sich auf die rechtssoziologischen Lehren des Völkerrechtlers Georges Scelle, der Recht als Ausfluss einer „solidarité sociale“ (Scelle 1932: 4) verstand. Entspr. sollte nach B. Goldman auch der „communauté internationale des commerçants“ (Goldman 1964: 191) rechtskonstitutive Kraft zukommen. Die Lehren von einer neuen L. beziehen sich v. a. auf die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit (Schiedsgerichtsbarkeit), die auch Billigkeitsentscheidungen (Billigkeit) zulässt. Vereinzelt wurde in der Schiedsgerichtspraxis der ICC ausdrücklich auf die L. rekurriert. Der Begriff der L. hat auch Eingang in Entwürfe für eine internationale Rechtsvereinheitlichung gefunden (Präambel der Unidroit Principles of International Commercial Contracts, 1994; Art. 1:101 der Principles of European Contract Law, 2000). Die Idee einer L. ist inzwischen auf andere Gebiete übertragen worden: So wird gelegentlich von einer lex maritima, einer lex sportiva internationalis oder von cyberlaw gesprochen. Die Bandbreite der intensiven wissenschaftlichen Diskussion über die L. manifestiert sich in dem Resümee von William Laurence Craig, William W. Park und Jan Paulsson, die konstatieren, dass Anhänger der L. „have the disconcerning habit of announcing the existence of an entire planet on little more evidence than blips on the radar screen, while detractors have adopted what might call a posture of aggressive ignorance“ (Craig/Park/Paulsson 1990: 606). Die Kritiker weisen darauf hin, dass die L. keine autonome Rechtsordnung sei. Recht könne nur durch den Staat gesetzt werden. Die Rechtsquellen blieben unklar, der Begriff sei viel zu unbestimmt und schaffe daher nur Rechtsunsicherheit.

4. Würdigung

Die weltweit geführte Diskussion über die Existenz der L. als einer autonomen Rechtsordnung, ihre Rechtsquellen und ihre genauen Inhalte ist zu einer der wichtigsten und heftigsten Kontroversen im internationalen Recht, in der Rechtstheorie und in der Rechtsgeschichte geworden. Sie wird so erbittert ausgetragen, da sie auch die grundsätzliche Frage berührt, ob Recht eher auf festen Regeln oder auf allg.en Prinzipien, wie Treu und Glauben, aufbauen sollte. Die Existenz der L. lässt sich nicht mehr bestreiten. Sie stellt ein Modell supranationalen Privatrechts dar, das sich in der Geschichte und in der Gegenwart belegen lässt. Es erklärt, wie der Handel dazu beiträgt, erstarrtes nationales Recht zu überwinden und ein Recht überregionaler Wirtschaftsräume zu entwickeln.