Naturwissenschaften

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Der Gegenstand der N. ist die Natur sowohl in der Bedeutung von „alle in der äußeren und inneren Welt vorhandenen Kräfte und alles, was vermöge dieser Kräfte geschieht“ als auch in der Einschränkung auf das, was ohne „willentliche und absichtliche Mitwirkung des Menschen geschieht“ (Mill 1984: 13). Traditionell wird angefügt, dass die N. die Natur insofern betrachten, als sie durch Naturgesetze geordnet ist. Das trifft auf Physik oder Astronomie zu, aber z. B. nicht auf viele Bereiche der Biologie. N. beschäftigen sich mit der unbelebten und mit der belebten Natur (einschließlich ihrer Geschichte) und haben so auch Anteile in Wissenschaften vom Menschen wie der Anthropologie, der Medizin und der Psychologie.

Die den N. zugesprochene Objektivität und Sicherheit soll durch ihre Methoden garantiert werden. Dabei sind einerseits Beobachtung, Experiment und Messung zu nennen, andererseits die systematische Verknüpfung des Wissens und die Bildung von übergreifenden Theorien, die empirisch nicht lückenlos begründbar sind. Diese sind häufig quantitativ und verwenden in den fundamentalen Theorien der Physik (Quantentheorie, Relativitätstheorie) auch anspruchsvolle Mathematik. Vermehrt nehmen Computersimulationen und andere Werkzeuge aus Mathematik und Informatik in allen N. einen zentralen Platz ein.

Die Physik einfacher Systeme (Planetensystem, Elektron im homogenen Magnetfeld) galt lange als methodisches Idealbild einer N. und beeinflusste auch die mechanistischen Zweige der Naturphilosophie. Allerdings ist die fundamentale Physik nur ein kleiner Teil der N. Die Konstitution von Chemie und Biologie im 18. und 19. Jh. als neue N., die zunehmende Bedeutung der Lebenswissenschaften und anderer N., die mit eigenen Methoden komplexe Systeme untersuchen (wie z. B. die statistische Mechanik), haben dazu geführt, dass das naturwissenschaftliche Denken über Kausalanalysen und das Wirken von Naturgesetzen hinaus bereichert wurde durch Konzeptionen wie bspw. die der biologischen Funktionen oder der Selbstorganisation der Materie. Auch die philosophischen Diskussionen um das Verhältnis der N. zueinander sind differenzierter geworden. Die Einheit der N. kann nicht durch einfache Reduktion auf die Physik hergestellt werden. Selbst wenn man der Idee folgt, dass die Gesetze der Physik das gesamte Naturgeschehen bestimmen (ontologische Einheit), ist das kein für uns Menschen möglicher Zugang. Wir müssen in den verschiedenen Zweigen der N. eigenständige Methoden und Fragestellungen aufnehmen und ihnen damit eine unaufhebbare Autonomie zugestehen.

Jede Reflexion über N. muss davon ausgehen, dass sie einerseits von Menschen gemacht und durch historische und soziale Randbedingungen geprägt sind, andererseits aber von etwas handeln, das von Menschen unabhängig und z. B. in seiner gesetzlichen Struktur unverfügbar ist. Diese Unabhängigkeit beschränkt Problemlösungen in der Technik auf die in den N. beschriebenen Möglichkeiten. Die Abhängigkeit der N. vom Menschen zeigt sich in wechselnden Idealen der Forschung, die in den Wissenschaften seit der Antike zu konstatieren sind, sowie insgesamt in der Geschichte der N., die durch beeindruckende Fortschritte, aber auch durch große Umbrüche geprägt ist.

So wird die Astronomie schon in der Antike mathematisch formuliert, die Mechanik aber erst in der Neuzeit (insb. bei Galileo Galilei und Isaac Newton). Im 19. Jh. werden die Anwendungen der N. in Technik und Medizin wichtig, umgekehrt profitieren die N. von neuen Experimentiertechniken. Während bis zur Mitte des 20. Jh.s die Methode der Physik als Vorbild für alle N. angesehen wurde, hat die neuere Wissenschaftsphilosophie, insb. durch die wachsende Bedeutung der Lebenswissenschaften, einen Pluralismus an Methoden akzeptiert und differenziert beschrieben. Grundlegend bleibt dabei das Wechselspiel von Empirie und Theorie, für das es aber keine einfache Analyse gibt. Beobachtungen sind theoriegeleitet, Experimente zeigen zwar manchmal auch vollkommen unerwartete neue Phänomene, sind aber i. d. R. planvolle, an theoretischen Fragen orientierte Handlungen. Die Unmöglichkeit, naturwissenschaftliche Theorien durch Erfahrung eindeutig zu bestimmen, ihre Organisation in Paradigmen und große Umbrüche in der Entwicklung der N. stellen den Wahrheitsanspruch (Wahrheit) der N. in Frage. Ein naiver Realismus, nach dem die Welt genau so ist, wie sie die N. darstellen, ist dabei ebenso unangebracht wie ein extremer sozialer Konstruktivismus, der den durchschlagenden Anwendungserfolg und die vielen detaillierten Erklärungsleistungen der N. als Wunder erscheinen lässt und insb. auch das unerwartete Scheitern von Theorien nicht plausibel machen kann. Die Debatten um die richtige Form des Realismus, d. h. um die Frage, in welchem Sinne und wie gut die Aussagen der N. mit der Welt übereinstimmen, und ebenso der Streit, in welchem Sinne es in ihnen Fortschritt gibt, sind in der Wissenschaftsphilosophie noch nicht abgeschlossen und könnten evtl. in verschiedenen Bereichen der N. zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Daraus folgt jedoch keine Beliebigkeit, so lassen sich Wissenschaften durchaus sinnvoll von Pseudowissenschaften abgrenzen.

N. sind deskriptiv, sie beschreiben und erklären die Natur. Deshalb sind Normen und Werte nicht Gegenstand der N. Dennoch ist die Wissensproduktion auch in den N. in vielfältiger Weise durch Normen und Werte geprägt. Die Glaubwürdigkeit und der Fortschritt der N. sind an die Einhaltung von Regeln guter wissenschaftlicher Praxis gebunden (z. B. keine experimentellen Daten zu fälschen, Vorarbeiten anderer anzuerkennen). Auch wenn die Freiheit der Forschung durch das GG garantiert ist, beeinflussen gesellschaftliche Ziele und ökonomische Randbedingungen, oft vermittelt durch gezielte politische Forschungsförderung (Wissenschafts- und Forschungspolitik), die Auswahl von Themen und den Aufbau neuer Forschungsinstitute. Im 19. Jh. ging das rasante Wachstum des Wissens mit der Förderung von disziplinär ausdifferenzierten Forschungsuniversitäten einher. Seit dem Zweiten Weltkrieg entstehen große Forschungseinrichtungen außerhalb der Universitäten (big science), in denen die Themen nicht intern aus den einzelnen Disziplinen motiviert sind, sondern durch Probleme bestimmt werden, die nur interdisziplinär, oft auch nur im Austausch von N. und Sozialwissenschaften bearbeitet werden können (z. B. Meeres- und Klimawissenschaften). In der Forschungspraxis gibt es darüber hinaus viel moralisches Konfliktpotential (z. B. bei Tierversuchen, Embryonenforschung, militärischer Nutzung), das ggf. auch rechtlich geregelt werden muss.

Der instrumentelle Erfolg der N. und, damit verbunden, der Technik ist unstrittig, sie haben in vielfältiger Weise die Handlungsmöglichkeiten des Menschen erweitert. Über den instrumentellen Nutzen hinaus haben die N. auch die Naturphilosophie und das allg.e Welt- und Menschenbild beeinflusst. Nach dem mechanistischen Weltbild wird das gesamte Geschehen in der Natur wie in einer Uhr durch die Gesetze der Mechanik bestimmt, was einen durchgehenden Determinismus einschließt. Zusammen mit einer materialistischen Metaphysik, nach der nur Materie existiert, führt das zu der Vorstellung, dass auch lebendige Organismen und selbst der menschliche Geist materiell und mechanisch erklärt werden können. Ein anderes Beispiel für die Weltbildrelevanz der N. ist die Evolutionstheorie (Evolution), die erklärt, wie der Mensch in einem historischen Prozess ohne den direkten Einfluss transzendenter Mächte aus der Natur hervorgegangen ist. Dadurch haben Versuche, aus der Einpassung von Lebewesen in ihre Umwelt und insgesamt aus der sinnreichen Einrichtung der Natur auf die Existenz eines planenden Gottes zu schließen, ihre unmittelbare Plausibilität verloren. N. und Philosophie wirken in komplexer Weise aufeinander ein. Die Art und Weise, wie N. betrieben werden, ist durch philosophische Voraussetzungen mitbestimmt. Ein Beispiel ist das erkenntnistheoretische Ideal, Wissen in ein deduktives System zu bringen, ein anderes die metaphysische Idee von Gesetzen, die die Natur beherrschen. Umgekehrt haben Ergebnisse der N. philosophische Lehren bestärkt oder zu Fall gebracht. Zu Letzteren gehört die Annahme, dass die Natur im Großen unveränderlich sei. Geologische und biologische Entdeckungen zeigten im 19. Jh., dass die Erde, die Tier- und Pflanzenwelt, ja selbst die Sterne eine Geschichte haben. Die Umwälzungen der Physik des 20. Jh., Relativitäts- und Quantentheorie, veränderten die klassischen philosophischen Konzeptionen von Raum, Zeit und Materie, für die vorher z. T. von der Erfahrung unabhängige Geltungsansprüche erhoben worden waren.

Viele weitergehende Vorstellungen können sich allerdings nicht allein auf die Autorität der N. berufen, sondern erfordern weitere philosophische Prämissen, die eigens begründet werden müssen. Dazu gehören starke Formen des Naturalismus, nach dem im Prinzip alles, was man über die Welt sagen kann, aus den N. folgt, oder auch der Szientismus, der Modelle der N. über ihre methodischen Grenzen hinaus verabsolutiert. Umgekehrt sollte man in der Philosophie aber nicht mit Theorien arbeiten, die gesicherten Ergebnissen der N. widersprechen. Die philosophische Anthropologie nimmt deshalb Erkenntnisse aus dem Studium des Tier-Mensch Übergangsfelds auf und diskutiert, wie weit auch die Kulturentwicklung und gegenwärtige soziale Verhaltensweisen des Menschen durch seine Stammesgeschichte mitgeprägt sind und ggf. evolutionär erklärt werden können (mit weitgehenden Ansprüchen in der Soziobiologie und der evolutionären Psychologie).

Das Verhältnis von Religion und N. hat eine wechselvolle Geschichte. Die N. wurden von vielen als Studium der Werke Gottes verstanden, auch wenn sie methodisch ganz auf innerweltliche Erklärungen eingeschränkt waren. Andererseits geriet eine wörtliche Interpretation des Schöpfungsberichts der Bibel in einen unvermeidbaren und folgenreichen Konflikt mit der Evolutionstheorie. Abhängig vom jeweiligen Theologieverständnis und dem philosophischen Verständnis der N. kann das Verhältnis zwischen Religion und N. als konflikthaltig, als prinzipiell ohne Überschneidung, als Dialog oder auch als Ergänzung verstanden werden (etwa bei der Frage, warum das Universum überhaupt existiert und warum es geordnet ist).

N. beschreiben nur einen der Wege zur Welt, neben kontemplativen und ästhetischen Zugängen. Dieser Weg ist methodisch ausgezeichnet (u. a. durch empirische Kontrolle) und hat inhaltlich einen Vorrang, da in ihm das offen gelegt wird, was für den Menschen nicht verfügbar ist. Auffassungen, die im Widerspruch zu gesicherten Theorien der N. stehen, sind auch in dem Sinne irrational, dass sie die Gefahr des Scheiterns von Handlungen heraufbeschwören. Dieser Rahmen legt aber bei weitem nicht alles fest, was Menschen zur Begründung ihres Denkens und Handelns brauchen.

Die Integration der Ergebnisse der N. in unser gesamtes Wissen setzt die Kenntnis der Vielfalt naturwissenschaftlicher Methoden und der daraus folgenden Grenzen der N. voraus. So wie im praktischen Bereich die N. unseren Handlungsspielraum beschreiben, geben die Inhalte gut bewährter Theorien der N. die Vorgaben wieder, zu denen sich unser Verständnis vom Menschen und seinem Platz in der Natur nicht in Widerspruch setzen sollte.