Europäisches Wirtschaftsrecht

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1. Allgemein

Mit dem Begriff Wirtschaftsrecht werden alle Rechtsnormen zur Regelung des Wirtschaftslebens bezeichnet; erfasst werden insofern Normen des Privatrechts, des öffentlichen Rechts und des Strafrechts. Geregelt werden das Verhältnis der Wirtschaftssubjekte untereinander sowie ihr Verhältnis zum Staat. Wirtschaftsrecht wird dabei von allen staatlichen Ebenen gesetzt, wobei in Deutschland die Bundesgesetzgebung die Hauptrolle spielt. Bspw. finden sich das Bürgerliche Recht sowie das Handels- und Gesellschaftsrecht in Deutschland in Bundesgesetzen, das gleiche gilt für das Strafrecht sowie große Teile des öffentlichen Wirtschaftsrechts. Der Begriff des E.n W.s umfasst in seiner weitesten Bedeutung die wirtschaftsrechtlichen Regelungen auf der Ebene der EU, ihrer Mitgliedstaaten sowie auch der übrigen europäischen Staaten. Üblicherweise wird mit dem Begriff des E.n W.s jedoch auf die Rechtsquelle hingewiesen. Gemeint sind dann die zur Regelung des Wirtschaftslebens erlassenen Rechtsvorschriften der EU.

2. Wirtschaftsrecht der EU

Das Wirtschaftsrecht ist in der EU von großer Bedeutung, es war der zentrale Gegenstand des Vertrags über die EWG. Hieran hat sich durch die späteren Vertragsänderungen nichts geändert. Zu den Zielen der EU gehört die Errichtung eines Binnenmarkts (Art. 3 Abs. 3 EUV; Europäischer Binnenmarkt) als eines Raums „ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital (Grundfreiheiten) gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“ (Art. 26 Abs. 2 AEUV) sowie die Errichtung einer „Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist“ (Art. 3 Abs. 4 EUV; EWWU). Zu diesem Zweck sind der EU im Bereich des Wirtschaftsrechts eine Vielzahl von ausschließlichen (z. B. Zollunion, Wettbewerbsregeln [ Wettbewerbsrecht ], Währungspolitik, gemeinsame Handelspolitik – Art. 3 Abs. 1 AEUV) und geteilten (z. B. Binnenmarkt, Sozialpolitik, wirtschaftlicher Zusammenhalt, Landwirtschaft und Fischerei, Verbraucherschutz, Verkehr, transeuropäische Netze, Energie [ Energierecht ] – Art. 4 Abs. 2 AEUV) Zuständigkeiten eingeräumt. Unterschieden werden können das Europäische Binnenmarktrecht, welches als primäres und sekundäres Unionsrecht auf die Verwirklichung und Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts als gemeinsamen Marktes zielt, und das Europäische Außenwirtschaftsrecht, welches die gemeinsame Handelspolitik bezeichnet und sich auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts im Verhältnis zu Drittländern bezieht. Aus den entsprechenden Zuständigkeiten der EU resultieren eine Vielzahl europäischer wirtschaftsrechtlicher Vorschriften, von denen hier nur einige aus dem Bereich des Binnenmarktrechts beispielhaft vorgestellt werden können.

2.1 Grundfreiheiten

Der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) garantiert verschiedene Grundfreiheiten für den grenzüberschreitenden Verkehr. Um diese von den Grund- und Menschenrechten (Grundrechte, Menschenrechte) abzugrenzen, werden sie auch als Marktfreiheiten bezeichnet. In der Sache handelt es sich durchaus um wirtschaftliche Grundrechte. Gewährleistet wird der freie Waren-, Personen-, Dienstleistungs- sowie Kapital- und Zahlungsverkehr (vgl. Art. 26 Abs. 2 AEUV). Zollunion und Warenverkehrsfreiheit verbieten Ein- und Ausfuhrzölle (Art. 28 AEUV, Zoll) sowie mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten (Art. 34 f. AEUV). Ebenfalls verboten sind Abgaben bzw. Maßnahmen gleicher Wirkung. Zum freien Personenverkehr gehört einerseits die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV) und andererseits auch die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV). Die Dienstleistungsfreiheit verbietet Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union für „Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind“ (Art. 56 AEUV). Demgegenüber verbietet die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch zwischen Mitgliedstaaten und dritten Ländern (Art. 63 AEUV). Die Grundfreiheiten werden mittlerweile nicht nur als Verbot der Diskriminierung, sondern darüber hinaus generell als Beschränkungsverbote verstanden. Sie sollen den freien Marktzugang zu den nationalen Teilmärkten innerhalb des Binnenmarktes gewährleisten und dazu beitragen, dass die nationalen Teilmärkte immer mehr zu einem Binnenmarkt verschmelzen (Europäischer Binnenmarkt). Sie wirken jedoch nur im grenzüberschreitenden Verkehr und erfassen reine Inlandssachverhalte nicht, so dass es weiterhin zu einer Inländerdiskriminierung kommen kann.

2.2 Wettbewerbsrecht

Die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften des AEUV richten sich an Unternehmen und verbieten wettbewerbsbeschränkende Absprachen (Art. 101 AEUV) sowie den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV). Neben diese primärrechtlichen Vorschriften tritt die FKVO als europäisches Sekundärrecht. Sie dient der Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, um eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs, insb. durch Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung, zu vermeiden (vgl. Art. 2 Abs. 2, 3 FKVO). Die genannten wettbewerbsrechtlichen Vorschriften ergänzen die Grundfreiheiten. Während letztere staatliche Wettbewerbsbeschränkungen und -verzerrungen zu verhindern suchen, wirkt das Wettbewerbsrecht entsprechenden Bestrebungen von Marktteilnehmern entgegen. Die Vorschriften des Beihilferechts (Art. 107 AEUV) adressieren demgegenüber wieder staatliche Eingriffe und verbieten staatliche Beihilfen, „die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen“ (Subvention).

2.3 Rechtsangleichung und Rechtsvereinheitlichung

Neben den primärrechtlichen Vorschriften des E.n W.s existieren eine Vielzahl von sekundärrechtlichen Vorschriften, die insb. zur Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes und der Grundfreiheiten erlassen wurden. So räumt der AEUV der Union etwa in Art. 46 AEUV das Recht zum Erlass von Verordnungen und Richtlinien zur Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und in Art. 50 AEUV zum Erlass von Richtlinien zur Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit ein. Art. 59 AEUV sieht den Erlass von Richtlinien zur Liberalisierung bestimmter Dienstleistungen vor. Daneben bestehen weitere Unionskompetenzen zur Setzung europäischen Rechts. Zu nennen sind hier insb. Artikel 114 AEUV, der „Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben“, gestattet, sowie Art. 352 AEUV. Letzterer beinhaltet eine Auffangkompetenz der EU, die bereits verschiedentlich zur Rechtsvereinheitlichung genutzt wurde. Von den genannten Kompetenzen ist vielfach Gebrauch gemacht worden, was zu einer erheblichen unionsrechtlichen Überformung von großen Bereichen des nationalen Wirtschaftsrechts und damit zur Entstehung genuin E.n W.s geführt hat. Beispielhaft genannt sei hier etwa das Gesellschaftsrecht. Die europäischen Regelungen betreffen hier u. a. die Gründung und Publizität von Kapitalgesellschaften, ihre Kapitalaufbringung und -erhaltung, das Umwandlungs- und Übernahmerecht, Aktionärsrechte, Zweigniederlassungen und Einpersonengesellschaften, die Bilanzierung und Prüfung. Zudem wurden u. a. mit der Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE) genuin europäische Rechtsformen geschaffen. Eine ähnliche Regelungsdichte weist das europäische Kapitalmarktrecht auf. Zu nennen sind auch die Bereiche des Arbeitsrechts, Versicherungsrechts, Lauterkeitsrechts (Wettbewerbsrecht), des Verbraucherschutzes sowie des Gewerblichen Rechtsschutzes und Urheberrechts.