Reich
Zurückgehend auf indogermanische Sprachwurzeln umfasst der Begriff „R.“ ein Bedeutungsfeld, das vom umfassenden „R. Gottes“ bis zu räumlich begrenzten Herrschaftsgebieten seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. auf allen Kontinenten reicht (ägyptische R.e, Imperium Romanum, British Empire, chinesisches R. der Mitte) und als „R. des Bösen“ in die Sprache politischer Auseinandersetzungen in der Epoche des Kalten Krieges nach 1945 einging. An der Spitze eines R.s als Territorium steht stets ein Herrscher als Kaiser (imperator) oder König (rex).
Mit der Kaiserkrönung Karls des Großen durch Papst Leo III. im Jahre 800 in Rom wurde der Karolinger nicht nur zum Rechtsnachfolger des oströmischen Kaisers in Byzanz erhoben, sondern er verband sein Kaisertum zugl. mit dem Papsttum der römischen Kirche, wurde defensor ecclesiae und stellte sein Fränkisches R. in die Kontinuität des antiken Imperium Romanum. Mit dem Vertrag von Verdun 843 ging die Einheit dieses R.s verloren, was u. a. die Entstehung des Ostfränkischen-deutschen R.s (regnum Teutonicorum) zur Folge hatte, das sich zu Beginn des 10. Jh. in Mitteleuropa und Italien unter Kaiser Otto I. dem Großen als Heiliges Römisches R. festigte und von der Mitte des 12. Jh. an bis zu seinem Ende im Jahre 1806 als Sacrum Romanum Imperium bezeichnet wurde.
Durch die ständisch-föderal geprägte Rivalität der R.s-Fürsten und die (Dienst-)Ansprüche von Kirche und Papst war die kaiserliche Gewalt in doppelter Weise eingeschränkt, bis der Papst infolge der „Goldenen Bulle“ Kaiser Karls IV. von 1356 nur noch das Recht der – verfassungsrechtlich abgeschwächten – Krönung des gewählten rex Romanorum zum Kaiser behielt, zu der es letztmals 1530 in Bologna kam. Das R. wurde endgültig ein Wahl-R., in dem sieben Kurfürsten, deren Zahl sich in konkreten politischen Situationen bis 1803 mehrfach änderte, abschließend als alleinige Königswähler bestimmt wurden („Säulen des R.s“). 1558 beanspruchten sie nach der Abdankung Karls V. das Recht der Kaisererhebung für sich. Sie nutzten ihre Macht gegenüber dem R.s-Oberhaupt (König/Kaiser) zum Ausbau ihrer Partizipation an der monarchischen Herrschaft (Monarchie), indem sie bei der Entwicklung des königlichen Hoftages zum R.s-Tag als Mitregierungsinstitution bis zum Ende des 15. Jh. ihre eigene Kurie – auch zur Abgrenzung von allen anderen R.s-Ständen – ebenso durchsetzten wie ihre Befugnis zur selbständigen Veranstaltung von Kurvereinen und Kurfürstentagen, ihre Mitsprache bei der Einberufung von R.s-Tagen sowie 1519 die Einführung von Wahlkapitulationen, die von da an jeder zu wählende Römische König als Herrschaftsvertrag auszufertigen hatte und die darüber entschieden, ob das R. eine stärker monarchisch-zentralistische oder eine stärker reichsständisch-föderale Prägung erhielt. Versuche, den König/Kaiser durch R.s-Regimenter in seiner Regierung zu begrenzen, scheiterten 1503 und 1529 jeweils nach wenigen Jahren aufgrund reichsständischen Desinteresses.
Die Verhältnisse im Heiligen Römischen R. regelte keine Verfassung, sondern seine Verfasstheit drückte sich in zahlreichen R.s-Grundgesetzen von der Wahlordnung der „Goldenen Bulle“ von 1356, über die königlichen Wahlkapitulationen, sämtliche R.s-Tagsabschiede, eine Vielzahl von R.s-Ordnungen bis zum R.s-Deputationshauptschluss von 1803 als Dokument der Selbstauflösung des R.s aus. Dieses blieb zugl. Lehns-R. mit dem König/Kaiser als Lehnsherr in einem ständischen, übernationalen Personenverband an der Spitze. Dass infolge des Verlustes der kirchlichen Einheit durch die von Martin Luther ausgelöste Reformation nicht auch die Einheit des R.s zerbrach, war dank der Weitsicht der R.s-Stände seine größte Leistung. Indem sie im Augsburger Religionsfrieden 1555 ihre unterschiedlichen Konfessionen (Konfessionalisierung) zugunsten eines säkularen Landfriedens zurückstellten, wurden die R.s-Stände letztlich zu dem R., das dem zum Konsens verpflichteten Kaiser – wie in der Formel „Kaiser und R.“ ausgedrückt – gleichberechtigt gegenüberstand. Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde in politischen Streitfällen die Majorisierung einer Konfessionspartei verboten (itio in partes) und die Verpflichtung zur amicabilis compositio festgeschrieben. Alle R.s-Institutionen mussten bikonfessionell besetzt werden.
Beide auf dem Wormser R.s-Tag 1495 formulierten Gebote, Frieden und Recht aufrechtzuerhalten, waren innenpolitische Aufgaben des R.s. Während dem Landfrieden ab 1512 die Einteilung des R.s in zehn R.s-Kreise dienen sollte, gab es keinerlei institutionelle Vorkehrungen für außenpolitische Bedrohungen. In wenigen Fällen von R.s-Kriegen im 17./18. Jh. wurde auf das Instrumentarium der Wiederherstellung von Landfrieden zurückgegriffen, um situationsbedingt R.s-Armeen aufzustellen, die unter einer bikonfessionell zusammengesetzten R.s-Generalität nicht kriegstauglich waren. Der Kaiser blieb als R.s-Oberhaupt außen- und bündnispolitisch sowie in Fragen von Krieg und Frieden von den R.s-Ständen abhängig. Der Wahrung und Durchsetzung des Rechts diente die Errichtung des R.s-Kammergerichts (1495) und seine feste Etablierung bis 1555, womit der Kaiser – trotz seines Hofrats – seine Stellung als alleinige oberste Rechtsinstanz im R. verlor. Das R.s-Kammergericht blieb eine dauerhafte R.s-Institution, die durch Matrikularbeiträge (Kammerzieler) finanziert wurde. Neben ihm entwickelte sich der an wechselnden Orten nicht permanent tagende R.s-Tag als Gesetzgebungsinstitution ab 1663 zum Immerwährenden R.s-Tag in Regensburg. Im R. gab es nach dem 1495 verkündeten und gescheiterten „Gemeinen Pfennig“ keine ständige R.s-Steuer, keine zentrale Verwaltung und keine allg. verbindliche R.s-Münze.
Der Kaiser blieb nach innen R.s-Lehnsherr und nach außen oberster Repräsentant des R.s, anerkannt als ranghöchster Monarch in Europa, und als defensor ecclesiae nomineller Führer der Christenheit bei ihrer Verteidigung gegen die Mohammedaner, sowie Inhaber weniger ihm allein vorbehaltener Reservatrechte (jura caesarea reservata). In der staatsrechtlichen Debatte des 17. und 18. Jh. wurde das R. verschiedenen Staatsformen zugeordnet. Wenn Samuel von Pufendorf es „einen irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper“ (Pufendorf 1976: 106 f.) nannte, brachte er zum Ausdruck, dass es keinem Typ der klassischen Staatsformen entsprach, weshalb die R.s-Publizistik davon sprach, dass „Teutschland auf teutsch regiert werde“ (Moser 1766: 550).
Nachdem das R. seit der Mitte des 18. Jh. zwischen den mächtigsten R.s-Teilen Brandenburg(-Preußen) und Österreich zerrieben und die sezessionistische Bewegung der Mitglieder des Rheinbundes von 1806 unter Napoleón Bonapartes Führung wirksam wurde, hörte das R. am 6.8.1806 auf zu bestehen, indem Kaiser Franz II. nicht abdankte, sondern es für beendet erklärte, als R.s-Oberhaupt ausschied und damit die Lehensstruktur zum Einsturz brachte. Mangels einer anderen Legitimationsbasis kam es zu keiner Neuwahl eines Römischen Königs. Überlegungen zu einer R.s-Erneuerung (Wilhelm von Humboldt, Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom Stein) zerschlugen sich bis 1815.
Etwas völlig Neues war das dem monarchischen Prinzip verpflichtete und als konstitutioneller Bundesstaat 1871 gegründete nationalstaatliche Deutsche Kaiser-R. An seine Stelle trat 1919 das Deutsche R. als demokratische parlamentarische Republik, ab 1933 zunächst – angelehnt an Joachim von Fiores chiliastisches Verständnis aus dem 12. Jh. – das „Dritte R.“ Adolf Hitlers, i. S. eines „Ewigen R.s“ oder „Tausendjährigen R.s“ auf germanisch-deutsche, nationalistisch-rassenpolitische Ziele verpflichtet und nach dem Anschluss Österreichs ab 1939 als „Großdeutsches R.“ bzw. „Großgermanisches R.“ bezeichnet, untergegangen 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Literatur
W. Burgdorf (Bearb.): Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519–1792, 2015 • K. Herbers/H. Neuhaus: Das Heilige Römische Reich, 2010 • K. Hildebrand: Das Dritte Reich, 62003 • H. Neuhaus: Das Reich in der Frühen Neuzeit, 22003 • A. Gotthard: Säulen des Reichs, 1999 • G. Schmidt: Geschichte des alten Reichs, 1999 • H. Angermeier: Die Reichsreform 1410–1555, 1984 • A. Buschmann: Kaiser und Reich, 1984 • P. Moraw u. a.: Reich, in: GGB, Bd. 5, 1984, 423–508 • S. von Pufendorf: Die Verfassung des deutschen Reiches, 1976 • E. Fehrenbach: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871–1918, 1969 • W. Goez: Translatio Imperii, 1958 • K. Zeumer: Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung, 1910 • J. J. Moser: Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 1, 1766.
Empfohlene Zitierweise
H. Neuhaus: Reich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Reich (abgerufen: 23.11.2024)