Erstes Vatikanisches Konzil

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Anlässlich der 1800-Jahr-Feier des Martyriums von Petrus und Paulus kündigte Papst Pius IX. am 26.6.1867 in Rom die Einberufung eines ökumenischen Konzils an. Am 29.6. des folgenden Jahres berief er es mit der Bulle Aeterni Patris auf den 8.12.1869 in den Vatikan ein. Die Einladung an die orthodoxen und protestantischen Kirchen verband er mit dem Appell, zur kirchlichen Einheit unter dem Papst zurückzukehren, was als brüskierend empfunden und abgelehnt wurde. Die Oberhäupter der christlichen Staaten wurden nicht mehr eingeladen. Hinter dem päpstlichen Entschluss lassen sich zwei wichtige Entwicklungslinien ausmachen: Auf der einen Seite sollte der seit der Revolution von 1848 und dem Exil des Papstes in Gaëta (bis 1850) geführte Kampf gegen den Rationalismus und den Liberalismus mit seiner Theorie individueller Menschenrechte und Freiheiten sowie für die Unabhängigkeit der Kirche (Katholische Kirche) von den Staaten fortgeführt werden; zudem hatte eine streng-römisch und an der mittelalterlich-scholastischen Theologie (Scholastik) orientierte Gruppe die päpstliche Verurteilung theologischer Strömungen nördlich der Alpen, die der modernen historischen Methode oder der neuzeitliche Philosophie aufgeschlossen gegenüberstanden, durchgesetzt. Beide Entwicklungen sollten bekräftigt und feierlich als unumstößlich erklärt werden. Ab September 1867 arbeitete eine Zentralkommission an der Geschäftsordnung, während fünf Sachkommissionen (Dogma, Disziplin, Kirchenpolitik, Ostkirchen und Missionen, Orden) die zu beschließenden Texte vorbereiten sollten. Deren kurial dominierte, einseitig-ultramontane Zusammensetzung rief breite Kritik hervor und führte Ende 1868 zu einer Intervention des Prager Kardinals Friedrich von Schwarzenberg und zu einer Nachnominierung weiterer Konsultoren; diese Korrektur blieb jedoch kosmetisch.

Während die Vorbereitungsarbeit vor der Öffentlichkeit abgeschirmt war, polarisierte die römische Jesuitenzeitschrift Civiltà Cattolica, die sich zu einem halboffiziösen Laboratorium und Vordenkerorgan des Papstes entwickelt hatte, am 6.2.1869 mit einem Artikel, nach dem alle wahren Katholiken sich vom Konzil die Definitionen des Syllabus errorum von 1864, der Unfehlbarkeit (Infallibilität) des Papstes und der sofortigen leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel wünschten. 1867 hatte diese Zeitschrift bereits ein Gelübde mit Bezug auf die päpstliche Unfehlbarkeit propagiert, das die Bischöfe Henry Edward Manning (Westminster) und Ignatius Senestrey (Regensburg) am Petrusgrab auch ablegten. Ähnliche Forderungen erhob der französische Publizist Louis Veuillot in seiner Zeitschrift L’Univers. Katholische Gegenstimmen fürchteten eine einseitig-parteiische Definition, die weder auf die enormen historischen Probleme eines solchen Glaubenssatzes noch auf die Stellung der Katholiken als Staatsbürger Rücksicht nähme. An die Spitze dieser Opposition stellte sich der Münchener Kirchenhistoriker Ignaz von Döllinger mit einer ersten in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ anonym publizierten Artikelfolge (auch separat unter dem Pseudonym „Janus“ erschienen). Der von I. von Döllinger angestoßene Versuch des bayerischen Ministerpräsidenten, eine diplomatische Intervention der Staaten zu organisieren, führte zu keinem Erfolg.

Das am 8.12.1869 eröffnete Konzil tagte unter schlechten akustischen Bedingungen im rechten Seitenschiff der Peterskirche. Die Geschäftsordnung (Multiplices inter) wurde dem Konzil vom Papst, der sich die Besetzung des Präsidiums und aller Kommissionen sowie die zu beratenden Vorlagen vorbehielt, oktroyiert. Insgesamt waren 792 Bischöfe und Ordensobere anwesend, die meisten stammten aus Europa, wobei die romanischen Länder mit ihren kleinen Diözesen und ihrer katholischen Bevölkerung samt den kurialen Titularbischöfen fast zwei Drittel der Konzilsväter stellten. Obwohl die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit in keinem der vorbereiteten Schemata thematisiert war, spaltete sie von Anfang an das Konzil in eine bejahende Majorität und eine kritische Minorität (rund 20 % der Bischöfe, v. a. aus den großen Bistümern in Deutschland und Österreich-Ungarn, einem Teil der französischen und nordamerikanischen Bistümer sowie einigen unierten Patriarchen). Da der Papst kaum die eigene Unfehlbarkeit, die er aber bereits in seiner Antrittsenzyklika Qui pluribus (1846) programmatisch beansprucht und bei der Dogmatisierung der Immaculata conceptio Mariae (1854) im Voraus „praktiziert“ hatte, zur Abstimmung vorlegen konnte, sammelten infallibilistische Bischöfe bis Ende Januar 1870 über 400 Unterschriften, die eine Behandlung der Lehre durch das Konzil erbaten. In die entscheidende Glaubensdeputation waren vorher unter dem Einfluss der Senestrey-Manning-Gruppe nur Infallibilisten gewählt worden. Diese kennzeichnete ein Sicherheits- und Souveränitätsdenken, das gegen eine Pluralität von Meinungen eine verbindliche und letzte autoritative Instanz wünschte. Die Mehrheit der Minoritätsbischöfe lehnte die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit nicht nur aus Rücksichtnahme auf die Staaten oder die Ökumene (Opportunitätsgründe), sondern auch aus prinzipiellen (historisch-)theologischen Einwänden gegen sie ab: Die Geschichte schien klar irrtümliche päpstliche Fehlentscheidungen zu belegen, Jurisdiktionsprimat und Infallibilität des Papstes wurden in den ersten Jh. und vielfach auch später nicht geglaubt und konnten so kein Offenbarungsinhalt sein.

Als erstes der vorbereiteten Schemata wurde De doctrina catholica diskutiert (28.12.1869–10.1.1870). Der von Johann Baptist Franzelin SJ und Johann Baptist Schwetz verfasste Entwurf wurde, weil als zu weitschweifig und abstrakt kritisiert, durch eine straffende Neufassung von Joseph Kleutgen SJ ersetzt, zwischen dem 22.3. und dem 1.4. beraten, am 24.4. als dogmatische Konstitution Dei Filius vom Konzil einstimmig angenommen und vom Papst approbante concilio feierlich promulgiert. Sie lehrte die Erkennbarkeit Gottes aus der Schöpfung mittels der natürlichen Vernunft, während die Offenbarung übernatürlicher Wahrheiten allein auf die Autorität des sich offenbarenden Gottes hin geglaubt werden müsse. Als Glaubwürdigkeitsmotive für diese wurden Wunder und erfüllte Prophezeiungen bestimmt. Die auf J. Kleutgen zurückgehende und in das (katholische Gelehrtenversammlungen päpstlicher Kuratel unterstellende) Breve Tuas libenter (1863) aufgenommene Theorie eines „ordentlichen“ Lehramtes des Papstes neben dem „außerordentlichen“ wurde bekräftigt. So stützte die Konstitution die Verurteilung deutschsprachiger und Löwener Theologen seit den 1850er Jahren; sie trug die Handschrift J. Kleutgens, der mit Hilfe der päpstlichen Autorität konkurrierende Schulrichtungen zu seiner „Theologie der Vorzeit“ ausschalten wollte.

Um den Gang des Konzils zu beschleunigen, wurde am 22.2.1870 in einer ergänzenden Geschäftsordnung die Redezeit im Konzil begrenzt und die einfache Mehrheit als hinreichend für Glaubensentscheidungen festgelegt. Die Fronten zwischen der Majorität, die Klarheit schaffen wollte und die Definition einer unhinterfragbaren, Sicherheit gebenden souveränen Autorität des Papstes propagierte, und der Minorität waren verhärtet. Letztere erklärte, dass bei Glaubensfragen keine Mehrheitsentscheidung, sondern das einmütige Glaubenszeugnis aller bzw. moralische Unanimität erforderlich sei, und machte gegen eine Primats- und Unfehlbarkeitsdefinition dogmenhistorische Gründe geltend. In vielen Ländern gab es parallel dazu eine kontroverse öffentliche Debatte, befeuert v. a. durch die „Römischen Briefe vom Concil“ in der über Deutschland hinaus verbreiteten „Allgemeinen Zeitung“, die der (v. a. durch John Lord Acton auf verbindungsreichem römischen Beobachtungsposten) wohlinformierte I. von Döllinger anonym verfasste. Immer deutlicher ergriff der Papst nunmehr offen Partei für die Infallibilisten: Am 21.[1. 1.]1870 war das von Clemens Schrader SJ verfasste Schema De ecclesia verteilt worden, das die Kirche als vom Staat in ihrer Ordnung unabhängige, ihm prinzipiell ebenbürtige societas perfecta beschrieb, die streng hierarchisch gegliedert sei. An ihrer Spitze komme dem Papst der Jurisdiktionsprimat zu. Pius IX. ließ am 6.3. ein Zusatzkapitel (Caput addendum) über die päpstliche Unfehlbarkeit anfügen, dessen Hauptverfasser C. Schrader und Willibald Apollinaris Maier sowie der Theologe I. Senestreys waren. Am 29.4. dekretierte er, die Papstkapitel aus dem Kirchenschema herauszulösen und als dogmatische Konstitution Pastor aeternus vor dem Restschema behandeln zu lassen. In vier Kapiteln sollte die Verleihung des päpstlichen Primats durch Christus an Petrus, dessen Fortexistenz im römischen Bischofsamt, Umfang und Wesen dieses päpstlichen Jurisdiktionsprimats (potestas plena, suprema, ordinaria, immediata, vere episcopalis) und als dessen Vollendung schließlich die päpstliche Lehr-Unfehlbarkeit definiert werden. Die kontroverse Debatte über diese Vorlage (14.5.–3.6.) wurde durch Mehrheitsbeschluss abgebrochen. Versuche gemäßigter Infallibilisten wie des Kardinals Luigi Maria Bilio, die Unfehlbarkeit auf feierliche Glaubensdefinitionen zu beschränken, oder des Kardinals Filippo Maria Guidi, die päpstliche Lehrautorität an die Glaubensüberlieferung der Kirche zurückzubinden, wurden von den radikalen Protagonisten der Lehre und vom Papst selbst abgewehrt. Auch die Eigenständigkeit der Bischofsgewalt (Bischof) gegenüber dem Papst konnte nicht Eingang in das Schema finden; vielmehr verschärfte Pius IX., als am 13.7. in einer Probeabstimmung 88 Väter mit Non placet und 62 mit Placet iuxta modum votierten, den Text noch, indem er einfügen ließ, päpstliche Entscheidungen über „eine Glaubens- oder Sittenlehre“ seien, wenn sie der Papst „ex cathedra […] das heißt […] kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität“ verkünde, „aus sich (ex sese) und nicht etwa auf Grund der Zustimmung der Gesamtkirche unabänderlich (non autem ex consensu Ecclesiae irreformabiles)“ (Pastor aeternus, Kap. 4), unfehlbar; es handle sich bei dieser Definition um ein von Gott geoffenbartes Dogma (docemus et divinitus revelatum dogma esse definimus). Als ein letztes Gesuch der Minorität an den Papst erfolglos blieb, reisten 63 Bischöfe – rund 10 % der bis zum Schluss am Konzil teilnehmenden Väter – am Tag vor der öffentlichen Sitzung ab, in ihrer Abschiedsadresse an den Papst ihr „Non placet“-Votum nachdrücklich bekräftigend; nur zwei von ihnen erklärten zugleich ihre Unterwerfungsbereitschaft. So wurde am 18.7.1870 die Constitutio prima de ecclesia Christi Pastor aeternus mit 553 Ja- gegen 2 Nein-Stimmen verabschiedet und von Pius IX. approbante concilio promulgiert. Der Papst beurlaubte nun das Konzil; nach der Eroberung Roms, des letzten Restes des Kirchenstaats, durch italienische Truppen vertagte er es schließlich am 20.10. auf unbestimmte Zeit. Die allermeisten der 65 entworfenen Schemata blieben so völlig unbehandelt.

Nach und nach unterwarfen sich die Minoritätsbischöfe. Ihre die Definition abmildernden Erklärungsversuche nahmen Papst und Kurie hin. In Deutschland legten die Bischöfe nach dem Vorbild der Bischöfe Philipp Krementz (Ermland) und Matthias Eberhard (Trier) die Unfehlbarkeit doch wieder im Sinne F. M. Guidis als rückgebunden an den Glauben der Kirche aus, ohne dass römischer Widerspruch erfolgt wäre. 1875 erklärte der deutsche Episkopat die bischöfliche Jurisdiktion als direkt von Christus eingesetzt und nicht in der päpstlichen aufgegangen, was der Papst in einer Ansprache an die Kardinäle am 15.3. bestätigte. So sehr man von Seiten der Minoritätsbischöfe selbst mit den Lehren der neuen Papstdogmen gerungen hatte, so entschieden forderte man nunmehr die Unterwerfung der Theologieprofessoren, sieht man vom Tübinger Ausnahmefall ab, wo sich Bischof Carl Joseph Hefele, ein entschiedener Antiinfallibilist, unterwarf und schützend vor seine schweigende theologische Fakultät stellte. In München dagegen wurde I. von Döllinger zur Unterwerfung aufgefordert und, da er sich weigerte, feierlich exkommuniziert. In zahlreichen Ländern schlossen sich Gegner der Konzilsbeschlüsse zusammen, es entstand das Schisma mit den „Altkatholiken“ (Altkatholische Kirche).

In neuen Deutschen Reich wurden die vatikanischen Lehrdefinitionen zum wichtigsten Auslöser des Kulturkampfs. Während in Bayern deren Publikation verboten und diese so juridisch vom Prinzip der landesherrlichen Aufsicht aus zunächst konsequent ignoriert wurden, ging Preußen einen Schritt weiter und forcierte eine Gegengesetzgebung, die den Übergriff des Klerus in politische Belange verhindern und die Integration desselben in das Staatswesen erzwingen wollte. Ergebnis waren meist anhaltender Widerstand, eine Krise der pastoralen Versorgung der Gläubigen, aber ebenso auch die Festigung des sich formierenden, politisierten katholischen Milieus (Katholizismus). Während die Zentrumspartei (Zentrum) eine nie mehr erreichte katholische Wählerbindung erzielte, identifizierte die Mehrheit der praktizierenden Gläubigen sich mit ihren Hirten, die sie als vom Staat unrechtmäßig verfolgt betrachtete.

Entgegen der urspr. Aussageabsicht wurde das Unfehlbarkeitsdogma in den nächsten Jahrzehnten immer mehr auf feierliche, seltene Glaubensdefinitionen zu restringieren versucht; dagegen wurde durch die Kodifizierung des kanonischen Rechts (1917, Codex Iuris Canonici) und die Modernisierung der kurialen Behörden der päpstliche Jurisdiktionsprimat in der Folgezeit immer extensiver ausgeübt. Die moderne Bibel- und Religionskritik führte spätestens seit der Modernismusdebatte (Modernismus) um 1900 zu einer Krise des in Dei Filius gelehrten doktrinellen Offenbarungsverständnisses und des extrinsezistischen Wunderbeweises.