Spieltheorie
Die S. beschäftigt sich mathematisch bzw. quantitativ-formalisiert mit Situationen, in denen zwei oder mehr Akteure interdependente Entscheidungen treffen. Die Entscheidungstheorie hat hingegen Situationen zum Gegenstand, in denen nur ein Akteur Entscheidungen trifft und in einer Umwelt agiert, die sich deterministisch oder stochastisch verhält, aber nicht selbst entscheidet. Die S. begann 1928 mit dem Beitrag „Zur Theorie der Gesellschaftsspiele“ von John von Neumann, auch wenn es bereits Vorläufer gab. Anfangs ging es tatsächlich v. a. um Spiele wie Schach oder Poker, die klare Regeln und Ziele haben. Die Methoden lassen sich jedoch auch auf wirtschaftliche, politische und sogar militärische Probleme anwenden, wobei zwischen kooperativer und nichtkooperativer S. unterschieden wird. Die evolutionäre S., die nicht von rationalen Akteuren, sondern erfolgreichen Strategien ausgeht, ist außerdem in der Biologie und Informatik relevant, während die empirische, insb. experimentelle S. das reale Verhalten von Menschen analysiert, statt vollständige Rationalität zu postulieren.
1. Kooperative Spieltheorie
Die kooperative S. untersucht Spiele, in denen verbindliche Vereinbarungen möglich sind, weil diese von außen durchgesetzt werden oder sich alle daran gebunden fühlen. Es geht dann darum, welche Koalitionen sich bilden und welche gemeinsamen Handlungen von einer Gruppe ausgewählt werden. Häufig wird die Macht von Akteuren rein formal beschrieben, z. B. durch die Zahl der Abgeordneten von Parteien im Parlament, woraus sich die rechnerisch möglichen Koalitionen bestimmen lassen und die Bedeutung der Parteien zu ihrer Bildung. In der Realität kann es jedoch sein, dass zwei Parteien aus ideologischen Gründen nicht miteinander koalieren können, wozu die Modelle ggf. um entspr.e Nebenbedingungen erweitert werden müssen. Ebenso kann es sein, dass es relevante Konventionen gibt, z. B. dass immer der größte Koalitionspartner den Regierungschef stellt unabhängig von alternativ möglichen Koalitionen.
Die kooperative S. kann auch dazu verwendet werden, Verhandlungslösungen zu bestimmen, die plausible oder wünschenswerte Eigenschaften aufweisen. So ist die Nash-Lösung, nicht zu verwechseln mit dem Nash-Gleichgewicht der nichtkooperativen S., Pareto-optimal und unabhängig von irrelevanten Alternativen, von der Identität der Akteure sowie gegenüber positiven Lineartransformationen. Unter diesen Voraussetzungen gibt es eine eindeutige Lösung, die das Nash-Produkt maximiert, also das Produkt des zusätzlichen Nutzens durch die Verhandlungslösung für jeden Verhandlungspartner im Vergleich zum Konfliktpunkt.
2. Nichtkooperative Spieltheorie
Die nichtkooperative S. ist allg.er als die kooperative S., da jeweils die einzelnen Akteure betrachtet werden. Selbst wenn eine Koalition für eine Partei besser ist, muss das nicht für jedes ihrer Mitglieder gelten. Zugl. ergeben sich die kooperativen Lösungen als Spezialfall der nichtkooperativen S. mit entspr.en Nebenbedingungen wie der extern abgesicherten Durchsetzbarkeit von Vereinbarungen. Andernfalls müssen Vereinbarungen selbstdurchsetzend sein, also auch ex post im individuellen Interesse aller Beteiligten bleiben.
Die ersten Lösungskonzepte der (nichtkooperativen) S. wie die Maximin-Regel (man maximiert das Minimum, welches man auf jeden Fall bekommt) gab es für Zwei-Personen-Nullsummenspiele, bei denen die eine Seite genau das verliert, was die andere gewinnt. Dagegen ist das Nash-Gleichgewicht ein ganz allg. anwendbares Lösungskonzept für alle nichtkooperativen Spiele. Wechselseitig beste Antworten bilden ein Nash-Gleichgewicht, was bedeutet, dass sich kein Spieler durch Wechsel seiner Strategie bzw. Handlungsalternative besserstellen kann gegeben die Strategien aller anderen Spieler. In reinen Strategien, bei denen immer eine der Handlungsoptionen durchgängig gewählt wird, muss es nicht immer ein Nash-Gleichgewicht geben. In gemischten Strategien, bei denen mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten eine der Handlungen ausgelost wird, gibt es hingegen immer mindestens ein Nash-Gleichgewicht. Es kann umgekehrt zu dem Problem kommen, dass es zwei, mehrere oder sogar unendlich viele Nash-Gleichgewichte gibt, aus denen dann eines von allen Spielern ausgewählt werden muss, häufig ohne Kommunikation zwischen den Spielern. Deshalb wurden verschiedene Verfeinerungen des Gleichgewichtskonzepts entwickelt, z. B. das teilspielperfekte Nash-Gleichgewicht. Dieses setzt bei Spielen über mehrere Runden in jeder möglichen Runde und in Teilmengen der Runden ein Nash-Gleichgewicht voraus und nicht nur im gesamten Spiel. Dadurch werden u. a. unplausible Drohungen ausgeschlossen.
Ein anderes Problem besteht darin, dass Nash-Gleichgewichte nicht Pareto-optimal sein müssen. Individuelle und kollektive Rationalität geraten dann in Konflikt zueinander. Alle könnten davon profitieren, nicht ein solches Gleichgewicht zu spielen. Das berühmteste Spiel mit nur einem ineffizienten Gleichgewicht ist das extra so konstruierte Gefangenendilemma. Nicht zu kooperieren, ist hier für jeden die dominante Strategie, obwohl eine Kooperation von allen für alle besser wäre. Kollektivgutprobleme sind entspr.e Dilemmata, die relativ häufig vorkommen. Durchsetzbare Vereinbarungen und andere Veränderungen des Spiels sind Auswege. Potentiell unendliche Wiederholungen des Gefangenendilemmas können auch helfen, da unkooperatives Verhalten bestraft werden kann. Bei nur endlicher Wiederholung ist jedoch ein solches Bestrafen individuell nicht rational, da die letzte Runde einem einfachen, nicht wiederholten Gefangenendilemma entspricht, in dem Kooperieren nicht rational ist, was durch Rückwärtsinduktion auch für alle Runden davor gilt.
In der S. sind viele Arten von Spielen differenziert worden. Erwähnenswert ist hier noch der Informationsstand. Spiele mit vollständiger Information sind solche, bei denen jeder Spieler die möglichen Strategien und Auszahlungen bzw. Nutzenfunktionen von allen Spielern kennt. Bei Spielen mit perfekten Informationen kennt jeder zusätzlich noch alle bisherigen Spielzüge. Schach ist z. B. ein Spiel mit perfekten Informationen, Poker ein Spiel mit vollständigen, aber imperfekten Informationen. Bei unvollständigen Informationen können z. B. Wahrscheinlichkeitsverteilungen über verschiedene Spielertypen bekannt sein, die ggf. im Laufe des Spiels angepasst werden können.
3. Evolutionäre Spieltheorie
Die evolutionäre S. setzt bei verschiedenen Spielertypen an, die sich jedoch nicht (zwingend) rational verhalten, sondern eine bestimmte Strategie oder Strategiekombination verfolgen. Wenn sie damit erfolgreich sind, vermehren sie sich, bei Misserfolg in Form niedriger Auszahlungen geht ihre Verbreitung zurück. Damit lassen sich biologische Selektionsprozesse (Evolution) modellieren, aber auch das Lernverhalten von nicht vollständig rationalen Menschen, Institutionen und Computern. Interessanterweise lässt sich sogar zeigen, dass vollständige Rationalität i. S. d. reinen S. evolutionär nicht optimal bzw. stabil ist. Definitionsgemäß versucht der rationale Spieler, seinen Nutzen zu maximieren. In einer entscheidungstheoretischen Situation ohne andere Spieler ist er damit sehr erfolgreich. Andere Spieler können das jedoch ausnutzen, wenn sie z. B. Drohstrategien anwenden, da der Klügere immer nachgibt. Ein seinerseits vollständig rationaler Spieler kann nicht glaubwürdig drohen, wenn die Umsetzung einer Drohung ihn später mehr kostet als nutzt.
Welcher Spielertyp am erfolgreichsten ist, hängt von den Mitspielern und deren Typen ab. Ein evolutionäres Gleichgewicht kann dementsprechend mehrere verschiedene Spielertypen beinhalten, z. B. gleichzeitig friedliche Tauben und aggressive Falken. Nur Tauben oder Pazifisten bilden ein Gleichgewicht, welches jedoch instabil ist und von nur einem Falken bzw. Gewalttäter zerstört werden kann. Schließlich kann es bei Existenz verschiedener Spielertypen rational sein, sich als ein anderer Typ auszugeben. Insb. der vollständig rationale Spieler kann dann vortäuschen, nicht vollständig rational, sondern z. B. rachsüchtig, bes. kooperativ oder stets ehrlich zu sein. Selbst wenn es nur rationale Spieler gäbe, könnte man durch scheinbar irrationales Verhalten die Annahme zerstören, dass es so ist. Ein wirklich rationaler Spieler sollte das auch tun, wenn es vorteilhaft ist, statt zwingend den Modellvorstellungen von Rationalität zu folgen.
4. Experimentelle Spieltheorie
In der experimentellen S. wird versucht, das Verhalten von realen Menschen in Spielsituationen zu beobachten und zu analysieren. Das geschieht meistens in Form von (Labor-)Experimenten, weil in der realen Wirtschaft und Gesellschaft die Situationen meistens zu komplex sind und sich auch nicht zu Forschungszwecken variieren lassen. In der Praxis ist es tatsächlich ein großes Problem zu bestimmen, welches Spiel denn gerade genau gespielt wird und ob alle Beteiligten das tatsächlich ebenso sehen. Selbst in kontrollierten Experimenten kann es dazu kommen, dass die Spieler das Spiel nicht oder anders verstehen als die experimentierenden Wissenschaftler. Verschärft wird die Situation dadurch, dass gelegentlich Forscher die Teilnehmer über die Spielsituation täuschen, was nicht nur für sich genommen problematisch ist, sondern auch auf alle anderen Experimente ausstrahlt, bei denen die Teilnehmer nicht sicher sein können, dass die angegebenen Regeln und Auszahlungsversprechen wirklich gelten.
Das wichtigste, wenn auch nicht unbedingt überraschende, empirische Ergebnis ist, dass sich reale Menschen nicht nur häufig anders verhalten als rein rationale Spieler in Modellen, sondern nahezu jedes mögliche Verhalten tatsächlich vorkommt. Eine einheitliche Theorie, die jedes individuelle menschliche Verhalten komplett erklärt, ist vermutlich nicht möglich. Dagegen lassen sich menschliche Verhaltensregelmäßigkeiten aufspüren, die über reine Zufallsschwankungen hinausgehen. Bspw. wird die in Modellen rein rationalen Verhaltens angenommene Rückwärtsinduktion meistens nicht vollständig wirksam, sodass entgegen der entspr. theoretischen Prognose auch in endlich oft wiederholten Gefangenendilemmata häufig lange kooperiert wird, allerdings meist nicht in den letzten Runden. Ein rationaler Spieler wird dieses Wissen berücksichtigen.
Literatur
K. Binmore: Game Theory, 2008 • R. J. Aumann/M. Maschler: Repeated Games With Incomplete Information, 1995 • D. Fudenberg/J. Tirole: Game Theory, 1991 • D. M. Kreps: Game Theory and Economic Modelling, 1990 • J. C. Harsanyi/R. Selten: A General Theory of Equilibrium Selection in Games, 1988 • A. Rubinstein: Perfect Equilibrium in a Bargaining Model, in: EC 50/1 (1982), 97–109 • J. M. Smith: Evolution and the Theory of Games, 1982 • R. Axelrod/W. Hamilton: The Evolution of Cooperation, in: Science 211/4489 (1981), 1390–1396 • R. Selten: The Chain Store Paradox, in: TD 9/2 (1978), 127–159 • J. W. Friedman: Non-Cooperative Equilibrium for Supergames, in: RES 38/1 (1971), 1–12 • N. Howard: Paradoxes of Rationality. Theory of Metagames and Political Behavior, 1971 • J. C. Harsanyi: Games With Incomplete Information Played by „Bayesian“ Players, I-III. Part I. The Basic Model, in: ManSci 14/3 (1967), 159–182 • R. J. Aumann/M. Maschler: The Bargaining Set for Cooperative Games, in: M. Dresher/L. S. Shapley/A. W. Tucker (Hg.): Advances in Game Theory, 1964, 443–476 • J. C. Harsanyi: Bargaining in Ignorance of the Opponent’s Utility Function, in: JCR 6/1 (1962), 29–38 • T. C. Schelling: The Strategy of Conflict, 1960 • R. J. Aumann: Acceptable Points in General Cooperative n-Person Games, in: A. W. Tucker/R. D. Luce (Hg.): Contributions to the Theory of Games, Bd. 4, 1959, 287–324 • R. D. Luce/H. Raiffa: Games and Decisions, 1957 • J. F. Nash: Two-Person Cooperative Games, in: EC 21/1 (1953), 128–140 • L. S. Shapley: A Value for n-Person Games, in: H. W. Kuhn/A. W. Tucker (Hg.): Contributions to the Theory of Games, Bd. 2, 1953, 307–317 • J. F. Nash: Non-Cooperative Games, in: Annals of Mathematics 54/2 (1951), 286–295 • Ders.: The Bargaining Problem, in: EC 18/2 (1950), 155–162 • Ders.: Equilibrium Points in n-Person Games, in: PNAS 36/1 (1950), 48 f. • J. von Neumann/O. Morgenstern: Theory of Games and Economic Behavior, 1944 • J. von Neumann: Zur Theorie der Gesellschaftsspiele, in: Mathematische Annalen 100/1 (1928), 295–320 • E. Zermelo: Über eine Anwendung der Mengenlehre auf die Theorie des Schachspiels, in: E. W. Hobson/A. E. H. Love (Hg.): Proceedings of the 5th International Congress of Mathematicians, Bd. 2, 1913, 501–504 • A. A. Cournot: Recherches sur les Principes Mathématiques de la Théorie des Richesses, 1838.
Empfohlene Zitierweise
A. Dilger: Spieltheorie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Spieltheorie (abgerufen: 25.11.2024)