Werturteil
Das Wort „W.“ setzt sich aus den beiden Wörtern „Wert“ und „Urteil“ zusammen. Ein W. ist ein Urteil, das durch die Bezugnahme auf einen Wert oder durch die Stellungnahme zu einem solchen zustande kommt. Das Wort Wert hat zum einen eine bloß empirische Bedeutung, so wenn wir von einem Wertbrief sprechen, zum anderen ist es normativ, wenn wir uns mit Wertachtung begegnen. Das Wort verweist auf eine gute Qualität, die ein Gegenstand hat, dem dann gewöhnlich auch ein Preis entspricht. Immanuel Kant unterscheidet von dieser Ebene der Waren den unbedingten Wert, der dem Menschen und seiner Würde zukommt.
Die zweifache Bedeutung von empirisch und normativ findet sich in dem entspr.en Gebrauch der Begriffe W., Wertfreiheit und W.s-Freiheit bei Max Weber. V. a. im Artikel „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904) erklärt und rechtfertigt M. Weber die Angemessenheit dieser Begriffe für die Tauglichkeit seiner wissenschaftlichen Zwecke. Die Soziologie und insb. die Religionssoziologie, die M. Weber betreiben will, hat sich zur Aufgabe gesetzt, die kausalen Wirkungen von ethischen und religiösen Überzeugungen auf das Wirtschaftsleben zu untersuchen. Eine Wissenschaft vom Kulturleben ist möglich, weil es in diesem beobachtbare und fixierbare objektive Daten gibt, die logisch, mathematisch und sachlich geordnet werden können. Neben der ethischen Reflexion und Begründung ethischer Werte gibt es deren genaue Unterscheidung in dem dem Beobachtungsinteresse zugänglichen Erfahrungsmaterial. Mit der Möglichkeit der Unterscheidung und Klassifizierung von Werten setzt M. Weber somit an der Alltagssprache und deren Verwendung an. Die Klärung von Wertbedeutungen ermöglicht kausale Wirkungen im Handeln (Handeln, Handlung) der Menschen festzustellen: „Weit entfernt [davon] also, daß vom Standpunkt der Forderung der ‚Wertfreiheit‘ empirischer Erörterungen aus Diskussionen von Wertungen steril oder gar sinnlos wären, ist gerade die Erkenntnis dieses ihres Sinnes Voraussetzung aller nützlichen Erörterungen dieser Art“ (Weber 1922: 465). Mit der Forderung der W.s-Freiheit zielt M. Weber auf die Trennung von ethischem Engagement des Wissenschaftlers von den festgestellten Fakten. Er verbietet eine fanatische oder betrügerische Polemik, die sich auf falsche Fakten, auf Fake News, stützt. Der Mensch ist für die Wiedergabe der objektiven Wirklichkeit (Realität) verantwortlich. Er kann Werte verstehen und sie wahrheitsgemäß wiedergeben. In dem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ (1919) weist M. Weber darauf hin, dass die Wissenschaft keine Werte erzeugen kann. Sie kann keine Antworten auf die Fragen geben, „Was sollen wir tun?“ oder „Wie sollen wir leben?“. M. Webers Pochen auf die Wertfreiheit ist v. a. dann wichtig, wenn Soziologen, wie damals Gustav Schmoller, eindeutige und bestreitbare Folgerungen aus empirischen Beobachtungen zogen. M. Weber ist bei seinen Untersuchungen der ostelbischen Landarbeiter klar geworden, dass empirische Befunde nicht nur nationale Schlussfolgerungen, sondern auch soziale und ökonomische erlauben. Die aus den empirischen Tatsachen zu ziehenden Folgerungen bedürfen einer offenen Abwägung aus verschiedenen Gesichtspunkten. Heino Heinrich Nau bemerkt: „Nur bei absoluter ‚Eindeutigkeit‘ vorgegebener politischer Maßstäbe kommt ihre spezifisch technische Funktion zum Tragen, indem sie [die Wirtschaftswissenschaft, Anmerkung des Autors] nämlich aufweist, welche Mittel zum Erreichen des in Frage stehenden Ziels geeignet sind“ (Nau 1996: 41). Darüber hinaus werden die Fragen, die die Gegenwart mit ihren wechselnden Wertideen und Interessen an das historische Material stellt, auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Für eine Wissenschaft, wie sie M. Weber vorschwebt, werden Werte historisch überliefert. Warum hat deren historische Gegebenheit M. Weber nicht ausgereicht? Warum brauchte er den Rückgriff auf die Wertbeziehung und ihre transzendentale Funktion bei Heinrich Rickert? Die Kulturbedeutung von Wert ist für M. Weber dessen maßgebliche Bestimmung. Kultur ist aber in der damaligen Zeit der säkularisierte Ausdruck für menschliche Werte, die einmal heilig waren. Kultur und Natur sind antithetische Begriffe, bei denen die eine Seite über die andere herrscht. In vitalistischen Strömungen, die von den Schriften Charles Darwins, Herbert Spencers und später Friedrich Nietzsches gespeist wurden, war die Evolution der Natur der entscheidende Bestimmungsfaktor der Kultur. Auch Karl Marx schrieb im Vorwort des „Kapitals“ (1867) vom Prozess der Naturgeschichte, der sich die ökonomische Formierung der Gesellschaft verdanke. M. Weber griff mit H. Rickerts kritischer Erkenntnistheorie eine „gereinigte“ metaphysische Theorie auf, die in gewisser Weise eine Synthese aus den Positionen von I. Kant und Johann Gottlieb Fichte darstellte. Das Urteilen des Menschen ist ein Stellungnehmen, in dem sich dieser seiner Wahrheitsverpflichtung (Wahrheit) unterstellt und aus dieser Verpflichtung heraus dem sprachlich erfassten Wert objektive Geltung gibt. Der Sinn jedes Urteils besteht in der Anerkennung des mit der Urteilsnotwendigkeit verbundenen Wertes, und wir drücken dies am besten dadurch aus, dass wir diese als eine „Notwendigkeit des Sollens“ bezeichnen. Das individuelle Subjekt ist nur unter der Bedingung Teil des Objektfeldes, dass es von einem Standpunkt aus gewusst wird, der als Bewusstsein überhaupt prinzipiell außerhalb des Objektfeldes liegt. Für M. Weber sollte die Aufnahme der Theorie H. Rickerts, die ihn gewiss nicht in allen Verästelungen interessierte, v. a. jene evolutionistischen Theorien abwehren, die eine Vervollkommnung der Natur einfach dem Lauf der Natur überlassen wollten. M. Weber hat sich zwar als „religiös unmusikalisch“ (Weber 1994: 70) bezeichnet, aber er war an der Religion interessiert, stellte sie doch ein ganz wesentliches Gegenstandsfeld seiner Religionssoziologie dar.
M. Webers Haltung zur W.s-Freiheit ist selbst eine Werthaltung: „Ich muss dabei bleiben, daß ich imstande bin, wissenschaftliche Zusammenhänge darzulegen ohne Werteurteile, und ich bin nur auf den Teil meiner Lehrtätigkeit stolz, in dem ich diesem Ideal treu geblieben bin“ (Weber 2017: 90). M. Webers Prinzip, keine sozialpolitischen oder religiösen Ziele mit seinen wissenschaftlichen Ergebnissen zu vermischen, versteht sich vor dem Hintergrund extrem linker oder rechter Indoktrination in der damaligen Universitätslandschaft, was auch gegen die Aufgabe der staatlichen Universitäten verstieß.
M. Webers W.s-Freiheit impliziert ein Verbot des Einmischens persönlicher ethischer Prinzipien (Ethik) in die soziologischen Verallgemeinerungen. Die objektive soziologische Beobachtungshaltung zeigt sich in der umfassenden Kategorisierung gesellschaftlich-politischer Ereignisse. Alle Ereignisse, bes. solche, die keine eindeutig guten Folgen haben, lassen sich aus den Gesichtspunkten der Gesinnungs- und der Verantwortungsethik beurteilen. Der Gesinnungsethiker handelt nur nach einem unbedingten inneren moralischen Prinzip. Mit dem Spruch: „‚Der Christ handelt recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘“ (Weber 1922: 467), illustriert M. Weber diese scheinbar religiöse Haltung, die fanatisch werden kann. Der Verantwortungsethiker übernimmt die Verantwortung für die Folgen seines Handelns. In der Gegenwart überwiegen in der Politik Beispiele von Gesinnungsethik. Extreme Beispiele sind die Anschläge fundamentalistisch-islamisch motivierter Terroristen (Terrorismus). Ein Beispiel für die Verantwortungsethik ist die unbeugsame Haltung des von M. Weber beeinflussten Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der die drohende Erschießung der Geisel Hanns Martin Schleyer hinnahm und die Freilassung der in Stammheim gefangenen RAF-Mitglieder verhinderte. M. Weber ist in seinen politischen Stellungnahmen meistens Prinzipien der Verantwortungsethik gefolgt. Die Religion ist für ihn eine auch in seiner Zeit lebendige Kraft: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf“ (Weber 1919: 28).
Als Forscher und Wissenschaftler hat M. Weber richtungweisende Analysen durch die Trennung und Verbindung der Ebenen der wissenschaftlichen Wertfreiheit und lebensweltlichen und geschichtlichen Wertgebundenheit vorgelegt. Als ein Lehrer der Deutschen, wie ihn Wilhelm Hennis gesehen hat, ist M. Weber mit seinem nüchternen und klaren Blick auf die Wirklichkeit für die Gegenwart ein Vorbild. Während Platon versuchte, Tyrannen umzuerziehen, hat M. Weber mit seiner Kritik am deutschen Kaiser und den revolutionären Räten von München mit ihrer demagogischen Moralisierung der Politik tyrannische Attitüden kritisiert. M. Weber wird in der angelsächsischen Welt verengt als Theoretiker des Wirtschaftsliberalismus (Liberalismus) gelesen. Persönlich und in seinem politischen Wirken ging es ihm – wie er es 1909 und öfter geäußert hat – um mehr: „um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale“ (Weber 1924: 414).
Literatur
M. Weber: Verhandlungen des III. Deutschen Hochschullehrtages zu Leipzig am 12. und 13. Oktober 1909, in: J. Dreijmanis (Hg.): Max Webers vollständige Schriften zu wissenschaftlichen und politischen Berufen, 2017, 88–91 • P. Ghosh: Max Weber in Context. Essays in the History of German Ideas c. 1870–1930, 2016 • J. Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, 2014 • H. H. Nau: Der Werturteilsstreit. Die Äußerungen zur Werturteilsdiskussion im Ausschuss des Vereins für Sozialpolitik (1913), 1996 • M. Weber: Briefe 1901–1910, in: MWG, Abt. II/Bd. 6, 1994 • W. Hennis: Max Webers Fragestellung, 1987 • K.-H. Nusser: Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft. M. Webers philosophische Fundierung der Soziologie und der Kulturwissenschaften, 1986 • M. Weber: Gesammelte Politische Schriften, 1980 • L. Strauss: Der Unterschied zwischen Tatsachen und Werten, in: H. Albert/E. Topitsch (Hg.): Werturteilsstreit, 1971, 73–91 • M. Weber: Debattenbeitrag in Wien 1909, in: Marianne Weber (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 1924, 414 • Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922 • Ders.: Wissenschaft als Beruf, 1919 • Ders.: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, 1904 • H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896 • Ders.: Der Gegenstand der Erkenntnis, 1892 • K. Marx: Das Kapital, 1867.
Empfohlene Zitierweise
K.-H. Nusser: Werturteil, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Werturteil (abgerufen: 23.11.2024)