Antworten auf Herausforderungen der Gegenwart - Vorwort
Recht, Wirtschaft, Gesellschaft – im Untertitel des Staatslexikons wird das breite Spektrum sichtbar, in dem dieses Werk nicht nur informieren, sondern vor allem auch Orientierung stiften will. Heute sind Informationen relativ leicht und verlässlich erreichbar, soweit Interesse an Fakten besteht. Dagegen mangelt es an problemorientierten Analysen, die uns die Komplexität unserer Gegenwart verständlich und – wo nötig und angemessen – auch interdisziplinär und multiperspektivisch erschließen helfen. Solche Analysen sind ein Fundament eigener Urteilsbildung, diese wiederum darf als Voraussetzung individueller Lebensgestaltung wie auch – ideell und normativ noch immer – als Kernelement eines gelingenden Diskurses in der Demokratie gelten. Stets fertige und einfache Antworten wirken exklusiv. Fragende Suche nach verantwortbaren Problemlösungen wirkt dagegen inklusiv. Wer fragt, stellt sich auch selbst in Frage, ist offen für Fakten und Interpretationen und davor gefeit, absolute Wahrheit für sich in Anspruch zu nehmen. Wenn das vorliegende Werk neben der fachwissenschaftlichen Kompetenz in der einhundertfünfzigjährigen Tradition des Staatslexikons auch christlicher Wertorientierung verpflichtet bleibt, versteht sich dies in ethischen Fragen als offener Beitrag zur gesellschaftlichen und politischen Pluralität. In den bisherigen sieben Auflagen des Staatslexikons seit 1889 spiegelte sich immer auch die Geschichte ihrer Zeit. Zu Beginn, in Reaktion auf den Kulturkampf, wurde die christliche Rechts-, Staats- und Wirtschaftsauffassung begründet und ins Gespräch gebracht, wurden insbesondere auch die Grenzen staatlicher Macht aufgewiesen. Die fünfte Auflage (1926 ff.) vermittelte den Wandel von der Monarchie zur Weimarer Republik, zu Kriegsschrecken und Niederlage, Wirtschaftskatastrophe und zum kulturellen Umbruch der 1920er Jahre. In der sechsten Auflage (1957 ff.) ging es um die Bewältigung des totalitären Nationalsozialismus und seiner Folgen, um die deutsche Teilung, den Wiederaufbau, den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandel in der Bundesrepublik und um die neuen Konstellationen und Prozesse in der internationalen und europäischen Politik. Die siebte Auflage (1855 ff.) stand unter dem Eindruck dieser klassischen Themen und der in drei Jahrzehnten erfolgten Herausprägung neuer: die großen Fragen nach Staat und Recht, wirtschaftlicher Ordnung und sozialer Gerechtigkeit, sozialem Wandel, aber verstärkt nun auch die Diskussion der ethischen Implikationen stürmischer gesellschaftlicher, nationaler, internationaler – speziell europäischer – Entwicklung: damals schon Energie, Umwelt, Medien, Entwicklungspolitik, Sozialstaat, Ehe und Familie. Evident sind die weltanschaulichen Implikationen, denen nicht reduktionistisch, sondern nur fundiert begegnet werden kann. Orientierungshilfe in Sinn- und Wertefragen, Berücksichtigung der sozialwissenschaftlichen Aspekte sowie der weiter intensivierten Internationalisierung wurden drängend. Weitere drei Jahrzehnte später, im 21. Jahrhundert, sind die Herausforderungen für diese Neuauflage nicht unähnlich. Nach wie vor stellen sich die großen Grundsatzfragen. Aber sie treffen heute selbst im Grundsätzlichen auf andere, neue und kontroverse Antworten. Die staatsrechtliche Diskussion um die Menschenwürde nach Artikel 1 GG ist dafür ein vielsagendes Beispiel. Der im Umfeld der Vorauflage konstatierte und in ihr in Ansätzen bereits behandelte Wertewandel ist in der Gesellschaft zur kaum mehr hinterfragten Selbstverständlichkeit geworden – mit unausweichlichen Konsequenzen für Rechts-, Wirtschafts-, Politik- und Gesellschaftswissenschaft sowie für sozialethische, philosophische, theologische und historische Interpretationen. Die Welt hat sich grundsätzlich verändert:
- Politisch besonders relevant sind das Ende des Kalten Krieges mit seinen geopolitischen Folgen samt neuerer revisionistischer Tendenzen zur Wiederbelebung überkommener Konflikte und zur Schwächung bewährter Bündnisse; die Wiedervereinigung; die Erweiterung und Vertiefung der EU und ihre sich abzeichnenden Krisen, der grenzenlose Terrorismus, die sich dynamisierende Migration.
- Gesellschaftlich auffällig sind vor allem: fortgesetzter Wertewandel, verstärkte Individualisierung und Pluralisierung (mit politischen Wirkungen); Säkularisierung einerseits, Etablierung des Islam anderseits; Integrationsschwächen nicht nur, aber besonders unter den Zugewanderten aus anderen Kulturkreisen; demographischer Wandel und damit eine alternde Gesellschaft; Liberalisierung der Lebensformen.
- Wirtschaftlich setzen sich die Globalisierungsprozesse fort, begleitet von weiterer Differenzierung der Konsumpräferenzen sowie kontinuierlichen sozialstaatlichen Leistungserwartungen, überwölbt von der anhaltenden Finanzkrise der EU.
- Medien- und Kommunikationssystem, kommunikatives Verhalten insgesamt, sind durch die Digitalisierung revolutioniert worden – ein Prozess in voller Bewegung mit noch keineswegs verlässlich abschätzbaren Konsequenzen für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft.
Behandelt werden diese – notgedrungen höchst unvollständig angedeuteten – Prozesse nicht nur von den mit ihnen primär vertrauten Kerndisziplinen. Gerade die vielfach beschworene Komplexität der Probleme und ihre Vernetzungen, nicht zuletzt natürlich die normativen Implikationen, erfordern zu ihrem angemessenen Verständnis oft nicht nur fachliche Informationen, sondern zusätzlich philosophische, sozialethische, historische, pädagogische und naturwissenschaftliche Interventionen. Wertorientierung stützte sich traditionell auch auf Hilfestellung durch die Religionen, die heute durch ihre nachlassende Bindekraft in der offenen, liberalen Gesellschaft dafür nur noch eingeschränkt wirksam sind. Im Pluralismus führen legitimerweise alle Gruppierungen eine Stimme mit dem Anspruch auf Mitgestaltung der Realität. Insofern sind hier auch theologische Positionen zu behandeln, die für das Verständnis von Staat und Gesellschaft unmittelbare Bedeutung besitzen. Der Erarbeitungsprozess dieser Neuauflage ist von dem Bemühen getragen, im Sinne der historischen Verdienste des Staatslexikons nun den neuen Herausforderungen in ihrer Vielschichtigkeit gerecht zu werden. Paul Mikat gab als Präsident der Görres-Gesellschaft den Anstoß zu dieser Neuauflage des Staatslexikons, den sein Nachfolger im Amt Wolfgang Bergsdorf weiter- und organisatorischer Umsetzung zuführte; ihnen und zahlreichen weiteren Unterstützern gebührt größter Dank, allen voran den Mitgliedern der Fachredaktion.
Tübingen und Passau, Frühjahr 2017
Bernd Engler, Präsident der Görres-Gesellschaft • Heinrich Oberreuter, Redaktionsleiter