Gentechnik
I. Im Umbruch und gesellschaftlichen Diskurs
Abschnitt druckenIm Hinblick auf die G. lassen sich drei Grundrichtungen unterscheiden:
a) die grüne G., die sich mit der Veränderung von Pflanzen und der Nahrungsmittelproduktion beschäftigt,
b) die rote G. mit ihrem Schwerpunkt in der medizinischen Anwendung und
c) die weiße G. mit Schwerpunkt in der industriellen Produktion von Medikamenten, Substanzen und Industrierohstoffen bis hin zum Biokraftstoff durch transgene Mikroorganismen.
Insb. die grüne G. steht sowohl innerwissenschaftlich wie gesellschaftlich im Zentrum jahrzehntelanger Kontroversen. In der Gesellschaft prallen verschiedene weltanschauliche Denkformen aufeinander. Wissenschaftstheoretisch kann sie als Ausdruck des klassischen Wissenschaftsethos (Freiheit der Wissenschaft und Sicherung ihrer methodologischen Standards), aber auch i. S. d. Wissenssoziologie als Forschungspraxis mit gesellschaftlich-ökonomischen Einbettung (Folgen) verstanden werden. Insb. die zweite Perspektive wird häufig als Wissenschaftsethik bezeichnet. Das Nebeneinander dieser beiden natur- und geisteswissenschaftlich orientierten Ansätze in der Wissenschaftsphilosophie und -ethik, mit denen sich i. d. R. sehr unterschiedliche Bewertungen verbinden, hängt nicht zuletzt mit einer inneren Strukturveränderung der Naturwissenschaften selbst zusammen, nämlich mit dem Übergang von den experimentellen Naturwissenschaften zur technologisierten Forschung und Wissenschaft, welche neben den Forschungsergebnissen auch den Forschungsprozess selbst in Innovationskulturen (Innovation) wie deren industrielle Anwendung im Hinblick auf mögliche Folgen auf Natur und Gesellschaft analysieren muss.
1. Gen, Genetik, Züchtungspraxis und Gentechnologie
Der Begriff „Gen“ wird auch im Kontext biologischer Wissenschaft nicht eindeutig, sondern als ein natürlicher, materialer, funktionaler oder strukturaler Gegenstand verstanden. Der Begriff „Genetik“ umfasst also Vererbungslehre, Populationsgenetik, mathematische, evolutive und ökologische Genetik. Man kann wissenschaftstheoretisch Genetik als eine aus der Züchtungspraxis konstituierte biologische Wissenschaft begreifen. Allerdings dürfte es nicht gelingen, die aus der G. generierte synthetische Biologie ebenfalls als aus der Züchtungspraxis hervorgegangen zu rekonstruieren. Hier greift das Leitbild der Bioingenieurskunst. Die Unterschiede zwischen technischer und technologischer Praxis, also zwischen Züchtung und Gentechnologie, bestehen insgesamt darin, dass Laborverfahren dazwischengeschaltet sind. Diese führen zu einer viel besseren Abklärung von biologischen Prozessen im Detail und im Kausalparadigma, nicht aber von Gesamtzusammenhängen. Dies unterscheidet die Züchtungspraxis auf dem Bauernhof von der Züchtungsforschung im Labor, wobei eigentlich der moderne Saatzuchtbetrieb vom Universitäts- bzw. MPI-Labor unterschieden werden muss. Züchtung ist eine lang ausgeübte technische Praxis, wobei nahezu 12 000 Jahre technisches Umgangswissen die Grundlage gebildet haben. Erst gegen Mitte des 20. Jh. gelang es, die wissenschaftlichen Grundlagen für diese technische Praxis zu entschlüsseln. Zugl. bildete sich mit der synthetischen Biologie ein neuer Typ technischen Handelns aus, der die Züchtungspraxis radikal veränderte. Populationen bestehen aus genetisch verschiedenen Individuen, so dass allein schon durch die Fortpflanzung immer wieder neue Varianten von Organismen erzeugt werden.
In der natürlichen Zuchtwahl wird die Rolle des Züchters von den Lebensbedingungen des jeweiligen Organismus übernommen, wobei der Terminus Lebensbedingungen bei Charles Darwin doppeldeutig einmal als wirkende Kraft, einmal als relationaler Ausdruck für die Beziehungen des Organismus zur Umwelt verwendet wird. In der Pflanzenzucht vollendet die Gentechnologie die gegenseitige Durchdringung der beiden Bereiche Pflanzenzüchtung und akademische Züchtungsforschung. Sie vollzog sich in vier Schritten. Der erste wurde von Gregor Mendel unternommen und um 1900 allg. bekannt. Nach G. Mendel begann die Verwissenschaftlichung des praktischen Züchtungsprozesses. Die zweite große Phase benutzte die Verfahren der Mikromutationen und der Polyploidisierung etwa ab 1927. Man könnte sie als konventionelle Mutagenese bezeichnen. Die dritte Entwicklungsstufe setzte durch somaklonale Variation und Protoplastenfusion an einzelnen Zellen und ihrer Manipulation an, bevor ab 1973 mit der G. der Gentransfer und die gezielte Mutagenese begann.
2. Gentechnologie in der Pflanzenzucht, transgen nachwachsende Rohstoffe und industrialisierte Nahrungsmittelproduktion
Weltweit verbreitete transgene Pflanzen sind v. a. Soja, Mais, Baumwolle und Raps; in Europa ist außer Spanien die Forschung zur grünen Gentechnologie weitgehend zum Erliegen gekommen. Deutschlands Felder sind gentechnikfrei und die Freilandforschung zur grünen G. findet hier nicht statt. Affekte gegen Großunternehmen und Ideologien, die in Dichotomien denken wie natürlich/ unnatürlich, welche parallelisiert werden mit gesund/ ungesund, bestimmen die öffentliche Wahrnehmung der grünen G. in Deutschland und Europa. Einer der wesentlichen Gründe dafür ist, dass sich die grüne G. heute nicht mehr in kleinen Saatgutfirmen, sondern im Horizont der chemischen Industrie entwickelt. Allerdings gibt es auch kleine universitäre Institute und Startups. Früher wurde auch kritisiert, dass Teile der Genvektoren in den transgenen Tieren zurückblieben und aus Mikroorganismen stammten. Dies ist allerdings kein vernünftiger Einwand, denn Gensequenzen von Bakterien werden und wurden im Verlauf der Evolution in andere Lebensbereiche ständig übertragen. Die Integration von viralem und bakteriellem Material in höhere Organismen war auch schon vor der G. ein normaler evolutionärer Prozess. Zudem trifft die Möglichkeit des Zurückbleibens von Genvektoren auf die modernen Verfahren der Genomeditierung nicht zu.
Die G. überwindet Begrenzungen, die klassische Kreuzungsmethoden innerhalb einer Art aufwiesen. Warum das aber ein Nachteil sein soll, ist von sich aus nicht einsichtig. Bisher wurden ungefähr 250 Gene oder Pflanzeneigenschaften untersucht. Die Entwicklung neuer Eigenschaften kostet durchschnittlich ca. 80–100 Mio. Euro, die Umweltverträglichkeitsprüfung nicht eingerechnet. Der Einsatz der G. als Methode ist nur unter den homogenen Bedingungen industrialisierter Landwirtschaft (Land- und Forstwirtschaft) möglich, könnte aber bioverträglicher werden. Hinzu kommt, dass die biologischen Zusammenhänge auf dem Feld noch wenig verstanden sind. Monsanto hat jedenfalls durch seine intransparente Kommunikation und mangelnde Rücksicht auf die Belange der Kleinbauern der grünen Gentechnologie sehr geschadet. Das Verhalten dieser Firma liegt aber keineswegs in der G. als Methode begründet, sondern in einer spezifischen Ausformung der Ökonomie und Interpretation des Patentrechts. Auch bei der Bewertung der G. in ihrem Einsatz in Schwellen- und Entwicklungsländern ist eine differenzierte Betrachtungsweise erforderlich. Wie die Bt-Baumwolle in Indien gezeigt hat, kann grüne G. auch für Kleinbauern interessant sein. Durch sie ist der Insektizideinsatz wesentlich verringert worden, und es konnten deutliche Ertragsvorteile für Kleinbauern erzielt werden. Ein Zusammenhang mit der Selbstmordrate indischer Kleinbauern ist, anders als vielfach in der Presse behauptet, nicht wahrscheinlich. Die grüne G. bietet in Entwicklungsländern für Kleinbauern also die Chance, ihre Einkommen deutlich zu verbessern.
Bei der Freisetzung transgener Nutzpflanzen sind insb. ökologische Aspekte zu beachten. Gefahrenpotenziale könnten entstehen, wenn die neu geschaffenen Pflanzenvarietäten sekundäre toxische Metaboliten oder ein toxisches Protein bilden. Zu berücksichtigen ist ferner, ob die transgenen Pflanzen nahe natürliche Verwandte haben. Dies ist in Europa bei den Nutzpflanzen weitgehend nicht der Fall. Andererseits zeigen verschiedene Studien, dass es bei bestimmten Varietäten in definierten Lebensräumen zu unbeabsichtigten Kreuzungen kommen kann. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Hirse in Afrika. Hier gibt es mittlerweile alle möglichen Schattierungen zwischen den urspr.en Wildtypformen und der im Ackerbau verwendeten ertragreicheren Zuchthirse. In diesem Bereich gibt es neue Modellvorstellungen für biologisches Containment durch Einsatz von nicht vermehrungsfähigem Saatgut. Von Landwirten wird dies als Eingriff in traditionelle Formen der Saatgutvermehrung interpretiert.
Das deutsche GenTG von 1990, in welchem Sicherheitsrichtlinien für gentechnische Experimente festgelegt wurden, erzeugte ein Bewertungsproblem der G. Da die Kompatibilität auch eines GVO (gentechnisch veränderten Organismus) mit der Umwelt vorab nicht leicht abzuschätzen ist, wird der Begriff der Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge in die Zweckbestimmung des GenTG aufgenommen. Außerdem müssen die möglichen Langzeitfolgen der neuen Technologie beachtet werden. Aufgrund der Grenzen der Determiniertheit evolutionärer Prozesse sind die Folgen natürlicher Entwicklungsprozesse wie herkömmlicher Züchtungsprozesse oder von GVOs schwierig zu prognostizieren. Die Novellierungen von 1993 und 2004 sprechen von einem höchstmöglichen Schutz von Mensch und Umwelt, und 2005 kommt noch der ethische Tierschutz hinzu. Diese Novellierungen tragen dem gewachsenen ökologischen Bewusstsein Rechnung. Im GenTG wird der Schutz der Natur (Naturschutz) zum ersten Mal zum Zweck des Gesetzes. Angesichts des dynamischen Schutzobjekts Natur gab es Definitionsschwierigkeiten mit bestimmten Modellannahmen (z. B. die bes. Kennzeichnungspflicht für GVOs, denn risikofrei sind weder natürliche, züchterische noch gentechnologische Erzeugungsweisen von Mutationen) bei der Risikobewertung i. S. d. Gefahrenabwehr. Eine der größten Schwierigkeiten war, dass es keine hinreichend klare naturwissenschaftliche Bestimmung des Naturbegriffs und seines Zusammenhanges i. S. d. Gesetzes gab. Es musste schließlich anerkannt werden, dass das zugrunde liegende Konzept der Natur selbst eine Konstruktionsleistung der Gesellschaft ist. Durch die neuen Methoden der Genomeditierung wird die Sonderbehandlung der GVOs noch weniger einsichtig, weil methodenspezifische Risiken der Erzeugung von GVOs (ungerichteter Gentransfer und Verbleib von Resten des Genvektors im GVO) wegfallen.
3. Transgene Nutz- und Versuchstiere
Im Hinblick auf evolutionär-ökologische Risiken wurde die Erzeugung transgener Tiere über Artschranken hinaus als ethisch erhebliches Problem eingestuft. Zum einen ist zumindest bei den höheren Tieren die Art durch Fortpflanzungsgemeinschaft definiert. Arten entstehen evolutionär gesehen über relativ kurze Zeiträume, nämlich in etwa 10 000 bis 15 000 Jahren. Doch obwohl der Mensch mit dem Hund über einen solchen Zeitraum züchterische Erfahrung besitzt, ist ihm die Züchtung einer neuen Art noch nicht gelungen. Zwar konnten Esel und Pferd zum Maultier gekreuzt werden, doch Maultiere sind nicht fortpflanzungsfähig, so dass von einer neuen Art nicht gesprochen zu werden vermag. Es wird daher nicht so leicht zur Entstehung neuer Arten, im Unterschied zu neuen Rassen, kommen. Artüberschreitender Gentransfer ist sittlich so lange unproblematisch, als es sich um die genetische Grundlage einzelner Merkmale handelt, die produzierten Tiere gesund und in ihrem Verhalten nicht gestört sind. Denn artüberschreitender Gentransfer beim Nutztier bedingt keine speziesübergreifende Änderung der Paarungsgemeinschaft. Auch ein transgenes Schwein bleibt ein Schwein, das sich allerdings aufgrund der genetischen Individualität von anderen Schweinen an vielen Genorten unterscheidet. Unterschieden werden muss hier die transspezifische Evolution, die in langen Zeiträumen zu entspr.en Divergenzen mit Bildung eigener Fortpflanzungsgemeinschaften führt und die intraspezifische Evolution mit der Bildung von Rassen. Der Gentransfer bewirkt keine transspezifischen Evolutionsschritte. Die Tatsache, dass beim Gentransfer Sequenzen von einer Paarungsgemeinschaft auf eine andere übertragen werden, führt zwar innerhalb der aufnehmenden Art zu einer Erhöhung der genetischen Variabilität, bedingt aber keine speziesübergreifende Änderung der Paarungsgemeinschaft. Die Art als ethische Grenze zu definieren, könnte als ein naturalistischer Fehlschluss interpretiert werden.
Auch die Freisetzung transgener Nutztiere stellt kein eigentliches Problem dar, da zumindest bei normalen Nutztieren ein Entkommen aus einem eng umgrenzten Bereich eigentlich unmöglich sein sollte, abgesehen von Insekten. Die Haltungsbedingungen stehen in einem steten Konflikt mit der ökonomisch erforderlichen Kostenminimierung. Neben der Tiergesundheit werden häufig als Kriterium die Bedürfnisse einer Art angeführt. Diese gelte es zu erforschen. Bes. zu berücksichtigen sei die Verpflichtung zu artgemäßer Behandlung und zu artgerechter Haltung und Fütterung der Tiere. Die Behauptung des Verhaltensforschers Wolfgang Wickler ist nicht von der Hand zu weisen, dass „artgemäß“ gerade bei gezüchteten Arten eine irreführende Kategorie sei. Ein günstigeres Maß als das Wohlbefinden seien Stresssymptome, die physiologisch relativ gut definiert seien. Auch der Begriff des Schadens scheint praktikabel, weil sich Schäden anders als Leiden, Bedürfnisse, Wohlbefinden oder Interessen empirisch und oft auch direkt im Vergleich mit Unversehrtheit feststellen lassen. Schäden sind darum auch ein wichtiges Bewertungskriterium. Eine Folgenbewertung wird auch die menschliche Gesundheit nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Die in Nahrungsmitteln enthaltene Nukleinsäure wird beim Kochen und Braten weitgehend denaturiert. Dasselbe gilt für Proteine, so dass in diesem Bereich Risiken für die menschliche Gesundheit kaum zu erwarten sind.
Tierversuche sollen spezifische Anzeichen oder Symptome einer menschlichen Gesundheitsstörung oder Krankheit sowie die Möglichkeiten von Therapien und die Wirkungen von Medikamenten herausfinden. Sie dienen u. a. der Bewertung ätiologischer, kausalanalytischer Theorien bestimmter Krankheiten, wobei inzwischen sogar psychische Krankheiten zum Gegenstand der Modellierung gemacht werden, also Krankheiten, die als spezifisch menschlich gelten. An den Tiermodellen sollen die zugrunde liegenden Mechanismen studiert und eventuell bestehende Behandlungsmethoden präklinisch bewertet werden. Zwei ethisch relevante Probleme werden im Zusammenhang mit der Versuchstierforschung erwähnt. Es handelt sich um die Frage des zugefügten Schmerzes und des Todes. Denn die überwiegende Mehrzahl gerade transgener Tiermodelle werden vor oder nach dem Experiment getötet. Auch bei herkömmlichen Tierversuchen sind es 70–80 %. Schmerz ist in erster Linie vom biologischen Standpunkt aus betrachtet Information, die allerdings im Zusammenhang mit den Experimenten nicht funktional ist. Schmerz und Stress kann die Versuchsergebnisse in unerwünschter Weise beeinflussen und sollte daher meist schon aus methodischen Gründen ausgeschaltet werden. Ergebnisse von leidenden und verängstigten Tieren sind wissenschaftlich wertlos und artgerechte Tierhaltung ist Voraussetzung für das Gelingen eines Verhaltensversuches. Hier können ethische Argumente unterstützend eingreifen.
4. Synthetische Biologie – die Neuerfindung der Gentechnologie
Seit gut zehn Jahren werden mit dem Begriff „synthetische Biologie“ Forschungsvorhaben, Methoden und Verfahren zu einem Umbau natürlicher Organismen bezeichnet, der über das hinausgeht, was bislang mithilfe der G. möglich war. Die Ansätze reichen bis hin zur Schaffung (kompletter) künstlicher „biologischer“ Systeme. Die kurz- und mittelfristige Bedeutung wie auch das längerfristige Potenzial des sehr heterogenen Feldes werden innerhalb von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik durchaus unterschiedlich eingeschätzt, was auch an der nach wie vor fehlenden stringenten Definition liegt. Viele Forschungs- und Entwicklungsansätze der synthetischen Biologie richten sich auf die Nutzung nachwachsender anstelle fossiler Rohstoffe in der Chemie- und Energieproduktion und damit auf Kernbereiche einer zukünftigen „Bioökonomie“. Hinzu kommen vielfältige Ansätze in der Medizin sowie im Bereich der Umweltsensorik und -sanierung. Das Ziel ist jeweils, mithilfe der synthetischen Biologie einige den biologischen Prozessen innewohnenden Begrenzungen zu überwinden bzw. diese zumindest auszudehnen.
Während die Herstellung von am Reißbrett neu entworfenen Zellen oder Organismen gegenwärtig nach wie vor den Status einer Zukunftsvision aufweist, hat sich die Situation bei der synthetischen Biologie im weiteren Sinne, verstanden als nächste Stufe der Bio- bzw. Gentechnologie, in jüngster Zeit massiv gewandelt. Die Diskussion über die neuen Möglichkeiten und Konsequenzen der Genomeditierungsverfahren hat sich seit 2015 so ausgebreitet und intensiviert, dass von einer grundlegenden Veränderung der Debattenlage über die Weiterentwicklung und -nutzung von Genmanipulationstechniken auszugehen ist. Mögliche Gefährdungen durch synthetisch hergestellte Lebewesen ergeben sich durch spezifische Merkmale und mögliche Wechselwirkungen zwischen diesen sowie bestimmten Einbettungs- oder Umweltfaktoren. Dabei spielt die Art und Weise der Erzeugung für die Gefährdung nicht die entscheidende Rolle, sondern vielmehr die Frage nach der Verantwortungsübernahme (und damit verbunden möglichen Haftungsfragen; Verantwortung, Haftung) bei ihrer möglichen Freisetzung. Fragen der biologischen Sicherheit haben die inner- und außerwissenschaftliche Debatte der synthetischen Biologie von vornherein begleitet. Nachdem die meisten Produkte und Verfahren am Anfang ihrer Entwicklung stehen, sind auch ihre möglichen sicherheitsrelevanten Eigenschaften wie Toxizität, Allergenität, Pathogenität, Ausbreitungsverhalten und Überlebensfähigkeit weitgehend unbekannt.
Wenn synthetische Biologie wie die Züchtungsforschung und die Genomforschung zumindest in ihrer neueren Form auf der Basis von gezieltem Gentransfer (anders als frühere Formen einer Ingenieurtechnik, die auf Physik oder Chemie und ihren Naturgesetzen aufbaute) als eine technologische Erweiterung natürlich vorkommender Formen des Lebendigen und seiner Evolution im Rahmen einer zwar künstlich induzierten, aber nichtsdestoweniger möglichen Form der evolutionären Weiterentwicklung dessen, was bereits bei der Kreuzung künstlich induziert gewesen ist, verstanden wird, könnte ein völlig neues Verständnis von bionisch orientierter Technologie entstehen. Technologisches Design des Lebendigen erzeugt lebende Artefakte mit anderen Eigenschaften als eine Technologie auf der Basis von physikalisch oder chemisch beschreibbaren Materialien.
5. Gentechnik und das Paradigma der Projektmedizin
Die meisten Wertekonflikte in der Humangenetik erweisen sich als Konflikte zwischen verschiedenen Ethikkonzeptionen. Dabei ist die wichtigste Konfliktlinie die zwischen Pflichten- und Verantwortungsethik einerseits, dem Utilitarismus andererseits. Reichweite und Grenzen dieser Modelle müssen unter veränderten Bedingungen neu ausgelotet werden. So ist eine Individualisierung, Personalisierung, Technologisierung und Vernetzung im Gesundheitswesen durch Bio- und Projektmedizin in folgenden Bereichen zu erwarten:
a) Lifestylemedikamente, Neuroenhancement, Eigen-Doping und Pharmazeutika: veränderte Patientenrolle und der Hausarzt als Gesundheitsmanager;
b) Intensivmedizin und Organtransplantation: Medizinische Innovation und klinische Praxis; Xenotransplantation;
c) Biomedizin, personalisierte Medizin und Präventivmedizin: Medizinische Dokumentation oder idealer Patient? Humangenetische Beratung;
d) wunschorientierte Medizin: Fortpflanzungsmedizin, Klonen und Designerbabys: Eugenik von unten oder neue Verantwortung für Eltern?
e) Heilsorientierte Medizin: Stammzellenforschung, Neuroenhancement und Lebensverlängerung: Realisierung von Menschheitsträumen oder Hybris?
Das neue Paradigma der Projektmedizin beruht auf der Verknüpfung von Organtransplantation, Bio- bzw. Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin. Es hat noch stärker als bisher einen technologiebedingten Wertewandel erzeugt aufgrund ständig neuer und wachsender Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, die nicht eugenischer Art sind. Gesundheit und Krankheit gehören zunächst der Privatsphäre an, haben aber auch eine öffentliche Dimension, da Krankheit auch eine soziale Rollenzuschreibung ist (z. B. die Befreiung von der Arbeitspflicht). Auch wenn sich das Selbstverständnis von Patientenautonomie mit den neuen Typen von Medizin und Medizinethik ändert, grundlegende Schemata der Leiborientierung sollten trotz der neuen Typen von Medizinethik gerade wegen deren starker Körperorientierung erhalten bleiben. Bei der Überprüfung der Legitimität technischer Entwicklung ist nicht ein naturrechtlich begründetes (Naturrecht), normatives Menschenbild zugrunde zu legen, sondern ein Menschenbild, orientiert an Autonomie, Kreativität und Gestaltung des eigenen Lebens, wie es bspw. die hermeneutische Ethik anbietet oder eine phänomenologisch-hermeneutische Anthropologie, auch in der Medizin.
Gesundheit ist heute weniger als früher eine Frage der Gabe und Fügung, sondern stärker eine Aufgabe und eine Frage der Organisation. Gesundheit unter Knappheitsaspekten ist als Gegenstand der Gesundheitsökonomik zu betrachten. Damit wird sich also in absehbarer Zeit nicht mehr alles medizinisch Machbare und Wünschenswerte für jeden finanzieren lassen und wird es darum gehen, Zugangsbeschränkungen zu begründen und einzuführen. Mit der Projektmedizin ist ein tief greifender Wandel im Gesundheitswesen zu beobachten, vom Therapeutischen ins Geschäftsmäßige. Es geht darum, gute Gesundheit zu erreichen, allerdings nicht vollkommene, und den Zugang zu Gesundheitsdiensten gerecht zu verteilen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Prävention von Krankheiten. Indem G. ermöglicht, vorsymptomatische Erkrankungsdispositionen früher zu erkennen und zu therapieren, kann sie dazu einen wesentlich Beitrag leisten.
6. Zur sozialethischen Bewertung der Gentechnologie
Als Folge wissenschaftlicher Forschung hat sich zumindest in der technologischen wie in der grundlagenorientierten Forschungspraxis der Gegensatz von natürlich und künstlich, von Natur und Technik, von Natur und Kultur immer mehr verflüchtigt und aufgelöst, während er in der ethischen und öffentlichen Diskussion immer emphatischer herangezogen wird. Es manifestiert sich das Paradox der Lifesciences : Das Natürliche und das Lebendige wird am effizientesten mit modernster Technoscience erforscht und verstanden. Der erfolgreiche technische Zugang zum Lebendigen wie zum Organismus und seiner Organisation sind wesentlicher Ausgangspunkt auch für die Analyse der sittlichen Dimensionen der Erkenntnis des Lebendigen und des Umgangs mit ihm. Das sollte Konsequenzen für Bioethik und medizinische Ethik haben. So ist das entscheidende Kriterium für die Bewertung von G. als Methode, nun technisch eingelöst: wenn Genetiker über die Fähigkeit verfügen, zielgenauen Gentransfer weitestgehend durchzuführen, so ändert das auch die wissenschaftssoziologische (oder ethische) Bewertung dieser Technik. Und das ist jetzt der Fall.
Seit der Entdeckung der Restriktionsendonukleasen (Genscheren) vor über 40 Jahren sind Molekularbiologen in der Lage, gezielt Gene im Genom eines Organismus zu verändern. Vor wenigen Jahren sind nun sog.e Zinkfinger-Nukleasen, TALENs (transcription activator-like effector nuclease) und CRISPR-Cas als steuerbare Genscheren entdeckt bzw. weiterentwickelt worden. Dadurch steht der Forschung ein neues instrumentelles Repertoire für molekulargenetische Arbeiten zur Verfügung. Diese neuen Werkzeuge sind so programmierbar, dass sie nahezu jeden beliebigen Ort der DNA-Sequenz des Genoms genau ansteuern und dort einen Schnitt setzen können. Während die Programmierung und der Einsatz von Zinkfinger-Nukleasen und TALENs noch recht umständlich und kostenintensiv sind, kann die CRISPR-Cas-Methode sehr effizient, zeitsparend und kostengünstig angewendet werden. Sie hält deshalb weltweit in immer mehr Forschungslaboratorien Einzug. Ein entscheidender Durchbruch für die Anwendung von CRISPR-Cas für die Genomeditierung gelang im Jahre 2012. Aufgrund der zunehmend schwindenden Differenzierbarkeit zwischen den durch natürliche Prozesse, konventionelle Züchtungsmethoden und mittels Genomeditierung erzielten genetischen Veränderungen in der Tier- und Pflanzenzucht bedarf es der Entwicklung neuer Verfahren für eine produktbasierte Bewertung und Regulation von GVOs sowie der Erhaltung der biologischen Sicherheitsforschung in Deutschland.
CRISPR-Cas könnte die Agrarwirtschaft revolutionieren. Anders als bei der bisherigen grünen G. werden i. d. R. nicht mehr fremde Gene von außen eingeführt, sondern einzelne in einer Pflanze vorhandene DNA-Bausteine gezielt entfernt oder modifiziert. Forscher nutzen dabei einen Mechanismus, den sie in Bakterien entdeckt haben, um Pflanzen oder Tierzellen dazu zu bringen, präzise Änderungen ihrer DNA-Sequenz selbst vorzunehmen. Die wissenschaftlichen und technologischen Experten vertreten mehrheitlich die Position, dass die herkömmliche Definition eines GVO auf die mit dieser Methode erzeugten Organismen nicht angewendet werden kann. Freilich wird diese Expertenmeinung nicht von allen Rechtswissenschaftlern geteilt und ist insb. im Ökolandbau umstritten.
Genomeditierung könnte zur Methode eines biokybernetisch-nachhaltigen Zeitalters werden. Das evolutionäre Potenzial des jeweiligen Genoms eines Lebewesens einschließlich das des Menschen erweitert sich enorm, der Mensch wird dadurch aber nicht wirklich post- oder gar transhuman. Der Weg zum Designermenschen bleibt nicht zuletzt aufgrund der weiten Verbreitung epigenetischer Formen der Genexpression beim Menschen doch recht schwierig. Folgende Einteilung kann für die Entwicklung der G. vorgeschlagen werden:
a) von der Mendelgenetik zur Entwicklung der theoretischen Vorstellung der Doppelhelix zwischen 1900 und 1953;
b) Entwicklung der Genetik zunächst theoretisch und dann zunehmend experimentell-instrumentell als Biochemie 1953 bis 2012/15 und
c) ab 2010 Entwicklung der Genomeditierung, synthetischen Biologie und Cross-Scale-Computermodellierung von biologisch-evolutionären Entwicklungsprozessen.
Die sozialethische Auseinandersetzung hierzu steht erst ganz am Anfang, sie muss hermeneutisch ansetzen, um zunächst überhaupt zu verstehen, welchen Einfluss die neuen technischen Möglichkeiten auf das Selbstverständnis des Menschen haben, sie muss produktbasiert ansetzten, da sich am Herstellungsverfahren die Unterschiede nicht mehr hinreichend nachweisen lassen, und verantwortungsethisch in einer Bewertung von den Folgen her, soweit sie sich evolutionsbiologisch bedingt überhaupt vorhersagen lassen. Dies gilt für alle wissenschaftsbasierten Züchtungsverfahren. Allerdings haben wir auch mit den Verfahren des Cross-Scale Computer Modelling neue Instrumente der Folgenabschätzung für ökologische und soziale Konsequenzen.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
B. Irrgang: Gentechnik, I. Im Umbruch und gesellschaftlichen Diskurs, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gentechnik (abgerufen: 24.11.2024)
II. Rechtliche Perspektiven
Abschnitt drucken1. Begriff
Humane G. erforscht und verändert das menschliche Genom. Das Genom eines Menschen umfasst die Summe seiner Erbinformationen, die in Form der Chromosomen in den Zellen eines Menschen vorliegen. Träger der Erbinformationen in jedem Chromosom ist die DNA, in deren Doppelhelixstruktur sich stets Adenin und Thymidin bzw. Cytosin und Guanin zu Basenpaaren ergänzen. Jede Zelle des menschlichen Organismus verfügt grundsätzlich über die gleiche DNA. Dabei bilden jeweils drei aufeinander folgende Basenpaare ein Codon, das die Informationen für die Synthetisierung einer Aminosäure enthält. Durch die Aneinanderreihung von Codons entsteht ein Gen, das wiederum die Erbinformationen für ein Protein („Bausteine des Lebens“) codiert. Gene umfassen zwischen 1 000 und 500 000 Basenpaare. Der Mensch besitzt zwischen 30 000 und 40 000 Gene. Diese machen jedoch nur 3–5 % der insgesamt ca. 3,2 Mrd. Basenpaare aus. Die Bedeutung der verbleibenden insgesamt 95–97 % ist unerforscht (junk-DNA). Das individuelle Genom jedes Menschen ist einmalig, sodass es zu seiner Identifizierung dienen kann. Darüber hinaus enthält es Informationen über persönliche Anlagen und damit auch über Erbkrankheiten.
2. Rechtlicher Rahmen
Aufgrund der zentralen Bedeutung des menschlichen Genoms für die individuelle Entfaltung der Persönlichkeit genießen alle Menschen im Hinblick auf ihre Erbinformationen bes.n (verfassungs-)rechtlichen Schutz. Mit Blick auf die menschliche Freiheit wird dieser Rechtsschutz v. a. durch das allg.e Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) gewährleistet, das auch das Recht auf (gen-)informationelle Selbstbestimmung umfasst. Sollte eine G. die menschliche Subjektqualität prinzipiell in Frage stellen oder Menschen auf ein bloßes Objekt reduzieren, verstößt dies gegen die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG; Menschenwürde). Hinsichtlich der Gleichheit aller Menschen gilt das Verbot der genetischen Diskriminierung (Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 21 EuGRC). Danach sind sehr hohe Anforderungen an die Begründung einer genetischen Ungleichbehandlung zu stellen, weil genetische Merkmale erstens den Kriterien der absoluten Diskriminierungsverbote sehr nahestehen (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG), zweitens i. d. R. nicht individuell beeinflussbar sind und drittens eine Ungleichbehandlung weiterreichende individuelle und soziale Folgen nach sich ziehen kann. Um Würde, Persönlichkeitsrecht und Gleichheit zu gewährleisten, reguliert der Gesetzgeber die humane G. durch das ESchG, GenDG und StZG sowie das Datenschutzrecht (Datenschutz).
3. Genetische Analysen
Genetische Analysen werden durch das GenDG und das ESchG geregelt. Sie dienen der Feststellung genetischer Eigenschaften. Das GenDG verfolgt den Zweck, eine hohe Qualität genetischer Analysen zu gewährleisten und Würde, Persönlichkeitsrecht und Gleichheit der betroffenen Person zu garantieren (§ 1 GenDG). Im Mittelpunkt des GenDG steht die Regelung der genetischen Untersuchungen zu medizinischen Zwecken (§§ 7–16 GenDG). Darüber hinaus versucht das Gesetz, für die genetische Untersuchung zur Klärung der Abstammung einen Ausgleich der Interessen aller betroffenen Personen unter bes.r Berücksichtigung des Kindeswohls im Einzelfall herzustellen (§ 17 GenDG; BVerfGE 117, 202). Der Einsatz genetischer Untersuchungen im Versicherungswesen und Arbeitsleben wird restriktiv geregelt, um die Freiheits- und Gleichheitsrechte der versicherten und arbeitenden Personen zu wahren (§§ 18–22 GenDG).
3.1 Genetische Analysen zu medizinischen Zwecken
Die genetische Analyse zu medizinischen Zwecken wird heute durch das Paradigma der „personalisierten“ bzw. „individualisierten Medizin“ (precision medicine) bestimmt, die in der genetischen Analyse den Schlüssel für stratifizierte, wenn nicht sogar individualisierte Behandlungsansätze sieht. Das GenDG reguliert die genetischen Untersuchungen zu medizinischen Zwecken (§§ 7–16 GenDG). Genetische Analysen zu medizinischen Zwecken werden grundsätzlich unter einen Arztvorbehalt gestellt (§ 7 GenDG). Die Einwilligung (§ 8 GenDG), Aufklärung (§ 9 GenDG), genetische Beratung (§ 10 GenDG) und Mitteilung der Untersuchungsergebnisse (§ 11 GenDG) soll die betroffenen Personen in die Lage versetzen, selbstbestimmt über ihre genetischen Untersuchungen, Daten und Proben zu entscheiden. Dies gilt auch für nicht einwilligungsfähige Personen, denen die Bedeutung der genetischen Untersuchung grundsätzlich in einer ihnen gemäßen Weise so weit wie möglich verständlich zu machen ist (§ 14 GenDG). Um in der stark arbeitsteiligen Genmedizin diese Legitimation zu gewährleisten, stellt das GenDG klar, dass die verantwortliche ärztliche Person stets als zentraler Ansprechpartner der betroffenen Person zur Verfügung steht. Die Vertraulichkeit genetischer Analysen wird darüber hinaus durch eine rigide Regelung der Aufbewahrung, Verwendung und Vernichtung von genetischen Analyseergebnissen und Proben gesichert (§§ 12–13 GenDG). Das Ziel des GenDG, die geninformationelle Selbstbestimmung der betroffenen Personen zu stärken, ist v. a. mit Blick auf prädikative genetische Analysen von essentieller Bedeutung: Diese erlauben „nur“ eine Wahrscheinlichkeitsaussage über erst künftig auftretende oder vererbbare Erkrankungen (§ 3 Nr. 8 GenDG). Die bes. Herausforderung besteht in diesem Fall jedoch darin, dass sich die betroffenen Personen bereits aufgrund der genetischen Wahrscheinlichkeitsprognose selbst als „krank“ begreifen, ohne dies jedoch nach tradierten medizinischen Maßstäben zu sein. Aufgrund dieser genetischen Wahrscheinlichkeitsprognosen treffen die betroffenen Personen weitreichende medizinische Entscheidungen. Ein sehr schwerwiegendes Beispiel dafür ist die Mastektomie bei einem prädikativen Brustkrebsrisiko. Die ganze psychische und physische Tragweite dieses gendiagnostischen Phänomens der sog.en gesunden Kranken (healthy ill) spitzt sich noch weiter zu dadurch, dass mit der Verbesserung der genetischen Analysemöglichkeiten die Kluft zu den bisher etablierten medizinischen Therapieansätzen immer größer wird. Darüber hinaus stößt die Regelung des genetischen informed consent und der genetischen Beratung des GenDG im Kontext der precision medicine an seine faktischen wie rechtlichen Grenzen: Wenn im Rahmen einer genetischen Standardanalyse mehrere hundert oder tausend genetische Merkmale untersucht werden, ist eine genetische Aufklärung i. S. d. § 9 Abs. 2 Nr. 1 GenDG schon rein praktisch nicht mehr möglich: Wie soll bei so vielen genetischen Analysemerkmalen über Zweck, Art, Umfang und Aussagekraft der genetischen Untersuchung im Hinblick auf Krankheitsbedeutung und Behandlungsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Wahrung des Rechts auf Wissen wie Nichtwissen aufgeklärt werden? Eine Lösung dieses grundlegenden Problems kann durch eine Weiterentwicklung des klassischen Modells des informed consent zu einem Konzept gestaffelter Einwilligungen erfolgen: Eine generalisierte Einwilligung in ein umfassendes genetisches Screening zu Beginn der genetischen Untersuchung kann über ein Beratungsverfahren auf Grundlage der gewonnenen Analyseergebnisse Schritt für Schritt bis zur Einwilligung in eine konkrete Therapie weitergeführt werden. Darüber hinaus werden auch die persönlichen, sozialen und medizinischen Konflikte, die aus dem Drittbezug genetischer Informationen für die genetisch Verwandten der betroffenen Person resultieren, vom GenDG keineswegs angemessen gelöst: Für den Fall, dass im Rahmen einer genetischen Untersuchung zu medizinischen Zwecken genetisch Verwandte der betroffenen Person Träger der zu untersuchenden genetischen Eigenschaften mit Bedeutung für eine vermeidbare oder behandelbare Erkrankung oder gesundheitliche Störung sind, soll die ärztliche Person der betroffenen Person die Empfehlung unterbreiten, diesen Verwandten eine genetische Beratung zu empfehlen (§ 10 Abs. 3 S. 4 GenDG). Doch durch dieses Konzept der sog.en Empfehlung zur Empfehlung werden die Konflikte, die mit dem Drittbezug genetischer Informationen verbunden sind, nicht gelöst, sondern unter Missachtung des Rechts auf Nichtwissen der genetisch Verwandten schlicht privatisiert.
3.2 Genetische Analysen im Kontext der Fortpflanzung
Die genetische Analyse im Rahmen der Fortpflanzung ist in Form der PID und der PND (Pränataldiagnostik) möglich. Diese beiden genetischen Analysen beziehen sich auf einen Embryo: im Fall der PID auf einen Embryo in vitro und im Fall einer PND auf einen Embryo in vivo. Beide genetischen Analysetechniken betreffen die Existenz des Embryos, wenn dieser im Rahmen einer PID „verworfen“ wird oder es nach einer PND zu einem Schwangerschaftsabbruch kommen sollte. Deshalb muss bei der Regelung von genetischen Analysen im Kontext der Fortpflanzung auch der verfassungsrechtliche Status des ungeborenen Lebens berücksichtigt werden, der allerdings äußerst umstritten ist. Das BVerfG hat die Würde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Lebensrecht (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) des Embryos in vivo ab dem Zeitpunkt der Nidation anerkannt und darüber hinaus sehr vorsichtig angedeutet, dass dieser verfassungsrechtliche Schutz auch schon ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bestehen könnte (BVerfGE 39, 1; 88, 203). Für die Bestimmung des Status des Embryos in vitro fehlt es an einer entspr.en Entscheidung des BVerfG. Allerdings lassen sich die Grundsätze, die das BVerfG für den Schutz des Embryos in vivo aufgestellt hat, grundsätzlich auf den Embryo in vitro übertragen: Die Natürlichkeit bzw. Künstlichkeit der Erzeugung menschlichen Lebens bildet kein belastbares Abgrenzungskriterium, um den Status des ungeborenen Lebens in vivo und in vitro unterschiedlich zu bestimmen. Auch der EuGH geht von einem weitreichenden grundrechtlichen Schutz des Embryos in vitro aus (EuGH, ECLI:EU:C:2011:669; ECLI:EU:C:2014:2451). Die PID erfolgt durch die genetische Analyse von Zellen eines Embryos in vitro, die im Rahmen einer künstlichen Befruchtung (IVF) vor dem intrauterinen Transfer vorgenommen wird, um die Gesundheit des Embryos zu untersuchen. In seiner Entscheidung vom 6.7.2010 hat der BGH festgestellt, dass die PID nicht gegen § 1 Abs. 1 Nr. 2 und § 2 Abs. 1 ESchG verstößt (BGH 2010: 2672). Daraufhin hat der Gesetzbegeber die PID in § 3a ESchG geregelt, die durch die PID-VO näher ausgestaltet wird: Die PID ist grundsätzlich verboten. Sie ist aber dann nicht rechtswidrig, wenn aufgrund der genetischen Dispositionen der Eltern ein hohes Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit für deren Nachkommen besteht oder wenn eine schwerwiegende Schädigung des Embryos festgestellt werden soll, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird. Darüber hinaus muss die Frau, von der die Eizelle für die künstliche Befruchtung stammt, schriftlich in die PID eingewilligt und eine interdisziplinär zusammengesetzte Ethikkommission das Vorliegen der Voraussetzungen für die Durchführung einer PID überprüft haben. Die PID darf nur in einem entspr. zugelassenen Zentrum durch eine Ärztin oder einen Arzt durchgeführt werden, wobei keine Verpflichtung einer ärztlichen Person besteht, eine PID vorzunehmen oder an einer solchen mitzuwirken.
Die PND ist die vorgeburtliche Risikoabklärung während einer Schwangerschaft. Vorgeburtliche genetische Untersuchungen werden durch das GenDG geregelt. Der Begriff der vorgeburtlichen Untersuchung wird dabei weit verstanden. Er umfasst alle vorgeburtlichen Risikoabklärungen und damit alle Untersuchungen des Embryos oder Fötus, mit denen die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen bestimmter genetischer Eigenschaften mit Bedeutung für eine Erkrankung oder gesundheitliche Störung des Embryos oder Fötus festgestellt werden (§ 3 Nr. 3 GenDG). Eine solche vorgeburtliche Risikoabklärung kann durch eine genetische Analyse, aber z. B. auch in Form von Bildgebung durch Ultraschall erfolgen (BT-Drs. 16/10532: 21). Eine vorgeburtliche genetische Untersuchung darf nur bei Vorliegen von drei Voraussetzungen durchgeführt werden (§ 15 Abs. 1 S. 1 GenDG): Erstens muss sie medizinischen Zwecken dienen, wodurch ein genetisches Enhancement ausgeschlossen werden soll. Zweitens dürfen nur genetische Eigenschaften des Embryos oder Fötus untersucht werden, die seine Gesundheit während der Schwangerschaft oder nach der Geburt beeinträchtigen oder die Wirkung von Arzneimitteln beeinflussen, mit denen der Embryo oder Fötus behandelt wird. Drittens muss ein informed consent der Schwangeren vorliegen. Diese Möglichkeit, eine PND durchzuführen, wird von dem GenDG in zwei Fällen eingeschränkt: Erstens darf einer Schwangeren – mit Blick auf einen möglichen Schwangerschaftsabbruch – das Geschlecht eines Embryos oder Fötus nicht vor Ablauf der zwölften Schwangerschaftswoche mitgeteilt werden, wenn dieses im Rahmen einer vorgeburtlichen genetischen Untersuchung festgestellt wird (§ 15 Abs. 1 S. 2 GenDG). Zweitens darf eine vorgeburtliche genetische Untersuchung nicht vorgenommen werden, wenn diese auf die Feststellung einer Erkrankung zielt, die sich erst nach Vollendung des 18. Lebensjahrs manifestiert (§ 15 Abs. 2 GenDG).
Die Regelung genetischer Analysen im Kontext der Fortpflanzung sieht sich harscher Kritik ausgesetzt: Im Fall der PID ist kein verfassungsrechtlicher Grund ersichtlich, warum die Entscheidungsfindung der betroffenen Frau nicht dem Arzt-Patienten-Verhältnis überlassen bleibt, sondern darüber hinaus eine interdisziplinäre Ethikkommission eingeschaltet wird. Im Fall der PND wird die „Pflicht zum Nichtwissen“ der Schwangeren im Hinblick auf spätmanifestierende Erbkrankheiten kritisiert, die z. B. eine vorgeburtliche genetische Untersuchung bei Verdacht einer Chorea Huntington ausschließt. Gegen diese Regelung lässt sich insb. einwenden, dass es bei der vorgeburtlichen genetischen Untersuchung nicht auf den Manifestationszeitpunkt, sondern v. a. auf die Schwere der vererbten Erkrankung ankommt. Schließlich sind die Regelungen der PID und der PND in ihren Voraussetzungen nicht aufeinander abgestimmt. Dadurch begründet der Gesetzgeber in Fällen der assistierten Reproduktion unmittelbar selbst die Gefahr von „Schwangerschaften auf Probe“, was einen unverhältnismäßigen und damit verfassungswidrigen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht und die Gesundheit der betroffenen Frauen darstellt.
4. Gentherapie
Die Gentherapie versucht durch die Veränderung der Erbinformationen eines Menschen, genetisch bedingte Krankheiten zu behandeln oder diesen vorzubeugen. Bei der somatischen Gentherapie wird dazu der genetische Code einzelner Körperzellen eines Menschen verändert. Demgegenüber ist die Keimbahntherapie auf die genetische Modifikation von Keimbahnzellen und damit auf die Gestaltung des Genoms künftiger Menschen gerichtet. Die Gentherapie ist eine medizinische Hochrisikotechnik, weil ihre Auswirkungen auf die Gesundheit und das Leben der betroffenen Personen (derzeit) nicht beherrschbar sind (z. B. Immunreaktionen, Krebsbildung). Insb. die Keimbahnintervention wird durch § 5 ESchG verboten: Es ist untersagt, die Erbinformation einer menschlichen Keimbahnzelle künstlich zu verändern oder eine menschliche Keimbahnzelle mit künstlich veränderter Erbinformation zur Befruchtung zu verwenden. Allerdings sieht das ESchG dann Ausnahmen vom Verbot der künstlichen Veränderung von menschlichen Keimbahnzellen vor, wenn sich diese außerhalb des Körpers befinden und nicht zur Befruchtung verwendet werden oder die Veränderung im Rahmen einer medizinischen Behandlung unbeabsichtigt geschieht (z. B. Impfung, Strahleneinwirkung). Die Möglichkeiten und Grenzen der Gentherapie werden aufgrund der Entwicklung der sog.en Genchirurgie (CRISPR/ Cas9) sowie der in-vitro-Rekonstruktion der Keimbahn mittels pluripotenter Stammzellen kontrovers diskutiert. Die „Genchirurgie“ verspricht durch präzise Veränderungen der genetischen Information in einer somatischen oder Keimbahnzelle, in Zukunft (eventuell) Krankheiten heilen zu können. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist ein kategorisches Verbot der somatischen und der keimbahnbezogenen Gentherapie nicht zu rechtfertigen: Das GG kennt keine Pflicht, krank zu sein oder zu werden. Eine Einschränkung der Gentherapie kann jedoch mit Blick auf die damit verbundenen Gesundheits- und Lebensrisiken gerechtfertigt sein. Dies sollte sich in der Reform des Verbots der Keimbahnintervention des § 5 ESchG niederschlagen: Eine Keimbahnintervention kann zugelassen werden, wenn sie nach dem Stand der Wissenschaft und Technik darauf gerichtet ist, die von der Intervention betroffenen Nachkommen vor einer Gefahr für deren Leben oder einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder psychischen Gesundheitszustandes zu bewahren und die vorhersehbaren Risiken und Nachteile gegenüber dem Nutzen für die Nachkommen medizinisch vertretbar sind. Diese Voraussetzungen wären nach dem aktuellen Stand der Entwicklung von Wissenschaft und Technik allerdings (noch) nicht erfüllt.
5. Genetische Forschung
Die genetische Forschung ist heute selbst als Grundlagenforschung therapeutisch finalisiert, d. h. auf die Entwicklung von medizinischen Behandlungsansätzen ausgerichtet. Das zentrale Beispiel dafür ist die Entwicklung der Stammzellforschung. Diese wird in der BRD durch das ESchG und StZG restriktiv geregelt. Teilweise ist die Regulierung der genetischen Forschung in Deutschland auch schlicht durch die naturwissenschaftliche Entwicklung überholt (z. B. „Dolly“). Anstatt die entspr.en Regelungen (z. B. § 6 ESchG) jedoch zu aktualisieren, setzt der Gesetzgeber in der BRD – seit dem Erlass des ESchG und damit seit über 25 Jahren – auf eine „Strategie veralteten Rechts“ (Kersten 2015). Die Regulierung der genetischen Forschung wird insb. durch das Bestreben des ESchG und StZG bestimmt, den menschlichen Embryo zu schützen, für den das deutsche Recht allerdings verschiedene, voneinander abweichende Definitionen kennt (§ 8 Abs. 1 ESchG, § 3 Nr. 4 StZG, § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 und S. 2 PatG, Art. 6 Abs. 2 c RL 98/44/EG). Darüber hinaus verliert das Kriterium der Totipotenz einer Zelle, das bisher den Kern der verschiedenen, nebeneinander geltenden Legaldefinitionen des Embryos bildet, durch die biotechnologischen Möglichkeiten der Re- und Transdifferenzierung von somatischen Zellen in totipotenten Entwicklungsstadien zunehmend seine normative Kontur. Neben diesen Unsicherheiten im Hinblick auf die Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Forschung fehlt es in der BRD an einer ausdifferenzierten Regulierung der Forschungsinfrastruktur: Die genetische Forschung ist auf international anschlussfähige Biobanken angewiesen. Eine Biobank ist eine Sammlung von humangenetischem Material und verschlüsselten und unverschlüsselten Daten, die von Spenderinnen und Spendern der Forschung zur Verfügung gestellt werden. Biobanken sind ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich des GenDG ausgenommen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 GenDG). Sie werden deshalb v. a. auf der Grundlage des allg.en Datenschutzrechts in Verbindung mit individuellen Governanceansätzen reguliert, die jedoch für die Bürgerinnen und Bürger als Spenderinnen und Spender von genetischem Material und Daten sowie für die Öffentlichkeit teilweise intransparent und aufgrund fehlender Standardisierung auch international bisher nicht anschlussfähig sind. Deshalb ist der Erlass eines Biobankgesetzes notwendig, welches das Selbstbestimmungsrecht der spendenden Personen effektiv schützt, das Biobankgeheimnis gewährleistet, Einrichtung und Betrieb, Zugangsrechte und die Überwachung von Biobanken regelt sowie strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrechte vorsieht.
Literatur
C. Berchtold: Der Wandel genetischer Information, 2016 • O. Hikabe u. a.: Reconstitution in vitro of the entire cycle of the mouse female germ line, in: Nature, 10.11.2016, 299–303 • BBAW: Genomchirurgie beim Menschen, 2015 • U. Gassner u. a.: Biobankgesetz. Augsburg-Münchner Entwurf, 2015 • T. Heinemann/H.-G. Dederer/T. Cantz (Hg.): Entwicklungsbiologische Totipotenz in Ethik und Recht, 2015 • J. Kersten: Strategien veralteten Rechts, in: S. Rixen (Hg.): Die Wiedergewinnung des Menschen als demokratisches Projekt, 2015, 111–135 • L. H. Laimböck: Totipotenz, 2015 • Leopoldina u. a.: Chancen und Grenzen des genome editing, 2015 • H. Schickl u. a.: Abweg Totipotenz, in: MedR 32/12 (2014), 857–862 • S. Schleissing (Hg.): Ethik und Recht in der Fortpflanzungsmedizin, 2014 • U. Gassner u. a.: Fortpflanzungsmedizingesetz. Augsburg-Münchner Entwurf, 2013 • L. Günther/J. Taupitz/P. Kaiser: Embryonenschutzgesetz, 22013 • J. Kersten: Personalisierte Medizin. Rechtliche Herausforderung für Gesundheit und Gesellschaft, in: ZEE 57/1 (2013), 23–33 • T. Rendtorff (Hg.): Zukunft der biomedizinischen Wissenschaften, 2013 • B.-R. Kern (Hg.): Gendiagnostikgesetz, 2012 • J. Kersten: Die genetische Optimierung des Menschen, in: JZ 66/4 (2011), 161–168 • BGH: Präimplantationsdiagnostik zur Feststellung genetischer Schäden eines extrakorporal erzeugten Embryos, in: NJW 63/36 (2010), 2672–2676 • H. Nowotny/G. Testa: Die gläsernen Gene, 2009 • R. Müller-Terpitz: Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007.
Empfohlene Zitierweise
J. Kersten: Gentechnik, II. Rechtliche Perspektiven, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gentechnik (abgerufen: 24.11.2024)