Historikerstreit

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Der H. war eine in der BRD in den Jahren 1986/87 unter Zeithistorikern und Publizisten geführte öffentliche und fachwissenschaftliche Debatte über die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung (Shoa). Ausgelöst wurde die Kontroverse durch einen Artikel des Philosophen Jürgen Habermas, der in der Wochenzeitung „Die Zeit“ prominenten westdeutschen Neuzeithistorikern vorwarf, in ihren Schriften apologetische Tendenzen im Umgang mit dem Nationalsozialismus zu vertreten. Sein Angriff zielte v. a. auf Äußerungen des Berliner Zeithistorikers Ernst Nolte, der die nationalsozialistische Judenvernichtung in einen kausalen Zusammenhang („kausaler Nexus“ [Nolte 1986: 25]) mit dem stalinistischen Terror (Stalinismus) in der frühen UdSSR brachte. Als weitere Vertreter eines angeblich „revisionistischen“ Geschichtsbildes wurden die Historiker Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand und Michael Stürmer von J. Habermas scharf attackiert. Die Angegriffenen wiesen die Anschuldigungen in publizistischen Stellungnahmen und Leserbriefen zurück und beschuldigten ihrerseits J. Habermas der tendenziösen Verkennung ihrer Positionen und des unsauberen Zitierens.

Anlass der publizistischen Intervention von J. Habermas war die Befürchtung, dass die genannten Historiker vor dem Hintergrund der von Bundeskanzler Helmut Kohl Anfang der 1980er Jahre geforderten „geistig-moralischen Wende“ eine geschichtswissenschaftliche Relativierung des Holocaust betrieben und ein neues nationalkonservatives Geschichtsbild für die BRD zu konstruieren beabsichtigten. Insb. die Pläne der Kohl-Regierung zur Errichtung zweier historischer Museumsbauten in Bonn und Berlin erweckten den Argwohn linksliberaler Kreise, die hierin die Umsetzung der von konservativen Intellektuellen bereits seit Mitte der 1970er Jahre geforderten „Tendenzwende“ erblickten. Der H. ging insofern weit über die fachwissenschaftliche Bewertung der NS-Vergangenheit hinaus und war der späte Kulminationspunkt von politisch-intellektuellen Konfliktlinien, die sich bereits seit Mitte der 1970er Jahre herauskristallisiert hatten.

Im eigentlichen Zentrum des H.s stand gleichwohl die Frage der historischen Betrachtung des NS und insb. der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Bereits im Jahr 1985 hatte Martin Broszat, einer der führenden (west-)deutschen Zeithistoriker, für eine „Historisierung“ des NS geworben, worunter er die Einbettung des „Dritten Reiches“ in größere, übergreifende Entwicklungstendenzen der deutschen National- und Gesellschaftsgeschichte des 20. Jh. verstand. E. Nolte, von dem M. Broszat sich im Laufe des H.s gleichwohl distanzierte, nahm diesen Ansatz auf und rückte die Judenvernichtung in einen universalgeschichtlichen Zusammenhang mit dem stalinistischen Terror, dem er „das logische und faktische Prius“ (Nolte 1986: 25) vor dem Holocaust einräumte. Der „Rassenmord“ der Nationalsozialisten erschien in dieser Perspektive lediglich als nachgelagert, wenn nicht gar als Reaktion auf den „Klassenmord“ der Bolschewiki. Für J. Habermas war damit die Einzigartigkeit des Holocaust bestritten und der geschichtspolitische Konsens (Geschichtspolitik) der BRD in Frage gestellt. Während E. Nolte schon damals innerhalb der westdeutschen Geschichtswissenschaft eine exzentrische Position vertrat, die er im Laufe des H.s weiter radikalisierte, waren die anderen von J. Habermas angegriffenen Historiker mit vergleichbaren Thesen bislang nicht hervorgetreten. Insb. A. Hillgruber hatte in den Jahren zuvor Forschungen zur NS-Außenpolitik vorgelegt, die den Vernichtungscharakter der deutschen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg im Gegenteil deutlich hervortreten ließen. J. Habermas’ Angriff richtete sich daher auch lediglich gegen einzelne missverständliche Formulierungen in den Arbeiten A. Hillgrubers und K. Hildebrands sowie im Falle M. Stürmers auf dessen feuilletonistische Beiträge und Leitartikel zur allg.en geschichtskulturellen Lage.

Gleichwohl solidarisierten sich die Angegriffenen in ihren jeweiligen Repliken auf J. Habermas, die in ihrer rhetorischen Schärfe kaum gegen dessen Polemik zurückstanden, und bestätigten damit ungewollt das Bild eines gemeinsamen geschichtskulturellen Projektes, das J. Habermas in seinem „Zeit“-Artikel konstruiert hatte. Im Laufe der öffentlichen Kontroverse, die sich über das Feuilleton der größeren Tages- und Wochenzeitungen rasch ausbreitete, kam es daher zu einer deutlichen Lagerbildung innerhalb des öffentlich-intellektuellen Spektrums der BRD der 1980er Jahre. Auf der einen Seite sammelten sich jene, die den sozialliberalen Zeitgeist der 1970er Jahre einer konservativen Revision unterziehen wollten. Auf der anderen Seite standen hingegen jene, die den linksliberalen Konsens stabilisieren und das Bekenntnis zur Einzigartigkeit des Holocaust zum Ankerpunkt einer postnationalen (west-)deutschen Identität erheben wollten. Der H., der auch im Ausland starke Beachtung fand, war damit die letzte vergangenheitspolitische Großkontroverse der alten Bundesrepublik, die symptomatisch für das schwierige Verhältnis der westdeutschen Intellektuellen im Umgang mit der jüngeren deutschen Vergangenheit und Fragen der nationalen Identität stand.